– Zu Paul Celans Gedicht „Psalm“ aus Paul Celan: Die Niemandsrose. –
PAUL CELAN
Psalm
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
Die Rose ist die vertikale Prozession.
Peter Handke1
Das wohl bekannteste Gedicht aus Paul Celans 1963 erschienenem Zyklus Die Niemandsrose ist das Gedicht „Psalm“.2 Einige Philologen übergehen die religiöse Dimension des Gedichts, die bereits durch den Titel angezeigt ist. Sie lesen das Gedicht als verschlüsseltes „Gespräch mit anderen Poetologien der 1960er Jahre“.3 Andere neigen dazu, das Gedicht in die tradierte Gebetsprache der Bibel einzurücken oder gar als Illustrationsbeispiel für Thesen zur Klagespiritualität heranzuziehen. Beide Verfahrensweisen übergehen die abgründige Herausforderung, die es für einen jüdischen Dichter im Pariser Exil darstellen musste, in der Sprache der Mörder seiner Mutter ein Gedicht zu schreiben, welches das unsagbare Leid zur Sprache bringt und sich zugleich an den unaussprechlichen Anderen wendet, der die Schreie und Klagen seines Volkes nicht erhört zu haben scheint.
„Wie sprechen“, wenn die Worte nicht ausreichen und die Sprache ideologisch korrumpiert und verbraucht ist?
Welches der Worte du sprichst – du dankst
dem Verderben.4
Das ist die eine Seite des poetischen Paradoxes, dem Celan sich ausgesetzt sieht. Die andere ist: Wie nicht sprechen, wenn das Unsagbare bezeugt sein muss und Schweigen Verrat wäre; wenn der Zeuge, der überlebt hat, für die sprechen muss, die nicht mehr sprechen können?
Wahr spricht,
wer Schatten spricht.5
Die Entzogenheit und Abwesenheit Gottes in Auschwitz konnte in der jüdischen Holocaust-Theologie als „Anti-Sinai“, als Widerruf des Bundes, ja als Offenbarung des Todes Gottes gedeutet werden (Richard Rubenstein).6 Celans „Psalm“, der sein Lob an „Niemand“ richtet, könnte in diesem Sinne als Absage an Gott gelesen werden. Aber weder ist Celan Theologe, noch knüpft das Gedicht nahtlos an die Gebetssprache Israels an. Celans „Psalm“ ist Gebet und Anti-Gebet zugleich. Es bringt die Unfassbarkeit eines schweigenden, sich versagenden Gottes ebenso ins Wort wie die Unfassbarkeit des jüdischen Leidens, das Emmanuel Lévinas einmal die „Passion der Passionen“ genannt hat. Celans „Psalm“, der stellvertretend für die Verstummten die Stimme erhebt, greift auf die jüdische Gebetssprache zurück, lässt in der letzten Strophe Motive der Passionsgeschichte Jesu anklingen, aber er verfremdet und bricht diese Motive, um die Verlorenheit der conditio judaica nach der Shoah zur Sprache zu bringen. Das Gedicht, von dem die Rede ist, lautet:
PSALM
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
„Die Psalmen sind das Gebetbuch Israels.“7 Von Dank, Lobpreis und Bitte bis hin zu Klage, Fluch und Schrei reicht die Ausdrucksskala dieser Gebete. Es verwundert daher kaum, dass auch im 20. Jahrhundert Dichter auf die Form der Psalmen zurückgegriffen haben, um ihre Erfahrungen in Sprache zu bringen und sie mit der Wirklichkeit zu konfrontieren, für die die religiöse Überlieferung den Namen „Herr“ bereithält. Allerdings gehört es zur Signatur zeitgenössischer Dichtung, dass nichts, was Gott betrifft – weder seine Existenz noch sein Wirken, geschweige denn die Nennung seines Namens – in ihr noch selbstverständlich ist. Sie situiert sich abseits der gängigen Religiosität, sucht nach eigenen, oft ungewohnten Wegen des Ausdrucks und arbeitet mit poetischen Mitteln der Verfremdung, mit paradoxen Wendungen und Negationen.
