FÜNFZEHN GRUNDSÄTZE DES MODERNEN HAUSHALTS
der erste Grundsatz:
die Erhaltung der Unordnung in Unordnung ist
aaaaazeitlich viel
aaasparsamer _
als die Erhaltung der Ordnung in Ordnung
der zweite Grundsatz:
jede Ordnung entsteht aus Unordnung und ist instabil
aaaaa_
der dritte Grundsatz:
die Ordnung beunruhigt weil in ihr immer potentielle
aaaUnordnung steckt
der vierte Grundsatz:
die Unordnung beruhigt und vermittelt ein Gefühl der
aaaBefriedigung _
weil in ihr potentielle Ordnung steckt die man sich ohne jeden Aufwand _
an physischer Arbeit jederzeit vorstellen kann
der fünfte Grundsatz:
die Unordnung ist ewig und lebensfähig und ist Veränderungen zugänglich
der sechste Grundsatz:
in der Unordnung hat man die Möglichkeit eine stabile Harmonie _
zwischen den eigenen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der eigenen _
nächsten Umgebung zu schaffen
der siebente Grundsatz:
das Suchen von Gegenständen und Schriftstücken ist eine produktive _
Tätigkeit weil es zwingt sich mit Gegenständen und Schriftstücken _
zu beschäftigen die man sonst ignorieren würde
der achte Grundsatz:
die Unordnung lehrt Überblick zu haben wirklich nur darüber worüber _
Überblick zu haben tatsächlich notwendig ist
der neunte Grundsatz:
was du nicht aufsaugst das wischst du unmittelbar danach auf
der zehnte Grundsatz:
was du unmittelbar danach nicht aufwischst das wirst du das _
nächstemal aufsaugen oder aufwischen
der elfte Grundsatz:
was du das nächstemal nicht aufsaugst oder aufwischst das wird _
das übernächstemal jemand anders aufsaugen oder aufwischen
der zwölfte Grundsatz:
was das übernächstemal jemand anders nicht aufsaugt oder aufwischt _
das wird unbemerkt in den Organismus deiner Wohnung hineinwachsen
der dreizehnte Grundsatz:
die Gegenstände die den Fußboden bedecken stören beim Saubermachen _
nicht weil sie durch die Bewegungen der Staubsaugerdüse oder _
die Bewegungen des in einen Lappen eingewickelten Schrubbers _
ebenfalls in Bewegung gesetzt werden
der vierzehnte Grundsatz:
alle Wasch- und Putzmittel sind Feinde des Lebens weil sie die Fette _
und Säuren die einen schützen und die Mikroorganismen mit denen man _
im Frieden leben sollte zerstören
der fünfzehnte Grundsatz:
es gibt wichtigere Dinge als Haushalt
der Schwejk dieser literarischen Landschaft heißt Jan Faktor und stammt aus der Tschechoslowakei. Ein Autor, der permanent den Konventionen, den schwer faßbaren, weil in der Regel unausgesprochenen Verabredungen darüber, wie Literatur zu sein habe, ein unschuldig tuendes, böses Schnippchen schlägt. Hinzu kommt, daß seine Texte oft wie in einem angelernten Deutsch geschrieben wirken (oder tatsächlich sind), was auch von ihm, dem wirkungsvollen Entertainer und Inszenator seiner Texte nach Art manches Zirkus-Clowns als „verfremdender Reiz“ eingesetzt wird… Man wird angesichts solcher Texte an Ernst Jandl denken dürfen, der davon sprach, daß mit einer unverbrauchten Sprache sich eher ein Gedicht machen läßt, als mit einer durch Poesie bereits verbrauchten…
Adolf Endler, Aufbau Verlag, Klappentext, 1989
muß ins Auge gefaßt werden. Wer die Texte Jan Faktors liest, merkt bald, daß man seine Aussagen und Sätze nicht pur nehmen darf, daß man sich auf Doppelbödiges und bewußte Irreführung einzustellen hat, sonst hat man das Spiel gegen sie verloren. Der Ernst seiner Poesie besteht in der spielerischen Reflexion ihrer Mittel: ihrer Möglichkeiten, gegebenenfalls Unmöglichkeiten. Die Positionen, die Jan Faktor vorstellt, gehören allesamt einer radikalen Ästhetik an. Sie sind kompromißlos und konsequent an ihren Endpunkt getrieben – für den Autor wiederum ein Gewinn vielfacher Möglichkeiten, sich selbst in zumeist extremen Haltungen auszusprechen, sich in seinen „Personen“ zu widersprechen. Und selbstverständlich steht hinter all diesen Invektiven die tiefe Erfahrung der Manipulierbarkeit der Kunst, auch die der Wirkungslosigkeit avantgardistischer Kunst – eine Erfahrung so alt wie das 20. Jahrhundert.
Tilo Köhler, Aufbau Verlag, Klappentext, 1989
Jan Faktor gehört von den jüngeren Autoren, die gegen Mitte der 70er Jahre zu schreiben begannen, zu denen, die sich am konsequentesten herkömmlicher Literatur und Ästhetik verweigerten und ihre Arbeiten aus einer bewußten Anti-Ästhetik heraus entwickelten. Natürlich geschah das bei einem Schriftsteller, der oft über Wochen hin an einem seiner kalkulierten, bis in die Interpunktion hin durchdachten Versuche schrieb, nicht ohne Voraussetzungen. Faktor weiß ziemlich gut, was vor ihm in deutscher und tschechischer Poesie der Avantgarde (andere interessiert ihn kaum) gemacht wurde; er übertrug experimentierende Gedichte Jaroslav Seiferts von 1925 adäquat ins Deutsche; die Sprachkonstellationen der Wiener Gruppe hat er gelesen und auch parodiert, und mit den theoretischen Schriften Adornos wußte er, daß man, nach Auschwitz, nicht mehr so weiterdichten konnte wie zuvor, ihm jedenfalls wäre es nicht möglich gewesen. Darum setzte er bei der Substanz der Sprache selbst, bei ihrem Wortbestand an, als er sie beim Übersetzen vom Tschechischen ins Deutsche von Grund auf nach allen einschlägigen Wörterbüchern studierte und am Computer (er hatte Datenverarbeiter gelernt) in ihrer Variationsbreite durchspielte, um danach seine Unternehmungen zu starten: ein exakt experimenteller und zugleich stringent ausgeführter Umgang mit den Wörtern, ihrer Lexik und der mißbrauchten Semantik unserer ,verwendeten‘ Sprache, freilich anders, als es sich Max Bense einmal gedacht hatte, als er, bei ersten Versuchen am Computer, von „serieller und permutationeller realisation“ sprach, von einer „progressiven ästhetik beziehungsweise poetik, deren bewußte anwendung ein fortschreiten der literatur demonstriert, wie es schon immer den fortschritt der Wissenschaft gab“ – also einen durchaus marxistisch tendierten Positivismus vertretend, wie ihn Faktor geradezu antithetisch unterläuft.
Die Sprech-Gedichte (sie wurden bei Vorführungen manchmal durch verschiedene Stimmen interpretiert) „Georgs Sorgen um die Zukunft“ oder „Parallelepiped“ widersprechen, bei Anwendung serieller Methoden, durchaus jedem zielgerichteten seriellen Automatismus. Faktor ging, wie er in seinen Anmerkungen erläutert, „beim Schreiben des eigentlichen Textes […] ohne System vor“, und die anfängliche Lustigkeit, die sich durch überraschende Arrangements und Differenzen im Textverlauf einstellt und vom Publikum heiter goutiert wird, zeigt zunehmend ihr „zweites Gesicht“ erregter „Aggressivität“. Überläßt er in strikter Durchführung seines Verfahrens scheinbar nichts dem Zufall ungesteuerter Emotion, so stellt sich im Verlauf und Ergebnis der Versuchsanordnung gerade seine intensive, persönliche Beteiligung heraus, wenn er folgerichtige Ableitungs- und Assoziationsketten jäh unterbricht oder listig unterläuft. Streng genommen müßte nach fataler Konsequenz jeder Versuch Georgs scheitern; aber indem sein Über-Ich dieses Debakel bis ins Abstruse steigert, triumphiert es wie aus sich selbst heraus – und mit ihm der animierte Zuhörer – über die eigene ausweglose Sinn- und Bewußtseinslage und korrespondiert auf diese vertrakte Weise mit einem latenten Zeitgefühl.
