INFORMELLE UND FAMILIÄRE ODE AN DIE KOPIE DES URMETERS AUS DER RUE DE VAUGIRARD
Unter den Arkaden, Rue de Vaugirard, zwischen der Rue Garancière und der Rue Férou liest man
Urmeter
Die Nationalversammlung ließ, um den Gebrauch des Urmeters verbindlich einzuführen, sechzehn Urmeter an den belebtesten Stellen von Paris anbringen.
Sie wurden zwischen Februar 1796 und Dezember 1797 installiert. Dieser ist einer der zwei letzten, die in Paris erhalten sind, und der einzige, der noch an seinem Platz ist.
Die Zeit ist vergangen, mein alter Freund
als wir uns kannten
war ich zwölf und und du
hundertachtundvierzig
es war der Winter
neunzehnhundertvierundvierzig
es war kalt
die Brunnen im Luxembourg waren gefroren
das kleine Volk der Statuen
fröstelte
die Hintern der Statuendamen
waren ganz weiß vom Rauhreif
weiß auf dem Marmor
der auch weiß war (da, wo er nicht grün war)
und so kalt
ich legte mich auf den Boden
um mit dir parallel zu sein
um mich zu messen
gemäß dem exakten Maß
viel sicherer als das der Zollstöcke
oder der Meßstäbe
oder des Bandmaßes
dessen mein Vater sich bediente
um uns zu taxieren
meine Brüder, die Schwester und mich
wir wuchsen
wenn nicht für den Augenschein zu sehen
dann wenigstens an den Bleistiftmarken
von Monat zu Monat
an der Kehlung der Küchentür
ich hatte Vertrauen zu dir
ich hatte Vertrauen in die Versammlung
die euch angebracht hatte
dich und deine fünfzehn Brüder
an verschiedenen Plätzen in Paris
um die Bürger daran zu gewöhnen
den zehnmillionsten Teil
des Viertels des Erdumfangs
zu betrachten
ich habe nie geglaubt an das Platin, mit Irridium legiert
im Pavillon von Breteuil
noch weniger an diese absurde Geschichte
von der Wellenlänge
aber an dich habe ich geglaubt
heute bin ich gealtert
ich bin gewachsen, habe aufgehört zu wachsen, zu schrumpfen begonnen
und das ist nur der Anfang, bevor das aufhört
in einer merklichen Abwesenheit des Maßes
aber du
fast denkt man, daß du dich nicht geändert hast
daß du dich nicht gerührt hast
keinen Finger breit
wenn ich mich so ausdrücken darf
kaum jemals Dehnungen, von Kontraktionen gefolgt
wegen der unvermeidlichen Hitze und Kälte
wegen der Nächte, der Tage, der Jahreszeiten
du bist für mich derselbe geblieben
würdig, schmal, gespannt, gerade, in Dezimeter eingeteilt,
zwischen deinen beiden Endpunkten,
gekrönt von deinem Familiennamen METER, deinem Hut
eines Abgeordneten, unerschütterlich
waagerecht
es ist Frühling
neunzehnhundertvierundneunzig
ich kam dich besuchen
wie ich es von Zeit zu Zeit tue
wenn ich dort vorbeikomme
du bist mir nicht böse, wenn
ich mich nicht auf den Boden lege wie damals
zu deinen Füßen, die es nicht gibt
die Vorübergehenden könnten das komisch finden
bei einem Herren meines Alters
sogar vor dem Palais du Luxembourg
wo die Senatoren
der fünften Republik dösen
und das hieße vermutlich, sich zum Zeugen
einer gewissen Maßlosigkeit zu machen.
Logik ist eine Sache, über die man täglich stolpert. Ist man gestolpert und hat sich den Fuß verknackst, sagt man: logisch. Der amerikanische Mathematiker John Nash, der wichtige Beiträge zur Spieltheorie leistete und 1995 den Nobelpreis für Mathematik erhielt, gab Studenten der Mathematik den staunenswerten Rat, der Logik aus dem Weg zu gehen; sie könnten sonst leicht wahnsinnig werden. Vielleicht ist die Mathematik eine präzise Sprache unter möglichen, mehr oder weniger spezifischen Sprachen, mit der man Welt quantitativ erklären und sich über Ergebnisse verständigen kann. Das Gedicht mit seinem offenen und gleichzeitig eng begrenzten Raum scheint auf Anhieb nicht der geeignetste Ort für logische Operationen zu sein. Es ist in der Sprache, nie in der verschobenen Sprache der Willenserklärung seines Autors oder in seiner fremdbestimmten Interpretation. Oder wie Jacques Roubaud es thesenhaft ausdrückt:
Die Poesie sagt nichts. Die Poesie sagt.
Die Abstraktion, die Stiefschwester der sinnlichen Wahrnehmung, verfügt im Gedicht nur über ein begrenztes Gastrecht. Eher bringt man das Gedicht in Zusammenhang mit dem Elliptischen, dem Unerwarteten, dem verquer zur Alltagslogik Ansässigen, dem coup. Gibt es eine Verbindung zwischen Lyrik und Mathematik? Sie ist nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber sie kann, wie alles in der Dichtung und in der Mathematik, angenommen und behauptet werden. In beiden Disziplinen gilt es, Relationen zu bilden, Gleichungen als Metaphern zu behandeln, zu forschen mit einer eigens zu entwickelnden Sprache.