Neben Rainer Maria Rilke, Georg Trakt, Peter Huchel, Ingeborg Bachmann, Bertolt Brecht und Thomas Bernhard – um nur einige Namen zu nennen, die sich bis in die Gegenwart fortsetzen ließen8 – gehört Paul Celan zu den prominentesten Dichtern der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, die Beispiele für eine zum Gebet hinüberspielende Lyrik verfasst haben. „Tenebrae“, „Psalm“, „Benedicta“, aber auch andere Gedichte wären hier zu nennen. Das Gedicht „Psalm“ hat allerdings kontroverse Deutungen hervorgerufen. Umstritten ist, ob dieses Gedicht als ein „frommer Gesang“9 im Sinne der jüdischen Gebetstradition oder eher als poetisch gestalteter Atheismus zu deuten ist, der die Absage an Gott um der Menschwerdung des Menschen willen betreibt – eine Lesart, die im Gedicht einen religionskritischen oder sogar atheistischen Humanismus ausgesagt findet.10 Die provokante Anrufung Gottes als „Niemand“ scheint die Bezeichnung „Anti-Psalm“11 auf den ersten Blick zu rechtfertigen. Wie aber kann das Gedicht verstanden werden und auf welche Traditionen greift es zurück?
Mit der Überschrift „Psalm“ knüpft Celan an das vielstimmige Gespräch Israels mit seinem Gott an. Von der literarischen Gattung der Psalmen her ist ein Lied zu erwarten, dass Gott für die Werke seiner Schöpfung preist. Mit einem solchen Lobpreis kann sich die dialogische Geste der Anrufung Gottes verbinden.
Die Kantabilität, einst wichtiges Kriterium für die kultische Brauchbarkeit der Psalmen, bleibt bei Celan allerdings auffällig beeinträchtigt. Der Sprachfluss ist gebrochen. Das liegt neben den Zeilensprüngen auch an der Verknappung der Verse.12 Darüber hinaus ist der Doppelpunkt von retardierender Wirkung (vgl. Zeile 11): Er setzt die gewichtige Pause vor dem zentralen Wort von der „Nichts-, die / Niemandsrose“. Schließlich sind es die Wortneuprägungen, die einen automatisierten Lesevorgang verhindern – ich verweise nur auf die Komposita-Bildungen: „Nichtsrose“, „Niemandsrose“, „seelenhell“, „himmelswüst“ und „Purpurwort“. Dieser Rücknahme der Kantabilität des Gedichts entsprechen poetologische Aussagen, die Celan im Zusammenhang mit einer Umfrage der Librairie Flinker (Paris, 1958) formuliert hat. Dort heißt es über die Sprache der deutschen Lyrik nach 1945:
Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem „Schönen“, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also […] eine „grauere“ Sprache, die unter anderem auch ihre „Musikalität“ an einem anderen Ort angesiedelt lassen will, wo sie nichts mehr mit jenem „Wohlklang“ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. (GW Bd. III, S. 167)
Die Musikalität, die noch in Celans „Todesfuge“ greifbar ist, wird spätestens mit dem Gedicht „Engführung“ zurückgenommen, in dem sich ein Verweis auf den Psalmengesang findet:
Chöre, damals, die
Psalmen. Ho, ho-
sianna. (GW Bd. I, S. 203)13
Auch im Psalm dominiert eine eher gebrochene Sprechweise, die sich im Spätwerk Celans zu einer radikalen Ausdrucksverknappung steigern wird. Gleichwohl geht der Psalm-Ton wegen der poetischen Stilmittel (Wiederholungen, Parallelismus membrorum) nicht ganz verloren. Wie aber steht es mit der anderen, durch den Titel evozierten Erwartung, das Gedicht sei wesentlich bestimmt durch den Gestus einer Anrufung Gottes?