Ähnlich verhält es sich mit den provozierenden, „kunstfeindlichen“ Manifesten Faktors, die von einem geschrieben sind, dem Manifeste per se verhaßt sein müssen, weil ihm alles Manifestieren, dazu noch demonstrativ, aus Erfahrung längst sinnlos sein sollte. Aber er verfaßt sie, natürlich wiederum in Kenntnis früherer avantgardistischer Manifeste, die zwar wirkungslos blieben und kaum sichtbaren Einfluß auf die Entwicklung von Kunst und Kultur ausübten, aber für die Dichter selbst entscheidende Wendepunkte in ihrem Schaffen markierten, man denke nur an das von russischen Futuristen verfaßte Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack von 1913, das Postulate aufstellte, die unter verwandelten Bedingungen, heute wieder für Autoren aktuell sind, und nach denen Faktor geradezu verfährt:
Wir gebieten, die Rechte der Dichter zu achten: 1. auf Erweiterung des Dichterwortschatzes in seinem Umfang durch willkürliche und abgeleitete Wörter (das Wort als Neuschöpfung) […]
Faktor travestiert solche Neuschöpfungen durch seine „Trivialpoesie“, die er in einem nachgetragenen Kommentar von 1983 wiederum als Vehikel entlarvt, eine Schreibweise durchzusetzen, die sich durch einen „radikalen Humor“ auszeichnet. Humor, wie er nur einem Prozeß „der überwundenen Depression“ entspringen kann. Eine Selbsterfahrung solcherart führt er in den „Gedichten eines alten Mannes aus Prag“ sozusagen im Klartext des Eingeständnisses vor; aber man darf sich durch die authentische Diktion nicht täuschen lassen, weil man sonst eben nur eine Dimension des Textes erschlossen hätte. Die – vorläufige – Schlußreplik des Zyklus weist weit über die psychologisch-subjektive Zeit-Situation hinaus und enthält in sich auch eine Erklärung für alle aktuellen Vorstöße, mit einer anderen Sprache Perspektiven zu eröffnen, wie sie bisheriger Kunstausübung versagt waren:
jede neue Generation bringt in die Welt das Gefühl der Normalität zurück
Denn natürlich liegt es in der Intention jeder Anti-Haltung, ihre eigene Position zu beglaubigen. Bei Faktor geschieht sie mit Geist, Verve und unwiderstehlichem Antrieb, im nüchternen Bewußtsein von Skepsis und Verneinung kreativ zu sein. Jeder Vers, jeder Satz trägt in sich die Zwienatur des Gegen-Verses, des Gegen-Satzes, und „Georgs Beschwerde“ ist die Widerlegung jeder Beschwerde:
meine Arbeit ist ohne Nutzen
[…]
und meine Beschwerde ist ohne Nutzen
Gerhard Wolf, aus Gerhard Wolf: Sprachblätter Wortwechsel. Im Dialog mit Dichtern, Reclam Verlag, Leipzig 1992
Auch Jan Faktor (Jahrgang 51) konnte in der DDR erst vor einem Jahr mit Ausser der Reihe den Band veröffentlichen, der jetzt vom Luchterhand-Literaturverlag übernommen wurde: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens – ein vielversprechender Titel, der von den Texten fast noch übertroffen wird.
Als Tscheche hat Jan Faktor ein besonderes Verhältnis zur deutschen Sprache. Die meisten Gedichte sind erst in tschechischer Sprache geschrieben, und danach (in Zusammenarbeit mit Annette Simon) in die Fremdsprache übersetzt worden. In Faktors Wortmaschinen wird die Sprache zum Fremdkörper, der manchmal gnadenlos zu funktionieren scheint.“ (…) das Ekele immer Ekeler, das Schimmele immer Schimmeler, das Skrupuele immer Skrupeler (…)“ – „Georgs Sorgen um die Zukunft“ ist eine grauenhafte Ballade aus nichts anderem als allen möglichen und unmöglichen Komperativen. Ein augenzwinkernder Kommentar gibt Auskunft über die Hintergründe des Monstertextes und sagt über das Verhältnis des Autors zu seiner Titelfigur: „Die Grenzen zwischen mir und Georg sind nicht klar und sollen nicht ganz klar sein.“
Wer sich auf diese Texte einlässt, findet sich wieder in einem abenteuerlichen bunten Dichtergarten des Grauens, wo das Misstrauen gegen Konventionen von Sprache und Dichtung in einem fundamentalen Un-Ernst die subversivsten Sumpfblüten treibt. Die grotesken Sprachtürme stellen dabei in ihrer Konsequenz die ganze Väterreihe (von Dada bis Jandl) genauso in den Schatten wie die kleinen, perfekten „Gedichte eines alten Mannes aus Prag“. Am wenigsten ernst nimmt der Dichter Jan Faktor dabei seinesgleichen und sich selbst. In der Rolle des alten Mannes aus Prag stellt der ketzerische Autor der zwielichtigen Manifeste nüchtern fest: „mich wird man nicht vergessen / mich kennt keiner.
Sieglinde Geisel, Züricher Oberländer, 3.10.1990
Jan Faktor hat relativ wenig und spät veröffentlicht. In der DDR vor 1989 erschienen in den offiziellen Medien nur drei Gedichte in Auswahl 84, einer Debütanten-Reihe, und ein Text in einer Anthologie? Er ist 1951 in Prag geboren, hatte Datenverarbeitung studiert und erste Arbeiten in der damaligen ČSSR veröffentlicht, bevor er 1978 nach Berlin/DDR übersiedelte. Als gebürtiger Tscheche besitzt er einen doppelten und gleichsam verfremdeten sprachlichen Zugang zur deutschsprachigen Dichtung. Sein analytischer Blick auf Sprache und Dichtung, der sich ihr quasi von außen nähert, um ihre Funktionsweisen aufzuspüren, hat einen ihrer Ursprünge sicher in seiner Zweisprachigkeit.
In Berlin war er früh als einer der Protagonisten der nichtoffiziellen Literatur an Wohnungslesungen, Ausstellungen, ersten Zeitschriften (Mikado, UND), Auseinandersetzungen („Zersammlung“) und kollektiven Produktionen (mit Malern, Musikern, aber auch zwischen Autoren) beteiligt. Zwar fehlt sein Name noch bei der von Franz Fühmann initiierten Akademie-Anthologie von 1981, doch ist er in der aus diesem gescheiterten Projekt hervorgegangenen Anthologie Berührung ist nur eine Randerscheinung, dem ersten Kompendium der unabhängigen Literatur, an prominenter Stelle vertreten. Der umfangreiche Text „Georgs Sorgen um die Zukunft“ hat seinen Namen bekannt gemacht. In diesem Buch finden sich auch die „Gedichte eines alten Mannes aus Prag“, die Faktor von einer ganz anderen Seite zeigen, nämlich fast elegisch, leise und von einer resignativen Traurigkeit, jedoch gebrochen in der Travestie des Autors als alter Mann. Erst Ende der achtzigerJahre kamen seine ersten Bücher heraus: In der von Karl Riha in Siegen herausgegebenen Reihe Experimentelle Texte erschien 1988 ein Heft und kurz danach beim Aufbau Verlag sein erster eigentlicher Gedichtband: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens. Dieses Buch, das im Sommer 1989 noch vor dem Ende der DDR in der von Gerhard Wolf betreuten Reihe Außer der Reihe erschien, machte die vorher nur im Selbstverlag veröffentlichten Texte Faktors einem größeren Leserkreis zugänglich. Die publizistische Aufmerksamkeit für diesen Band war trotz Wendewirbels beachtlich.
Die Gedichte dieses Buches sind oftmals provozierende Stücke, zu denen ihre Inszenierung, zumindest aber das laute Vorlesen gehört. Faktor steht mit ihnen in der Tradition einer literarischen Avantgarde, die ihre Texte mit einer gehörigen Portion Aggression gegen das Publikum vorbringt. Das Provozierende seiner Texte liegt in ihrer logischen Struktur, die auf paradoxe Wirkungen setzt. Faktor hat Gedichte geschrieben, die zu den Standardwerken der jüngeren Poesie aus der DDR gezählt werden können, wie „Georgs Sorgen um die Zukunft“, „Adornos Wahrheit“ oder „Hans kam außer Atem an nur so“. Doch in seinem ersten Buch steht der Satz: „Gedichte schreibe ich eben nicht.“ Seine eigenen Arbeiten nennt er „positive Texte“. Was ist damit gemeint? Das Hinterfragen des literarischen Kanons und der polemische Bezug auf die Traditionen gehören zu den poetologischen Standards aller Avantgarden. Die jungen Dichter in der DDR knüpften in den späten siebziger Jahren an diese Tradition der historischen Avantgarden an. Auch Bert Papenfuß hatte seine Texte bis an den Anfang der achtziger Jahre bewußt nicht Gedichte genannt, sondern zunächst Ark, später Arkdichtung. Im Gegensatz zu anderen jedoch baute Faktor dieses Konzept avantgardistischer Kunst als ,Infragestellung der Institution Kunst‘ weiter aus. Den ironisch-polemischen Affront gegen die Kunst, „d as gro ß ef ühlen n“, verbindet er mit einer permanenten Reflexion der Mittel der Kunst, d.h. im wesentlichen der Sprache. Es ist jedoch kein antiaufklärerischer Impuls, der seine Attacken gegen Naivität, Gefühl und Pädagogik leitet. Deutlich sprach er sich gegen jede Art von engagierter Kunst aus. Im „Dritten Manifest der Trivialpoesie“ wird engangierte Kunst, Theater, Musik und Film pauschal als verlogen verworfen, im Gegenmanifest „Antwort auf die Manifeste der Trivialpoesie“ trifft auch noch die Prosa das Verdikt. Die Überspitzung der Thesen ist jedoch auch ein Mittel, das Statement selbst wieder zu ironisieren und damit die Argumente fragwürdig werden zu lassen. Insofern nahm und nimmt gerade Faktor selbst die politische Verantwortung des Künstlers ernster als viele seiner Kollegen. Seine Polemik gilt also in erster Linie einer Verwischung der Grenzen zwischen Politik und Kunst.