Jacques Roubaud, Mitglied der Gruppe Oulipo (Abkürzung für Ouvroir de Littérature Potentielle), wies in seinem Aufsatz „Oulipo und die Kunst der Kombinatorik“ darauf hin, daß die Rolle der Mathematik „als begrenzendes und zugleich entscheidendes Element der oulipotischen Methode von den Gründern bewußt gewählt worden“ sei. Er nennt als wesentlichen Grund dafür, „daß nach der Erlahmung der schöpferischen Kraft der traditionellen Regeln nur die Mathematik einen Weg zwischen dem konservativen und starren Gebrauch abgenutzter Ausdrucksformen und dem pathetischen Glauben an die ,totale Freiheit‘ bieten konnte.“ Nur ein Teil des Werkes von Jacques Roubaud folgt oulipotischen Regeln, andere Texte wie die hier vorgelegten Gedichte lösen sich davon. Roubaud selbst gibt eine humorvolle Definition für das Regelsystem und seine Verletzung:
Der Oulipo-Autor ist eine Ratte, die sich ihr eigenes Labyrinth baut, aus dem sie wieder herausfinden muß.
In den Gedichten dieses Bandes treibt der Mathematiker und Dichter Jacques Roubaud Fragestellungen fort, die schwindelerregende Ergebnisse zeitigen. Das Wahre und das Unwahre lösen sich auf, richtig und falsch verlieren ihre kategoriale Polarität. „La forme d’une ville change plus vite, hélas, que le cœur des humains“ („Ach, die Form einer Stadt ändert sich schneller als das Menschenherz“) heißt der ironische Titel der in Frankreich 1999 erschienenen Sammlung von Gedichten aus den Jahren 1991 bis 1998. Dichtung und Wissenschaft amalgamieren zu einer heiteren Bemühung um Form, um Formalisierung, wie sie vielen Spielen eigen ist.
Ist das Urmeter ein Gegenstand für die Poesie? Das Fallen der Blätter wie das der Haare ist es bei Roubaud gewiß. Jacques Roubaud ist ein Dichter („compositeur de mathématique et de poésie“ nennt er sich selbst), der Vergnügen daran findet, sie zu zählen. Was bei allem Anspruch an den Leser auch die vergleichsweise große Popularität Jacques Roubauds ausmacht, ist das Entzücken über seine Findungen und Fügungen, seine Fähigkeit, das Schwere auch wieder leicht und luftig zu machen.
Jacques Roubaud schreibt seine Pariser Gedichte im Rücken zu der ausgeforschten und ausgeschriebenen Tradition des Großstadtgedichtes seit Baudelaire. Es ist dies eine Tradition, in der die Großstadt ein geheimnisvoller Moloch ist, ein ungefüges Wesen aus Straßenschluchten und Zusammenballungen, denen sich das Individuum lust- oder angstvoll ausliefert, etwas, das es historisch noch nicht gab, das die besonnene Begrifflichkeit sprengt. In den neuen Gedichten Roubauds ist die Stadt ein Körper voll eigener Dynamik, auf den das Autoren-Ich physisch reagiert. Es schmiegt sich an die Meßlatte des Urmeters in der Rue Vaugirard, es entdeckt die nährende Funktion von Turmhauben. Die Wahrnehmung ist scharf, neugierig, aufmerksam, der Tatsachensinn frisch und erregt. Sein häufig dialogisches Sprechen mobilisiert die Leserphantasie. Bezeichnungen, besonders Straßennamen ziehen Roubaud an. Er ist in diesen Gedichten ein geometrischer, ein räumlicher Denker, während er in seiner Studie zu Petrarca vorwiegend am (verborgenen) Numerischen der Sonette gearbeitet hat. Regeln, wie sie die (gemeinschaftliche) Oulipo-Arbeit setzt, sucht man hier vergeblich.
Ursula Krechel, Nachwort1
Ist das Urmeter ein Gegenstand der Poesie? Das Fallen der Blätter wie der Haare ist es gewiss. Jacques Roubaud ist ein Dichter, der Vergnügen daran findet, sie zu zählen. In seinem neuen Gedichtband vom Blitz, vom Regen und von der Mona Lisa gerät auch Paris zu einer tollen Nummer. Gibt es eine Verbindung von Lyrik und Mathematik? Sie ist nicht auf den ersten Blick sichtbar, doch sie kann, wie alles in der Dichtung und in der Mathematik, behauptet werden. In beiden Disziplinen gilt es, Relationen zu bilden, Gleichungen als Metaphern zu behandeln, zu forschen mit einer eigens zu entwickelnden Sprache.
Verlag Das Wunderhorn, Ankündigung
Andreas Platthaus: Keine Magermilch, und bloß keine Kreide
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.12.2017
Landesart: Ursula Krechel zum 70.
SWR, 2.12.2017
Ursula Krechel – Neue Dichter Lieben, Komposition und Klavier: Moritz Eggert, Bariton: Yaron Windmüller, Expo 2000 Hannover.
Jacques Roubaud während The Serpentine Gallery Poetry Marathon auf der Frieze Art Fair 2009.
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