Schon das erste Wort durchkreuzt diese Erwartung: nicht Gott, niemand wird angeredet, oder genauer: nicht einmal angeredet, sondern als Subjekt der ersten Strophe eingeführt. Neben der Ersetzung Gottes durch das Indefinitpronomen niemand ist die Verfremdung des Genesis-Zitats augenfällig, die das biblische Gebot der Unantastbarkeit des Heiligen Textes verletzt.14 Während es in Gen 2,7 heißt: „Da formte [bildete, töpferte] Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies ihm den Lebensodem ein. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen“, sagt das Gedicht:
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unseren Staub.
Niemand.
Es hält an der biblischen Untergliederung des Schöpfungsvorgangs in zwei Phasen fest, deutet aber an, dass nach dem Schöpfungsakt eine offensichtlich unwiederbringliche Deformation der Geschöpfe stattgefunden hat. Nur vor dem Hintergrund einer Deformation ist die Klage möglich, dass eine Neuschöpfung ausbleibt und eine Restitution vermisst wird. Es ist denkbar, dass die zerbrochene Hoffnung auf Wiederherstellung sich gerade in der Deformation des Heiligen Textes poetisch niederschlägt. Die stärkste Deformation der Geschöpfe, gewissermaßen der Widerruf ihres Geschaffenseins, ist ihre Auslöschung, ihr Tod. „Niemand bespricht unseren Staub.“ Mit Staub ist biblisch die Vergänglichkeit der Kreatur angesprochen:
Du lässt die Sterblichen wiederkehren zum Staub. (Ps 90, 3; vgl. Ps 103,14; 104, 29; 146,4)
Die Wendung „unser Staub“ deutet allerdings an, dass das Gedicht nicht nur allgemein die Sterblichkeit des Menschen zum Ausdruck bringt, sondern auch und wohl vor allem stellvertretend im Namen von Toten spricht. Analog zu einigen Psalmen, die das kollektive Geschick des Volkes Israel besingen,15 wird hier die Erfahrung einer Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht, an der das Mahnwort: „Gedenke Mensch, dass du Staub bist und zu Staub zurückkehrst – Memento homo, quia pulvis es et in pulverem reverteris“ – wahr geworden ist. Der herkömmliche Standpunkt des Psalmisten verschiebt sich dadurch: Nicht wird über die Sterblichkeit der Menschen gesprochen, sondern die Toten selbst sind es, die eine Neuschöpfung einklagen.16 Die auffällige Umgestaltung der biblischen Vorlage – „Lebensodem einblasen“ wird durch „besprechen“ ersetzt – deutet ebenfalls darauf hin, dass hier auf eine nova creatio der Toten angespielt wird.17 „Besprechen“ kann nämlich in der jüdischen Tradition – man denke an die Golem-Sage – durchaus die Bedeutung annehmen:
etwas Totes wieder zum Leben erwecken.18
Bemerkenswert ist auch, dass das Wort „besprechen“ die performative Kraft der Sprache in den Mittelpunkt rückt, von der schon im Schöpfungsbericht die Rede ist.
Allerdings entsteht im „Psalm“ die Paradoxie, dass niemand als Akteur der erhofften Neuschöpfung eingeführt wird. Genauer: die Paradoxie entsteht erst dadurch, dass niemand in der zweiten Strophe groß geschrieben wird und durch Anrede den Status eines Namens erhält. So wird es möglich, hinter dem Indefinitpronomen niemand eine Person mit dem Namen Niemand zu sehen, der Tätigkeiten durchaus zugeschrieben werden können. Doch scheint die erste Strophe zunächst nichts anderes als das Ausbleiben jener Tätigkeiten zu registrieren: Keiner knetet, keiner bespricht. Die psalmodierende Art, mit der das niemand an exponierter Stelle wiederholt wird, und die Dynamik der Strophe, die auf die elliptische Reduktion der Ein-Wort-Zeile: Niemand zuläuft, bereiten allerdings den entscheidenden Umschlag der zweiten Strophe schon vor:
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.
„Gelobt seist du, Niemand.“ – mit diesem Anruf schlägt die Rede um in eine Benediktion – mit dem irritierenden Effekt, dass nicht Gott, sondern Niemand gelobt wird. In „Es war Erde in ihnen“ heißt es ja:
Und sie lobten nicht Gott,
der so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wusste (GW Bd. I, S. 211).