Beispiele für die – poetische – Reflexion sprachlicher Möglichkeiten mit den Mitteln des (scheinbaren) sprachlichen Leerlaufs sind Gedichte wie „das Sein der Wirklichkeit“, in dem sich das Bedürfnis nach Selbstaussage hoffnungslos in der Leere der Begriffe verwirrt:
das Sein der Wirklichkeit zeigt sich mir in diesem Jahr immer klarer / (so habe ich mir das gemerkt das sind nicht meine Worte) / das Sein der Wirklichkeit interessiert mich aus diesem Grund noch weniger als im vorigen Jahr / (das sind auch nicht meine Worte) / das Sein der Wirklichkeit fängt mich langsam an zu langweilen / (und das sind auch nicht meine Worte) // und die Probleme dieses Seins dieser Wirklichkeit zeigen sich mir in diesem Jahr immer klarer / (irgendwie so hat er das gesagt) / […]
Die sich wiederholenden und verwirrenden Zeilen werden im weiteren Verlauf des Textes zunehmend durch „usw.“ ersetzt, als lohne es nicht der Explikatian. Bei dem thematisch benachbarten Text „es gibt immer mehr Wörter die man nicht anfassen kann“ werden diese Worte, die man „nicht anfassen“, nicht „aussprechen“ oder „nicht ruhig ansehen“ kann, und ebenso die „stark abgenutzten Wörter“, und die „nicht abgenutzten Wörter“, die man aber durch „Nichtbenutzen schonen“ solle, durch ein Pausenzeichen ersetzt. Ein weiteres Beispiel ist das Gedicht „ob“, das sich stotternd und erneut mit Pausen dem nicht zu Ende gesprochenen Satz annähert:
[…] / ob ich nur Lust haben / ob ich nur Lust haben werde / ob ich nur Lust haben werde / ob ich nur Lust haben werde das nächst Wort / (Pause) / ob ich nur Lust haben werde das nächste Wart auszusprech / ch ch / […]
Die Parallelität von sprachlicher Handlung und wörtlicher Reflexion derselben schafft eine Spannung, die als Widerspruch zwischen performativem und inhaltlichem Aspekt des Sprechens beschrieben werden kann. Daß dabei der Sinn sehr eng am Unsinn liegt, macht ihr Vergnügen und ihre begriffliche Unausdeutbarkeit aus. Dies öffnet sie für den interpretierenden, das heißt Subjektivität herausfordernden Gebrauch.
Neben den Gedichten der Reduktion, die das, was sie zu sagen haben, nicht bewerkstelligen, sondern nur mit Pünktchen und Pausenzeichen ausdrücken, stehen die ,lexikalischen Gedichte‘ wie „Georgs Sorgen um die Zukunft“ oder „Parallelepiped“, die kritisch den deutschen Wortschatz befragen, in Auswahl natürlich und nach bestimmten Prinzipien komponiert. Diese Texte, die schon aufgrund ihrer Länge nicht zitierbar sind, gehören in die Tradition serieller Poesie. Wenn Faktor Gedichte auf serielle Wortfolgen reduziert, vollzieht er einen ähnlichen gedanklichen Prozeß wie ein Maler, der in der abstrakten Malerei die Bildgegenstände auf reine Formen und deren Variationen in Farbe, Größe und Stellung zueinander reduziert. Die Gedichte erproben Subjektivität in einem ,gereinigten‘, auf die Grundformen reduzierten Material, spielen mit der Wiederholung – die ja zur Grundstruktur lyrischen Sprechens gehört – und der Variation. Gerade Wiederholung und minimale Variation schärfen die Aufmerksamkeit und vergrößern das Gewicht des einzelnen Wortes. Das Strukturprinzip des rückläufig geordneten Wörterbuchs, das Faktor verwendet, ist verspielt und deutet zugleich auf eine mögliche alternative Grammatik. Zwei weitere Aspekte sind zu beachten. Erstens die Monstrosität der Texte, ihr ironischer Vollständigkeitsdrang, der das, wie Faktor es nennt, „zweite Gesicht seiner [des Textes, P. B.] Aggressivität“ hervorbringt. Sowohl die Monotonie als auch die Brüche rufen Heiterkeit hervor und provozieren durch ihre Häßlichkeit. Zweitens muß beachtet werden, daß es sich um Sprechgedichte handelt, Lautpoesie, zu der die Inszenierung und der Vortrag gehören. Es existieren von Faktor besprochene Tonbandkassetten, die die ästhetische Wucht der Texte erst verdeutlichen. Sowohl mit den reduzierenden Kurzgedichten als auch mit den Texten der Eloquenz zielt Faktor auf eine grundsätzliche Konfrontation mit den Voraussetzungen menschlicher Kommunikation. Die Sprache wird befragt nach ihren Potenzen (und Grenzen) für den subjektiven Ausdruck und den Austausch zwischen Individuen.
Faktor ist bei seinem zweiten Buch bei der vortragsorientierten Poesie wie auch bei den barocken Titeln geblieben. Henry’s Jupitergestik in der Blutlache Nr. 3 und andere positive Texte aus Georgs Besudelungs- und Selbstbesudelungskabinett führt das Konzept einer poesiekritischen Dichtung weiter. Beide Bücher sind sorgfältig komponiert, sie arbeiten mit einer inneren Dramaturgie, mit Anmerkungen und Selbstkommentaren. Im ersten Buch etwa werden die auf Seite 87 beginnenden „Manifeste der Trivialpoesie“ bereits auf Seite 36 in altertümlich-marktschreierischer Form angekündigt: „Lest die Manifeste der Trivialpoesie! […] die Manifeste der Trivialpoesie werden euch die Augen aufschließen / werden euch Fragen beantworten die euch schon lange quälen […]“.
Mit der Figur des Georg (wie schon mit der des alten Mannes aus Prag) schaffte sich Faktor eine spielerische Instanz, Haltungen zu entwerfen und zu dokumentieren, poetische Gebilde mit beschränkter Haftung hinzustellen. Rollengedicht ist immer auch Maskenspiel: „Die Grenzen zwischen mir und Georg sind nicht klar und sollen auch nicht klar sein (Manifeste!)“, schreibt Faktor. Der Autor verschiebt das Zentrum des Sprechens von sich weg in eine Differenz zwischen sich und Georg – ein Sachverhalt, wie er für den Roman oder das Drama vertraut und selbstverständlich ist. Aber zugleich behalten die Aussagen als Passagen eines lyrischen Textes (anders als im Roman oder Drama) eine gewisse Absolutheit, auch wenn sie einander widersprechen bzw. heterogene Aussagen einfach nebeneinandergestellt werden. Besonders in den „Manifesten der Trivialpoesie“ nutzt er die Möglichkeit, auch mit Sinnwidrigem zu provozieren.
Im zweiten Buch wird das ernste Spiel mit Textwirkungen noch konsequenter weitergeführt. Es kündigt sich erneut mit einem werbespruchartigen Vortext selbst an, und bereits der erste Text des Buches warnt den Leser: „Wer heute die wahre Kunst ernst nimmt, dem ist nicht zu helfen“ – und das in einem Text, dervorgibt, sich mit dem „Hauptproblem der Literatur“ zu beschäftigen, das schlicht darin besteht, „daß alle schlecht schreiben“. Wie immer bei Faktor muß der Leser auf der Hut sein. Das ineinander geschobene Spiel von Ernst und Spaß ist nicht so leicht aufzulösen. Seine Texte fordern den Witz und die Intelligenz heraus, sie sind brillante Kunst-Stücke, durchaus im Sinne der dadaistischen Provokation. Faktor verteidigt die Poesie, indem er sie praktisch in Frage stellt.
Bereits lange vor den Auseinandersetzungen um den „Prenzlauer Berg“ von 1992 hatte Faktor gegen Mythisierungen der Szene polemisiert und seit 1987 mehrmals eine radikale Selbstüberprüfung der unabhängigen Literatur gefordert. Ähnlich wie Detlef Opitz sah er dort bereits seit längerem einen hohen Anteil an Inszenierung und Unechtheit. Als Zäsur und Einschnitt in der Entwicklung der nichtoffiziellen Literatur beschrieb Faktorin seiner Bremer Rede die „Zersammlung“ im März 1984, die er „den ersten inoffiziellen Schriftsteller-Kongreß der DDR“ nannte. Sie kennzeichnet für ihn das Ende der produktiven Phase dieser Literatur. Danach sei es nur noch zu Wiederholungen, zur Stagnation und Selbstgenügsamkeit gekommen. Faktors Beobachtung entspricht der Tatsache, daß etwa seit Mitte der achtziger Jahre eine zweite Phase der nichtoffiziellen Avantgardekultur in der DDR einsetzte, in der sich die bis dahin verschränkten Bereiche von Lebensstilrevolte, Kunst und Opposition wieder ausdifferenzierten, in der die bildenden Künstler zur Kunst, die Literaten zur Literatur, die Chaoten zum Chaos und die Oppositionellen zur Opposition zurückkehrten. 1984 war auch das vielleicht wichtigste Manifest der jungen Berliner Avantgarde „Zoro in Skorne“ (Unbehagen in der Kunst) erschienen. Faktor war neben Bert Papenfuß und Stefan Döring dessen Autor. Unkontrollierbarsein, „Abschaffung des poetischen Staates im Autor“ und radikales Empfinden – die Thesen dieses Manifests können als eine Art gemeinsamer Nenner für die Revolte der jungen Autorengeneration seit dem Ende der siebziger Jahre gelten. Zugleich aber begann das Hermetische etwa der Rotwelsch-Passagen die Möglichkeiten des Einspruchs und damit von Auseinandersetzung einzuschränken. Mit der Etablierung einer ,Szene‘ begann deren Isolation auch von innen her. Es entstanden „geschlossene Resonanzräume“, die auch durch die gleichzeitig beginnenden theoretischen Selbstvergewisserungen nicht aufgebrochen werden konnten.
Von keinem anderen der Berliner Autoren waren so starke Impulse ausgegangen wie von Jan Faktor, die Auseinandersetzungen innerhaIb der ,Szene‘ zu produktivieren. Seine vier „Manifeste der Trivialpoesie“ hatten das mit radikalen Rundumschlägen versucht. Er selbst hat diese Manifeste als „hypertrophierte Fragmente einer bastardisierten Poetik – unsaubere Mystifikationen – inkonsequente Parodien“ bezeichnet. Der avantgardistische Paukenschlag, die aphoristische Zuspitzung, der Affekt gegen Konsumierbarkeit, gegen alles, was zu Nichtkunst erklärt wird, der Gestus der Rettung der Poesie – all das sind bekannte Muster der klassischen Manifeste der Moderne, mit denen Faktor ganz selbstverständlich auch spielt. Doch es war keineswegs pures Spiel, denn Faktors „radikaler Ästhetik“ sind Instrumentalisierungen von Kunst tatsächlich unerträglich und peinlich:
Trivialpoesie erklärt niemandem etwas / Trivialpoesie demonstriert nichts / Trivialpoesie zeigt auf nichts / Trivialpoesie will und wird keinen von etwas überzeugen wollen / Trivialpoesie beschäftigt sich nicht mit Problemen / […]
Die Provokation der Manifeste war aber kaum angenommen worden, vielleicht weil der aggressiven Abwehr von Funktionszuweisungen an die Literatur die tiefe Erfahrung der Manipulierbarkeit der Künste und auch die der Wirkungslosigkeit avantgardistischer Kunst schon eingeschrieben war. In dem späteren „Selbstbesudelungsmanifest“ schlägt solches Wissen auf den Autor zurück.
Es ist oft – und mit Recht – gefragt worden, was eigentlich subversiv an der Literatur der Autorengruppe vom Prenzlauer Berg war. An Texten wie denen Jan Faktors kann dies deutlich werden. Seine Gedichte sind kaum direkt politisch, sondern zu großen Teilen eine poetische Reflexion der Mittel und Möglichkeiten von Poesie. Aber etwa „Georgs Sorgen…“ hat sehr eindeutig einen Referenzpunkt. Der Hintergrund der realen Bedrohung erst macht das Gedicht sinnvoll. Der „Sinn der Trivialpoesie liegt in ihrer subversiv oppositionellen Wirkung“ (Erstes Manifest), schrieb Faktor 1982. Sie übt ihre Kritik nicht in stringenter Form, sie ,argumentiert‘ nicht polemisch, sondern offensiv, provokant, in sich selbst widersprüchlich und dadurch schockierend. „… das Häßliche ist ein Mittel der Subversion und die subversive Tätigkeit ist wie bekannt aus der Trivialpoesie nicht wegzudenken“ (Drittes Manifest). Faktor ist immer wieder den Weg des häßlichen Textes gegangen. Der Text als Ort einer zweifelhaften Sinnproduktion, die unsere Vereinbarungen und Vorstellungen darüber, was sinnvoll ist und was Literatur zu sein habe, in Frage stellt – so ließe sich seine Art der ästhetischen Rebellion bezeichnen.
Peter Böthig, aus: Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft. Literatur aus der DDR in den 80er Jahren, Lukas Verlag, 1997
Jan Faktors erster offizieller Gedichtband mit dem ausführlichen Titel erschien 1989 beim ostberliner Aufbau-Verlag in der vor der Wende gestarteten Reihe Außer der Reihe. In ihr veröffentlicht Gerhard Wolf selbständige Publikationen von u.a. sog. ,Prenzlauer-Berg-Autoren‘, deren Texte davor größtenteils (abgesehen von einzelnen Gedichten in Anthologien) in selbstverlegten Zeitschriften erschienen waren. Von dem 1951 geborenen Jan Faktor begegnen u.a. Texte in solchen inoffiziellen Ausgaben wie Mikado, ariadnefabrik und Kontext. 1984 wurden von dem dann schon 33jährigen Autor drei Gedichte in die Debütanten-Anthologie-Reihe Auswahl aufgenommen. Ein Anfänger im literarischen Betrieb war er in dem Alter allerdings nicht mehr. Angefangen hatte der in Prag geborene Autor mit politisch engagierten Texten in Samisdat-Zeitschriften in der Tschechoslowakei. Nachdem er 1978 nach Berlin übergesiedelt war, schrieb und schreibt er dort seine nun ganz anders angelegten Gedichte zuerst in Tschechisch, übersetzt sie danach ins Deutsche.
Beeinflußt von Ernst Jandl und Jaroslav Seifert produziert Faktor experimentelle Gedichte, manchmal seitenlange Satzreihungen nach immergleichen Muster, mit unerwarteten Variationen, die den Leser überraschen, wie „Georgs Sorgen um die Zukunft“. Das Gedicht trägt den Untertitel: „Ein Text zum Durchblättern“ und ist in einer „gekürzte[n] Fassung“ in den Band aufgenommen. 27 Abschnitte zählt dieser Text insgesamt, der auch verkürzt noch 33 Seiten des Buches einnimmt. Das Muster: „das [Adjektiv] wird immer [Adjektiv+]er“, wird derart variiert, daß auch andere Wortarten aufgenommen und behandelt werden wie Adjektive (vor allem solche, die auf einen Konsonanten oder auf -e enden). Abwechslung entsteht auch durch die alternierende Lettergröße und das Einfügen von in der Grammatik abweichenden Sätzen:
das Zukünftige wird immer zukünftiger
das Sorgende immer sorgender
[…]
die Gewächse immer Gewächser
die Offiziere immer Offizierer
[…]
und man darf nicht auf halbem Weg stehenbleiben
In den seitenlangen Anmerkungen zum Text wird dessen Entstehungszeit und -motivation erläutert sowie das System, nach dem gearbeitet wurde, dargelegt. Der Autor meint, anfangs ginge es um „den Angriff auf die Adjektive“, denn die zeigten im Komparieren eine „Häßlichkeit“. Länge und Monotonie des Textes führen zu einer Aggressivität, die sich beim lauten Lesen durch den Autor (dunkle Stimme mit rollendem R) noch mehr bemerkbar macht und um die es ihm wohl auch geht. Die nach einer gewissen Zeit unvermeidlich einsetzende Langeweile beim Leser/Hörer scheint ein einkalkulierter oder sogar beabsichtigter Effekt zu sein.
Kurze Gedichte sind ebenfalls in den Band aufgenommen, häufig von schmerzlich-nüchternem Ton, wie der Text „Georg äußert seine Gefühle“, in dem ein Gefolterter seinen Folterer so anspricht, als wäre der ein Kind, das gerade etwas Ungezogenes gemacht hat.
Faktors Poetologie findet der Leser in seinen „Manifesten der Trivialpoesie“, die in den Jahren 1982 und 1983 entstanden sind, in denen u.a. Begriffe wie: „alleinstehende[r] Satz“, „Reduktion“, „ohne Kontext“, „konsequente […] Reinigung“ und „Abscheu vor sogenannter engagierter Kunst“ eine zentrale Stelle einnehmen.