Allerdings findet sich im selben Gedicht wenig später auch eine Sequenz von Anrufungen, die auf die Evokation eines „Du“ zulaufen:
O einer, o keiner, o niemand, o du.
Im „Psalm“ nun erhält das Indefinitpronomen – durch Großschreibung kenntlich gemacht – die Würde eines Namens.19 Ein Name freilich, dem der Index des Unbestimmten, möglicherweise Unbestimmbaren eingeschrieben ist. Ein Name auch, dem das Indefinite als definitives Moment mitgegeben ist. Ein Name schließlich, der den Zweifel des Rufenden an der Existenz seines Adressaten widerspiegelt und dadurch die im jüdischen Gebet geläufige Berakha-Formel von Grund auf verfremdet.20
Wie aber kann die Rede vom ,Niemand‘, die innerhalb des Gedichtzyklus’ an verschiedenen Stellen auftaucht,21 gelesen werden? Man könnte an das jüdische Verbot erinnern, den heiligen Gottesnamen auszusprechen, um ihn vor ideologischer Vereinnahmung oder magischem Missbrauch zu bewahren (vgl. Dtn 5,11). Insofern könnte in der poetischen Aussparung des Gottesnamens in Celans „Psalm“ wohl auch ein Akt der Weigerung liegen, den Heiligen Namen möglichen Instrumentalisierungen auszusetzen. Ginge man davon aus, Niemand sei eine Chiffre für das unaussprechliche Tetragramm22 – bildlich gesprochen: der Mantel, hinter dem sich der Ewige Israels verbirgt –, dann handelte es sich um einen geradezu hymnischen Anruf an ein göttliches Du, dessen Gegenwart radikal entzogen ist, ja der die Zusage der Begleitung möglicherweise zurückgenommen hat. Eine solche Lesart würde aber vielleicht doch zu schnell über die Verstörung hinweggehen, die in der überraschenden Anrede von Gott als Niemand liegt. Klaus Reichert hat in diesem Zusammenhang an ein Gedicht von William Blake erinnert, in dem Gott sarkastisch als „Nobodaddy“ angesprochen und mit der anklagenden Rückfrage konfrontiert wird:
Why art thou silent & invisible,
Father of Jealasy,
Why dost thou hide thyself in clouds
From every searching Eye?23
Das Vertrauensverhältnis zu Gott, dem Vater, das sich in der Abba-Anrede Jesu verdichtet, wird durch das „Nobodaddy“ mit dem Index der Verneinung versehen. Verwiesen wird auf das Schweigen, die Unsichtbarkeit, den Rückzug in die Wolken. Auf dieser Linie einer Theologie der Abwesenheit könnte auch Celans Psalm gelesen werden, ja man könnte die Negation des Vatergottes als poetische Blasphemie lesen. Denn wird nicht gerade dadurch, dass „Niemand“ an die Stelle des Heiligen Namens tritt, eine Rücknahme Gottes vorgenommen? Wird nicht dem verlässlichen Bundes-Gott der Exodus-Tradition ein abwesender, sich verweigernder deus absconditus entgegengesetzt? Der mitwandernden Gegenwart in der Wolkensäule bei Tag und der Feuersäule bei Nacht das unverständliche Sich-Entziehen des Heiligen, die „Rauchsäule Gott“?24
Aber eine solche Deutung, die in der Negation den Beweis für die Nichtexistenz Gottes sieht, übergeht den Ernst, der im Anruf des ,Niemand‘ als ,Du‘ anklingt. „Sich an Niemand richten“ – so Jacques Derrida – „heißt nicht dasselbe wie, sich an niemanden wenden. Zu Niemand sprechen, jedes Mal und jedes Mal auf einzigartige Weise, mit dem Risiko, dass es da niemanden gibt, der gesegnet werden könnte, niemanden, der segnen könnte – ist das nicht die einzige Möglichkeit für eine Segnung? Für einen Akt des Glaubens? Was wäre eine Segnung, die sich ihrer selbst sicher wäre?“25