Das Prinzip hinter den Gedichten ist öfter interessant, die Ergebnisse sind es – für den Leser – nicht immer. Zu vielen Texten sieht man es an, daß sie für das Zuhören konzipiert sind. Kreativität kann Faktor jedoch sicherlich nicht abgesprochen werden, und wenn er unlängst hat verlauten lassen, daß er an einem Prosa-Text arbeitet, so kann man dem nur gespannt entgegensehen.
Anthonya Visser, Deutsche Bücher, Heft 2, 1992
Jan Faktor wurde 1951 in Prag geboren. Er studierte Informatik und lebt seit 1978 in Berlin, wo er u.a. als Übersetzer arbeitete. Er hatte bereits in Tschechisch publiziert, bevor von ihm verstreut deutsche Texte im Westen und in östlichen Untergrundzeitschriften erschienen. 1989 wurde sein erster eigener Band in der DDR herausgebracht.
Für Faktor ist Deutsch Fremdsprache. Aber er machte sich das Angelernte seines deutschen Sprachschatzes zunutze, um anders als ein Muttersprachler die deutsche Sprache zu befragen, und zwar so scheinbar naiv, wie sonst nur die Sicherheitsbehörden fragten, beispielsweise:
Hans arbeitet in einer Werkstatt nur so.
wann? seit wann? wie lange? wie oft?
wann nur so?[footnote]Jan Faktor: „Hans kam außer Atem nur so“ (1980/81). In: J. F.: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, Berlin u. Weimar, 1989, S. 80f. In diesem Kapitel werden alle Verweise auf diesen Band als Ziffern in Klammem wiedergegeben.[/footnote]
Faktor weiß natürlich, daß sein angelerntes Deutsch auf sein Schreiben Einfluß hat, Beschränkung bedeutet und ihm nicht ohne weiteres als Literatur abgenommen wird.1 Als er 1981 Ernst Jandl in Ostberlin lesen hörte, muß er begriffen haben, daß ihm nun der Vorwurf der Nachahmung zu warten stand, denn Faktors Sprachbehandlung erinnerte manchmal an die Verwendung des „Gastarbeiterdeutschs“ bei Ernst Jandl, der, um poetisch unverbrauchte Sprachschichten zu erschließen, in einen rudimentären Jargon schlüpfte. Auf dieses Mißverständnis reagierte Faktor ironisch mit dem Text:
? bist Jandl
[…]
du doch Jandl Jandl
du zwar nicht Jandl gewesen
wirst jetzt aber Jandl sein für immer?[footnote]Jan Faktor: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, Berlin u. Weimar, 1989, S. 78[/footnote].
Faktors Texte lassen sich nicht leicht kategorisieren. Neben solchen, die vom Schriftbild her der Lyrik zuzuordnen wären, finden sich sehr umfangreiche, die sich vielleicht als Texturen bezeichnen lassen, und solche die sich als Manifest geben, aber eher als spielerische Pamphlete entpuppen. Seine für Sprecherrollen geschriebenen „Stücke“ sind kaum Stücke fürs Theater, sondern bestenfalls für den Vortrag. Selbst sein großer Essay von 1988, „Was ist neu an der jungen Literatur der achtziger Jahre oder im gegebenen Kontext als offiziell zu betrachtender Versuch einer um Objektivität, Informativität oder Vollständigkeit sich nicht bemühenden Chronik […]“ usw., weckt zunächst den Eindruck, mehr aus Lust am Sprache reflektierenden Sprechen/Schreiben verfaßt zu sein als der dargestellten Sachverhalte wegen; unter einer weitschweifigen Überschrift hebt Faktor zu einer ebensolchen Einleitung an, die angeblich die Bedeutung der Überschrift klären will, aber nur eine weitere Einleitung ankündigt:
Aber (leider ist mir aus der ersten Fassung dieser Seite noch ein ,aber‘ übriggeblieben, das ich nicht ohne weiteres auslassen kann) – also: Ich bin zwar bereit, auf die üblichen einleitenden ,Klärungsversuche‘ zu verzichten, also […].2
Schließlich folgen doch irgendwann – nun fast schon überraschend – präzise Beobachtungen und Urteile zum Thema. Es ist offenbar gefährlich, Faktor vorschnell wörtlich zu nehmen; Endler hat auch vorsorglich vor solcher Leseweise gewarnt. Faktor sei der „Schalksnarr, der Schwejk dieser Landschaft“, der „permanent den Konventionen, den schwer faßbaren, weil in der Regel unausgesprochenen Verabredungen darüber, wie Literatur zu sein habe, ein unschuldig tuendes, böses Schnippchen schlägt.“3
Faktor verfaßte Anfang der 80er Jahre mehrere „Manifeste der Trivialpoesie“, in denen er suggeriert, gegen die herkömmliche Poesie und für Trivialpoesie zu plädieren:
Trivialpoesie ist die Poesie des alleinstehenden Satzes
Trivialpoesie ist die Poesie des Satzes ohne Kontext
Trivialpoesie ist die Poesie der Reduktion
Als Beispiele für Trivialpoesie nennt er Sätze wie: „Ich habe Hunger“, „Ich will ficken“ usw. („Erstes Manifest der Trivialpoesie“[footnote]Jan Faktor: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, Berlin u. Weimar, 1989, S. 87[/footnote]), die das herkömmliche Poesieverständnis provozieren. Allerdings wird der Leser der Manifeste schon bald an der Trivialität solcher Trivialpoesie zweifeln, denn trotz mehrfacher Versicherungen („Trivialpoesie beschäftigt sich nicht mal mit den Problemen ihrer eigenen Existenz“), scheint sie doch so kompliziert, daß Faktor zu ihrer Erklärung mehrere Seiten benötigt.
Weder Manifeste noch Provokationen („Trivialpoesie ist aggressiv“[footnote]Jan Faktor: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, Berlin u. Weimar, 1989, S. 89[/footnote]) sind natürlich neu in der Kunst- und Literaturgeschichte, und Faktor weiß das selbstverständlich („Manifeste lassen sich ernsthaft nicht mehr schreiben“[footnote]Jan Faktor: Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, Berlin u. Weimar, 1989, S. 91[/footnote]). Wenn er dennoch damit arbeitete, negierte er demonstrativ das in der DDR ja bis zum Schluß staatlich propagierte traditionelle Literaturverständnis, das von Literatur einen Inhalt, eine bestimmte Sinngebung erwartete und die Avantgarde deshalb jahrzehntelang als dekadent und trivial verachtete. Zugleich testete Faktor aber auch, indem er die postmoderne Entwertung avantgardistischer Bemühungen parodierte, die Leistungsfähigkeit letzterer für ein bestimmtes historisches Verhältnis von Literatur und sozialer Umwelt.4 Eine Literatur, die sich als Ausdruck von Subjektivität ausgibt, kontert er mit der Forderung nach dem kontextlosen Satz „des vom Verstand nicht getrübten Gefühls“, einer Forderung, die Zivilisation und Kultur, die Gesellschaft rückgängig machen würde, denn sie reduzierte Sprache von Kommunikation auf die bloße Wahrnehmung von Signalen und suspendierte Verstehen: „Trivialpoesie nähert sich dem Ernst der Tiere“5). Dies entspräche einer Situation totaler Einsamkeit, wie sie Faktor als „Gedichte eines alten Mannes“ thematisierte:
ich nehme schon lange nicht mehr weder die Ansichten der Menschen noch die Ansichten der Tiere ernst als Ansichten
ich nehme sie ernst nur als Nachrichten über Gefühle
als Nachrichten über irgendwo irgendwie eingesäte Überzeugung6). Die Manifeste dagegen enthalten keine tierischen Signale, sondern verkünden im Brustton des wahren Dichters Thesen von und über Literatur, die sich als Tautologien oder logische Widersprüche herausstellen; der theoretisierende Gestus verrät selbst seinen Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch, spottet seiner selbst. Schließlich wird sogar in einer „Antwort auf die Manifeste der Trivialpoesie“ die „untriviale“ samt der „trivialen“ literarischen Produktion bekämpft und mit „Paralyrik“ überboten, werden frühere Thesen ins Gegenteil verkehrt:
Was in den Manifesten im Zusammenhang mit Gefühlen behauptet wird, sind schlimme Irrtümer. […] In der Kunst geht es nicht darum, Gefühle zu äußern, sondern in erster Linie darum, Gefühle hervorzurufen. […] Das Herausschreien von Gefühlen ist ein bis zum Extrem gebrachter Irrtum. In der Kunst geht es wirklich um das genaue Gegenteil: Um die Geschicklichkeit der Manipulation. Kunst ist Arbeit an fremden Gefühlen.7
Die sich im Kreise drehenden Argumente denunzieren alle Versuche, aus den Manifesten positiv eine Poetologie herausfiltern zu wollen. Es scheint, als sei Faktor ein literarischer Trickbetrüger und als hätte der Leser – nach dem Spaß – das Nachsehen.
Der sachliche Nonsens Faktorscher Texte funktioniert jedoch, weil der Autor sich mit ihnen in den literarischen Diskurs begibt bzw. – in systemtheoretischer Terminologie – sich des Kommunikationsmediums Literatur bedient. Wenn ein Text Kommunikationsofferte im Literatursystem ist, wird er als solche kommuniziert und verstanden. Dann kann Faktor zwar in seinen „Anmerkungen zur Interpunktion“ erklären:
Visuell drängt sich ein konventionell gegliederter Text […] schon von vornherein, auf den ersten Blick als ein Gedicht auf. Das will ich vermeiden. […] (Gedichte schreibe ich eben nicht)8.
Aber daß trotz aller Beteuerungen auch „kontextlose Trivialpoesie“ nur im Kontext der symbolischen literarischen Formensprache Sinn macht, beweist schon der einleitende Vorspruch des Verlages zu Faktors erstem Band:
Ein ganz bestimmter, eigensinniger Gedichttyp muß ins Auge gefaßt werden […]9.
Faktors Kokettieren mit dem literarischen Status der Texte führt dazu, daß sich sogar bei seinen verschiedentlich eingestreuten, zum Teil mehrseitigen „Anmerkungen“ – zu Interpunktion, Entstehungsprozeß oder Vortragsweise seiner Texte – eine poetische Leseweise aufdrängt. Und das ist wohl Faktors Absicht.
Der barocke Titel seines ersten Bandes, Georgs Versuche an einem Gedicht und andere positive Texte aus dem Dichtergarten des Grauens, läßt zunächst auch Gedichte erwarten. Aber bereits der erste Text, nämlich „Georgs Versuche an einem Gedicht“10, führt das Unvermögen eines Alter ego „Georg“ zum Gedichteschreiben vor:
(nicht aufgeben)
(nicht aufgeben)
„Georg“ versucht genau in der Weise ein Gedicht zu schreiben, die das „erste Manifest der Trivialpoesie“ verschmäht. Sein wiederholter Versuch, ein Bild für seine Gefühle zu finden, „das Gefühl daß / als ob / wenn…“, mißlingt, d.h., „Georgs“ Versuch, mit einem traditionsverbundenen, syntaktisch korrekten Satz eine subjektive Befindlichkeit poetisch auszudrücken, scheitert; ihm versagt die Sprache. Ihm scheint bewußt zu werden, daß sich Sprache und individuelles Empfinden nicht decken, und er verstummt. Faktor macht hier die Verfassung der literarischen Moderne seit Rimbaud anschaulich, führt sie konkret als Text vor und entmetaphorisiert gewissermaßen Hofmannsthal. 11
„Georgs“ Sprechproblemen entsprechen manche Thesen der Manifeste. Das erste Manifest postuliert u.a.: „Trivialpoesie ist die Poesie des vom Verstand nicht getrübten Gefühls“, „Trivialpoesie weiß nicht was bildliches Denken und was Übertragen von Bedeutung ist / weiß nicht was stilistische Figuren sind“, „Trivialpoesie wird ihre banalen sprachlichen Mittel niemals aufgeben weil sie weiß daß Metaphern das Papier zerfressen“ usw. (87ff.) Und „Georg“ erweist sich als lernfähig. In dem Text, „Georg äußert seine Gefühle“, hört sich das wie folgt an:
schäm dich was machst du denn
es tut doch weh
das Gewebe erträgt nicht
was machst du denn
du folterst mich doch
das tut doch weh
[…]12.
Hier wird von Gefühlen nicht gesprochen, sondern die Äußerungen geben vor, direktes Anzeichen für ein Gefühl, für Schmerz zu sein. Poesie, die in dieser Konkretheit Signifikanten auf ein Signifikat bzw. eine Realität bezieht, müßte laut Manifest imstande sein, Gefühle zu kommunizieren, denn sie entspricht „positiv“ Signalen, d.h. Tatsachen aus einem „Dichtergarten des Grauens“. „Georgs“ Äußerungen wären somit Trivialpoesie im Sinne der oben zitierten Thesen, wären „Reduktion der Poesie auf direktes und unmittelbares Aussprechen emotional aufgeladener Mitteilungen“13 – allerdings nur dann, wenn sie einer Erlebnissituation entsprächen, in der Zeit-, Sach- und Sozialbezug der Kommunikation zusammenfielen, nicht aber als geformter und gedruckter Text. Der Text spielt mit seiner poetischen Radikalität und widerlegt sie zugleich, er täuscht Unmittelbarkeit vor und verweist statt auf Signifikate nur auf Signifikanten, auf den gesamten symbolischen Kontext Literatur.
Wer aber ist „Georg“? Personifiziert Faktor in „Georg“ ein lyrisches/poetisches Ich oder handelt es sich um ein Rollengedicht? Offensichtlich ist „Georg“ nicht der Autor selber, denn der läßt jenen sich abstrampeln. Die Situation gleicht dem Märchen vom Hasen und Igel; wenn Georg sich schlau gemacht hat, trifft er auf den Autor, der immer schon schlauer ist und weiß, so geht es nicht. Hinter dem scheinbar naiven Bemühen versteckt sich ein Reflexionsstand von Literatur, der in der Systemtheorie mit Beobachtung zweiter Ordnung bezeichnet wird. Trivialpoesie gibt sich als Don Quichotterie gegen das Medium Literatur, womit sowohl der Ansatz selbst als auch die Gegenpositionen listig verunsichert werden. Nicht nur „Georgs“ Äußerungen fingieren eine triviale Wörtlichkeit und poetischen Konkretismus bzw. expressive Unmittelbarkeit, auch in anderen Texten umkreist, spielt Faktor mit den Problemen der avantgardistischen Literatur, mit den vermeintlichen Lösungen von Formalismus, Surrealismus, von Gertrude Stein bis zu den Programmen der ,konkreten‘ Dichtung. Beispielsweise versucht es der folgende Text mit äußerster Sachlichkeit:
vor 1801
Äpfel: drei
Haare: zwanzig
Buchstaben: neunzehn
zwischen 1923 und 1928
Bücher: zwei
Monde: ein
Stimmen: zwei […] usw.14
Die Reihung eindeutiger Aussagen, von Wörtern mit gesicherten Bedeutungen, ergibt keinen Zusammenhang, keinen Sinn. Diesbezüglich ähnlich enttäuschend ist die Beschäftigung mit dem Material. Faktor zeigt, was passiert, wenn man das Materialcredo der konkreten Dichtung wörtlich nimmt. Er benutzt KAEDINGS Häufigkeitsuntersuchungen zum geschriebenen Deutsch sowohl als reines Material als auch als Basis für eine formelle Bearbeitung und Ausgangspunkt einer Textur, der „Rangreihe der 323 häufigsten Wortformen der deutschen Sprache“.15 Auch eine noch so ,reine‘ und penible Arbeit an Wortmaterial, an ,positiven‘, gesicherten Bedeutungen liefert keine Antworten, keine neue Poetik der Moderne: „Adornos Wahrheit“ – bei Faktor ein Gedicht allein aus Zahlen16 – ist, darf man interpretieren, ebensowenig wie mit der Sprache mit Symbolen (Ziffern) beizukommen. (Es sei denn, Faktor hätte schlitzohrig mittels eines Codes einen zweiten Text uns verborgen.) Zwischen all diesen spielerischen und im konventionellen Sinn unverständlichen Texten läßt sich ein Zusammenhang nur konstruieren, wenn man sie als Literatur versteht.
Und ich frage Euch: Wer hat Euch das Recht gegeben, Provokationen nicht zu verstehen.17
Die Frage bleibt, wer ist „Georg“? In einer Anmerkung zu den „Manifesten der Trivialpoesie“ steht:
Die Grenzen zwischen dem ,wirklichen‘ Autor der Manifeste und mir sind unklar und sollen unklar bleiben. Die Schaffung irgendeiner klaren Figur wäre langweilig.18
Für Faktor ist Unklarheit ein oder das Kennzeichen des Ästhetischen.
Unklar zu sein, das weiß ich, seitdem ich das ganz bewußt in späteren Schreibjahren versucht habe, ist kein Problem. Früher dachte ich, daß manche Leute nicht klar denken können, wenn sie absolut nicht klar schreiben können, obwohl ich von mir wußte, daß wenn’s mir so ging, daß ich nicht richtig klar im Kopf und auch sonst unter der Haut war, ich überhaupt nicht schreiben konnte. Die Rätselhaftigkeit und der Hang zum bewußten Steuern dieser Rätselhaftigkeit gehören beim Schreiben mit Recht zur Sache.19
Daher wohl kann und will Faktor sich nicht auf eine positive Poetik festlegen, daher bauen sich seine poetologischen Texte aus Negationen auf. Ohne die Leerstelle Ästhetik zu besetzen, arbeitet er mit dem Auseinanderfallen und der Unvereinbarkeit von Autor, Sprache und Sprecher. Benutzt man Luhmanns Trennung von psychischen und sozialen Systemen, läßt sich formulieren: Faktor weiß sich jenseits des Literatursystems und provoziert und experimentiert mit dessen Autonomie, neugierig darauf, was herauskommt.