Diese mit Negationen angereicherte Sprache, die sich auch in Celans „Gespräch im Gebirg“ findet, ist keineswegs ohne Vorläufer. Die Mystik sowohl der jüdischen als auch der christlichen Tradition scheut sich nicht, Gott als „Nichts“ zu bezeichnen. „Es ist allgemein bekannt“, bemerkt Gershom Scholem in seinem dem Andenken Walter Benjamins gewidmeten Hauptwerk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, „es ist allgemein bekannt, dass die Beschreibungen der Mystiker von ihren Erlebnissen und von der Welt der Gottheit, in die sie sich versenken, von Paradoxen jeder Art und Gattung strotzen. Es ist keineswegs das verächtlichste dieser Paradoxe – um nur ein Beispiel anzuführen, das jüdische und christliche Mystiker in gleicher Weise gebraucht haben –, wenn Gott als das mystische Nichts bezeichnet wird.“26 Diese Beobachtung legt nahe, dass Interpretationen wohl doch zu kurz greifen, die im Gedichtzyklus Die Niemandsrose eine „Anti-Bibel“ sehen wollen, in der die Absage an Gott zugunsten einer Menschwerdung des Menschen poetisch verwirklicht wird.27 Angesichts der für das Gedicht konstitutiven Schwebe zwischen Verneinung und Bejahung,28 angesichts der Unentschiedenheit hinsichtlich der Frage, ob das angerufene Du existiert oder nicht, bleibt zunächst unentscheidbar, ob „Niemand“ wirklich niemand ist. Weder programmatisch atheistisch noch ungebrochen gläubig, und darin sowohl dem Zweifel des Angefochtenen an seinem Zweifel wie dem Zweifel des Gläubigen an seinem Glauben Rechnung tragend, ist Celans „Psalm“ Zeugnis eines Ringens, das durch das paradoxe Zugleich von Zweifel und Glaube einen Raum der Offenheit schafft, in dem sich die „Unmöglichkeit“ einer Begegnung mit dem ganz Anderen vielleicht doch ereignen könnte.
Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die Niemandsrose.
Hier verstärkt sich die paradoxe Spannung: Das sprechende „Wir“ setzt sich einem „Nichts“ gleich, obwohl es doch in der Bekundung, blühen zu wollen, seine Existenz bereits vorausgesetzt hatte. Denn nur von dem, der nicht nichts ist, kann etwas ausgehen. Das Motiv der „Toten / die knospen und blühen“ klingt bereits im Gedicht „Auge der Zeit“ an (GW Bd. I, S. 127). Der „Psalm“ spricht im Namen der Toten, die sich mit dem Nichts identifizieren. Die Nichtigkeit als Vorzeichen der kreatürlichen Existenz findet sich bereits im Psalter (Ps 39,12; 144,4) und wird dort vor allem auf die Vergänglichkeit des Menschen bezogen (vgl. Ps 49; 90). In Celans „Psalm“ wird die Nichtigkeit auf alle Zeitdimensionen ausgedehnt. Vor der Schöpfung waren wir nichts, als Lebende sind wir nichts und auch als Tote werden wir nichts bleiben, wenn uns niemand in Erinnerung hält. Anders als die großartige Vision des Ezechiel von der Wiederbelebung des Gräberfelds, ein Bild für die Restitution der Toten (vgl. Ez 37), erstreckt sich die Nichtigkeit29 bei Celan unverändert über alle Dimensionen der Zeit und wird in dem präsentischen Partizip „blühend“ noch einmal zusammengefasst.30 Doch dass hier die Nichtigkeit des Menschen nicht allgemein als eine anthropologische Konstante festgeschrieben wird, sondern den Opfern des jüdischen Volkes gilt, bezeugt das innovative Doppelwort „Niemandsrose“, das als Chiffre für die Identität des jüdischen Volkes gelesen werden muss.31 Die Gemeinde Israel wird seit jeher durch das Bild der Rose symbolisch repräsentiert. Schon beim Propheten Hosea ist davon die Rede, dass Israel blühen solle, manche sagen wie eine „Rose“, doch wörtlich übersetzt wie eine „Lilie“ (Hos 14,6) – ebenso findet sich im Buch Jesus Sirach die Stelle: „Hört mich, ihr frommen Söhne, und ihr werdet sprossen wie eine Rose, gepflanzt an Wasserbächen“ (Sir 39, 13: ῥόδον, vgl. Weish 2,8). Das Buch Levitikus beschreibt das Ritual der Einsetzung der Priester, die als Mittler zwischen dem Volk und Gott fungieren, auch hier taucht das Symbol der Rose auf, wenn es heißt: „Dann setzte er [sc. Mose] ihm den Turban auf und befestigte an der Vorderseite des Turbans die goldene Rosette, das heilige Diadem“ (Lev 8,9). Doch das Geschick der ,Rose‘ Israel ist in der Geschichte von Disteln umrankt. Die „Kelche / der großen Ghetto-Rose“ (GW Bd. I, S. 273) stehen voll mit Blut – wie es an anderer Stelle in der Niemandsrose heißt.