Und wo bleibt der Humor und das Experiment Freunde!20
Dem widerspricht nicht eine Aussage wie:
Neben dem Recht auf Rätselhaftigkeit gibt es für mich beim Schreiben auch die Forderung zur Beweglichkeit und zum (wenigstens punktuellen) Durchbrechen der Rätsel.21
Als Durchbrechen von literarischen Mythen, der oft unterstellten (moralischen) Einheit von Dichter und Werk, dürfen seine herausfordernden Ausfälle zum Selbstverständnis der Autoren gelten – und da macht er zwischen seiner Generation und anderen Schriftstellern keinen Unterschied:
Moralische Reinheit – das ist zu wenig. Sich so ernst zu nehmen, ist eine Unverschämtheit. […] Im Grunde geht es sowieso nur um Sex.22
So erklärten sich sowohl extroverte als auch introverte Schreibmotivationen: einerseits sei der „Traum des Dichters […] im Grunde das Hypnotisieren von Massen. […] Daß man für sich schreibt, ist nicht nur ein hilfloses Klischee, sondern mehr schon eine Lüge“, andererseits ginge es in der Dichtung „auch noch darum, durch die Arbeit die notwendigen, aber auch lästigen Macken zu verarbeiten oder wenigstens einigermaßen friedlich zu kompensieren. […] Die Tiefen der Sprachforschung und -fühlung sind dann ziemlich unwichtig“.23
Am ausführlichsten läßt Faktor „Georg“ in „Georgs Sorgen um die Zukunft“ das Wort. Der Text ist wegen seiner zentralen Stellung und wegen seines Umfangs von gut dreißig Seiten kaum zu ignorieren und besteht aus einer schier endlosen Folge gleich oder ähnlich gebauter komparativischer Fügungen. Mit Verständnis für den Leser erlaubt der Autor ausdrücklich das „Durchblättern“. Zunächst eine Passage:
das Zukünftige wird immer zukünftiger (1. Abschnitt)
das Sorgende immer sorgender
und
das Hiesige immer hiesiger
das Dortige immer dortiger
das Zerbrechliche immer zerbrechlicher
das Langweilige immer langweiliger
das Irreparable immer irreparabler
das Sinnlose immer sinnloser
das Ratlose immer ratloser
das Böse immer böser
Ein derartiger „Angriff auf die Adjektive“24 und die „Häßlichkeit des Komparierens“25 war in der DDR, wenn er vorgelesen wurde, zunächst kuriose und symbolische „Gegensprache“ gegen die sozialistische Amtssprache und deren Prädikatierung, die dem Staatsvolk permanent den sich unaufhörlich steigernden „Fortschritt“ beweisen mußte. Die Fortschritte, für die die Komparative stehen, bereiten „Georg“ aber „Sorgen“, gesteigerte Sorgen, und in der gebetsmühlenhaften Monotonie der seitenlangen Fügungen geht die rationalisierbare Komponente der „Sorgen“ allmählich in einem apokalyptischen Rauschen unter. Beim lauten Lesen oder Vortrag verwischen sich die Identitäten von Sprecher, Leser/Hörer und „Georg“ zu einem Sprachsound.26 Hier wird eine einzige rhetorische Figur, ein Parallelismus, ins Extreme getrieben. „Georgs Sorgen um die Zukunft“ sind eine unendliche kreisende Litanei, nur von wenigen sparsamen Bemerkungen unterbrochen.
Der Gebrauch rhetorischer Figuren hat in der Moderne nicht mehr, wie in vormodernen Sozialsystemen, die Funktion der Sicherung von (mündlicher) Informationsübertragung oder der Überredung. Rhetorische Figuren gehören aber in der verschriftlichten modernen Gesellschaft auf einer diffus-praktischen Ebene zum Formbestand der Sprache. Ihre Verwendung in der modernen Literatur ist daher an sich paradox, ein Anachronismus. Die Art und Weise, wie Faktor hier Gebrauch davon macht, erreicht denn auch das genaue Gegenteil ihrer Funktion, nämlich das Erschlaffen von Leserinteresse und Verstehen. Durch Überdehnung und exzessiven Gebrauch nur einer oder weniger Sprachfiguren wird jede Wirkung im Sinne der traditionellen Rhetorik zunichte. Als Litanei büßen rhetorische Figuren sowohl ihren Effekt als auch einen Teil ihres ursprünglichen Sinnes ein, wird Sprache – zumal vorgetragen – zu einer rhythmisierten, strukturierten Lautfolge, deren diskrete Elemente der Hörer oder Leser kaum mehr in Einzelbedeutungen auflösen kann.
Über die poetische Aktualität litaneihafter Poeme hatte in der DDR Fühmann öffentlich in den 70er Jahren nachgedacht. Die Litanei behalte auch in der Moderne eine poetische Berechtigung, denn sie habe „jene Gnadenlosigkeit des Geistes, die uns hilft, die des Lebens zu bestehen, und die darum tiefste Menschlichkeit ist.“27 Schon Ende der 70er Jahre arbeiteten Walsdorf und vor allem Matthies, u.a. in Anlehnung an Rolf Dieter Brinkmann, manchmal auf diese Weise.28 Literatur ist in der Moderne freilich – entgegen Fühmanns Überzeugung – ihrer selbstgewissen Gründung auf Wahrheit oder Menschlichkeit verlustig gegangen. Dadurch verweisen heute litaneihafte Texte ,gnadenlos‘ auf sich selbst, auf ihre Machart, ermöglichen es, die Kontingenz rhetorischer und semantischer Signifikationen zu demonstrieren, ermöglichen der Literatur Selbstreflexion, vor allem wenn Texte, wie bei Faktor, mit den grammatischen Regeln zu spotten beginnen. Zwischen seine oben zitierten, sprachlich korrekten Passagen schleichen sich mit fortschreitendem Text immer häufiger Kombinationen ein, die im Widerspruch zur Grammatik stehen und die allmählich die Oberhand gewinnen, z.B.:
das Gespannte wird nämlich inzwischen immer gespannter (12. Abschnitt)
das Komplizierte immer komplizierter
das Deformierte immer deformierter
[…]
das Afte immer After
das Pfeffe immer Pfeffer
das Koffe immer Koffer
das Sektiererische immer sektiererischer
das Dekadente immer dekadenter
das Verderbliche immer verderblicher
das Doppelzüngige immer doppelzüngiger
das Arbeitsfähige immer arbeitsfähiger
das Weinessige immer Weinessiger
das Dickflüssige immer Dickflüssiger
das Gehässige immer gehässiger
mein Name ist Georg und ich habe Angst vor der Zukunft
wir alle sehen’s doch
Und so weiter. Zwischensätze wie der letzte dienen zum Luftholen.
In Faktors ebenfalls mehrseitigen Anmerkungen zu „Georgs Sorgen um die Zukunft“ heißt es u.a.:
Eine solche Menge von Sorgen kann mit dieser Ernsthaftigkeit nur einer zusammenschreiben, der nicht ganz in Ordnung ist, der die Kontrolle über sich verloren hat. Und irgendwie so einer war und ist Georg.29
Mit dem Namen Georg wird demzufolge die Eigenschaft der Sprache und insbesondere der poetischen, symbolischen Sprache bedacht und personifiziert, Eigengesetzlichkeit zu entwickeln, und Faktor erläutert in den Anmerkungen an manchem Detail, wie er bestimmte Auswahl- und Strukturentscheidungen „mit Rücksicht auf Georg“30 habe treffen müssen.
Eine solche Litanei ist aggressiv und quälend für den Zuhörer, ist „Dichtung und Frechheit“31, wenn sie in voller Länge vorgelesen wird. Die einzelnen Bedrohlichkeiten verschwinden dann im Rauschen. Aufmerksamkeit erregen nicht mehr die rhetorischen Figuren, sondern die Verstöße in der Bauart, die grammatischen Fehler und Wortwitze und die rhythmischen Störungen. Hier ,arbeitet‘ Sprache, ,transzendiert‘ oder – systemtheoretisch – modalisiert die aktuellen kommunikativen Reduktionen und Selektionen, macht deren Kontingenz bewußt. Gerade Faktors seriell und paradox geformte Texte, deren Effekt erst im Aussprechen ganz zum Tragen kommt, übermitteln keine semantisch-rationalisierbaren Mitteilungen, sie wollen eine sinnliche, eine in ursprünglicher Bedeutung ästhetische Rezeption abzwingen. In diesem Sinne fordert Faktor in einem neueren mehrseitigen Text: „wir brauchen eine neue lyrik“32, eine Lyrik, die unsere Welt auf den Kopf stellt.
Ekkehard Mann, in Ekkehard Mann: Untergrund, autonome Literatur und das Ende der DDR. Eine systemtheoretische Analyse, Peter Lang Verlag, 1996
Michael Kothes: Jammer, Jammer über alles
Die Zeit, 8.2.1991
Klaus Hensel: Lest Coca-Cola
Frankfurter Rundschau, 23.3.1991
REVISION
Für Annette Simon und Jan Faktor zum jeweils 65. Geburtstag im November 2016
I.
oddech & orewoet
beginen & begarden oddech – oddech
kommunisten & kommunarden kraß ist das smech
kiebig dreck am stecken wer das lachen hat
madonnen ums verrecken hat das sagen satt
aaaaaoddech – oddech hunderttausend mal
aaaaakraß ist das smech durchleiden wir qual
aaaaawer das lachen hat dann ist endlich schluß
aaaaahat das sagen satt mit dem säkularchiliasmus
schwester hadewych oddech – oddech
mach aus das licht kraß ist das smech
rauscht das blut wer das lachen hat
raucht orewoet hat das sagen satt
aaaaaoddech – oddech allzumenschliches
aaaaakraß ist das smech geht ins hemd
aaaaawer das lachen hat das menschentier
aaaaahat das sagen satt geht fremd
harrend in enstase atman – atman
fahre in mich, quase da muß luft ran
quarze, beiß ab hart ist die nuß
papperlapapp druden der fuß
II.
Worterklärungen und Angemerkfloskeln
oddech & orewoet war Bestandteil des Konvoluts RUMBALOTTE. Opera Semiseria für Großes Besteck (1998 – 2000),33 flog jedoch aus dem Manuskript, weil der Text mir für den sozialrevolutionären Duktus des Machwerkes zu „esoterisch“ vorkam. Veröffentlicht wurde er 2015 in einer originalgrafischen Edition,34 für die er mir besonders unpassend, und somit angemessen, erschien.
Zum Titel: „Oddech“ bedeutet im Polnischen und Tschechischen „Atem“, im übertragenen Sinne „Erholung“. – „Orewoet“ ist etwas komplizierter: Im Mittelniederländischen ist „woet“ = „Wut“ bzw. „Kraft“; eine bedrohliche Mächtigkeit, tiefe Unrast. Die zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Brabant wirkende Begine und Mystikerin Schwester Hadewych35 – bzw. Hadewijch,36 auch Hadewijch von Antwerpen37 – benutzt in ihrer Minneversessenheit „orewoet“ für das höchste Engagement. Auf ihrer Internetseite heißt es hierzu:
Een van de sleutelwoorden die Hadewijch hierbij gebruikt is ,orewoet‘. Een woord dat we in onze huidige Nederlandse taal niet meer kennen.38 In het Middelnederlands is het woord ,orewoet‘ verwant aan ,woet‘, ,woeden‘ ,verwoedelijk‘ en ,verwoet‘. Orewoet wordt omschreven als ,gloed‘, ,hitte‘, ,vurigheid‘ en vooral als ,geestelijke gloed, extase‘. Misschien komt het van ore-woet, een waanzinnnige gedrevenheid die bij een dier wordt waargenomen als door een of ander insect wordt gestoken, zoals bijvoorbeeld een paardevlieg. ,Woet‘ wijst op een ,sterke ongedurigheid en vurige onrust‘ en ,brandende begeerte‘. ,Verwoedelijk‘ staat voor ,buiten zichzelf‘ en ,heftig begerend‘.39
Etwas abseitiger – wir befinden uns schließlich auf dem glatten Eis, auf das wir gehören –, ist die Interpretation: „orewoet“ = „Sturmwut“.40
Erste Strophe: Würde ich den Text heute schreiben, hieße es natürlich „kommunistinnen“; „madonnen“ scheint ein Verb zu sein – wofür, verrate ich nicht.
Erster Refrain: „kraß ist das smech“ ist eine Anspielung auf Leonid Andrejews Kpacный Смех. Statt „wer das lachen hat“ würde ich heute schreiben: „wer gut lachen hat“.
Dritte Strophe: Bei aller Liebe zur Ekstase kann man „orewoet“ wirklich nur als Enstase ansehen; daher die Inhalationen „quarze“ (= rauche) und „beiß ab“ (= trinke), die mir entgegenkamen.
Fünfte Strophe: Schildert den Konflikt des Autoritären („Allzumenschliches“ – F. Nietzsche) mit dem Antiautoritären („Menschentier“ – W. Reich).
Zweiter (und letzter) Refrain: „atman“ ist hier klassisch benutzt, also in der Bedeutung „Atem, Hauch, Seele“. Warum habe ich damals nicht geschrieben „atman, ataman“? Was ich an dieser Stelle ausdrücken wollte, war: „Halt ma’ die Luft an; Warlord!“ – Die letzten beiden Zeilen gelten mir selber, leider, oder auch nicht.
III.
Gleiches mit Gleichem
Auf Eines müßt ihr haben Acht!
Sucht nicht in der Zerstreuung Nacht
Das Licht, das in euch ist entfacht.
Dann strahlt in euch der Freiheit Macht;
Wenn ihr vom Traum des Ich erwacht,
So ist der Weisheit Werk vollbracht.41
Was hat mich an den religiösen Schwärmern der frühen Neuzeit gereizt? Ich habe in ihnen – z.B. Quirinus Kuhlmann, siehe da und dort a.a.o. – ein Äquivalent zu heutigen (gestrigen) Punks, Autonomen und sonstigen Sozialrebellen gesehen. Mich hat nie ihre Religiosität interessiert, Spiritualität ist mir brenne – sondern ihre Abgefahrenheit. Insofern ist mir Jakob Böhme näher als Meister Eckhart, Kuhlmanns Kühlpsalter42 ist purer Rock’n’Roll. Ebenso war Schwester Hadewych eine Besessene. Ich glaube – zwar an gar nichts, aber –, wenn „Liebe“ gesagt und geschrieben wird, ist auch „Liebe“ gemeint. In den Beginenhöfen ging die Post ab; wie in den Grüften, so in den Lüften – junge Leute, frohe Stunden; Disziplin hin oder her –, da beißt Gott keinen Faden ab: „quarze, beiß ab / papperlapapp“.
Ich grüße dich, Liebe, mit der Liebe, die Gott ist, und mit dem, was ich bin, soweit es göttlich ist. Ich danke dir für das, was du bist, und tadele dich für das, was du nicht bist. Ja, Liebe, alle Dinge muß man kraft ihrer selbst suchen: Kraft mit Kraft, List mit List, Reichtum mit Reichtum, Liebe mit Liebe, Alles mit Allem und immer Gleiches mit Gleichem: das kann ihm Genüge tun und sonst nichts.43
Der Herausgeber und Übersetzer J.O. Plassmann merkt zu dieser Passage aus Hadewychs Briefen an: ,„Alle Dinge kraft ihrer selbst‘ – ,Gleiches mit Gleichem‘ geht über Aristoteles (Eth. Nic.1165 b 17 u. 1167,6) zurück auf Platon, schließlich bis zu Homer, Odyssee 17, 218 […]“.44 Daran anknüpfend schrieb ich gleiches mit gleichem:45
gleiches mit gleichem – abgeschwächt gleiches mit gleichem – erreichen
hartes mit nicht allzu weichem die patzer der ahnen anzumahnen […]
gleiches mit gleichem – abgekühlt gleiches mit gleichem – vermindern
lauwarmes mit aufgetauten leichen […] kann die alchemie des augenblicks im nu
gleiches mit gleichem – ergreifen gleiches mit gleichem – verhindern
härtere maßnahmen anzubahnen was betrieb aufhält, düsternis aufhellt
gleiches mit gleichem – erweichen gleiches mit gleichem – verunsichern
mit zarteren bandagen einzuseifen veruneinheitlichen, verändern auf du & du […]
Schwester Hadewychs „Alles mit Allem“ war mir zu schwammig, konkretisierend setzte ich alles für alle46 dagegen:
[…]
zeig dein gesicht, dunkelmann
spann sie das terzerol, junge frau
klammheimlich ändert man die eigentumsverhältnisse
nicht, sondern bei guter sicht mit voller wucht & rudolf rocker
die struktur unterm strumpf
entwickelt sich desto geistwärts
je tiefer die volksbildung brezelt
aaaaaalles für alle, & nicht zu knapp
aaaaaoder ich hol den automat
& zieh die trittbretttoten auf
wir sind die ultramarine frühschicht
der zinnoberroten zukunft – in & um neuruppin rum
alles für alle, & nicht zu knapp
ich hol schon mal den automat
aaaaaaaaaaaa ★
Fertig ist der Lack, wobei: „atman, ataman“ – „Halt ma’ die Luft an; Warlord!“
Bert Papenfuß, Abwärts! Nr. 17, November 2015
Erich Klein im Interview mit Jan Faktor: Was zählt, ist Lebensfreude
Jan Faktor präsentiert vom Kunstbüro Wilhelmsburg.
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