Celans „Psalm“ verändert die biblische Vorstellung des Verhältnisses von Gott und Mensch. In der Bibel kommt Gott dem Menschen entgegen, und als Hörer des göttlichen Wortes empfängt der Mensch bzw. Israel seine Identität in der Verheißung, wie eine Rose zu sprossen. Nicht so bei Celan: hier kommt die Rose Gott entgegen; die Aktivität verschiebt sich von Gott weg auf die Initiative Israels, wobei die Zweideutigkeit des „Dir entgegen“ zu berücksichtigen ist: die Rose blüht nicht einfach ,auf dich zu‘, sondern ebenso in entgegen-gesetzter Richtung ,von dir weg und dir zum Trotz‘, ja möglicherweise spiegelt die Ambiguität dieser Wendung die Erfahrung, dass in der Klage über die Entzogenheit erneut eine Annäherung möglich wird.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
In der letzten Strophe des Gedichts verlangsamt sich das Sprechtempo. Behutsam wird eine schwer dechiffrierbare Anatomie der Niemandsrose aufgeführt: „Griffel“ (der weibliche Träger der Narbe), „Staubfaden“ (der männliche Träger des Staubbeutels), „Krone“ und „Dorn“. Allerdings bleibt es nicht bei einer botanischen Analyse: Die einander entsprechenden Bestandteile Griffel und Staubfaden, die Träger der Fortpflanzungsorgane, könnten auf neues Leben verweisen und die von Skepsis durchsetzte Hoffnung auf eine Restitution der Toten andeuten. Allerdings werden sie mit Attributen versehen, deren Aufschlüsselung schwierig ist.32 Wenn mit „Griffel“ auch auf das Schreibinstrument des Dichters angespielt wird (vgl. Ps 45,2: „der Griffel des flinken Schreibers“),33 und die Rede vom „Staubfaden“ auf den „Staub“ rückverweist, der besprochen werden müsste, um wieder leben zu können, dann ist damit der für Celans Dichtung wesentliche Zusammenhang von Dichtung und Totengedenken bezeichnet. Die Schrift ist Inbegriff jüdischer Tradition, und das Festhalten an ihr garantiert den Fortbestand der religiösen Überlieferung Israels auch in Zeiten des Exils und der Diaspora. Angesichts der Vernichtung, die das Wort „Staub“ zum Ausdruck bringt, wird die Schrift zum Medium des Widerstands gegen drohenden Gedächtnisverlust. Wie allerdings die Attribute „seelenhell“ und „himmelswüst“ gedeutet werden können, bleibt zunächst offen.
Möglicherweise kann hier der Rückgriff auf die kabbalistische Konzeption der Schechina und deren Symbolik der Rose weiterhelfen. In den Arbeiten Gershom Scholems, die Paul Celan nachweislich gut gekannt hat,34 finden sich Motive, die den Blick für Celans Behandlung des Rosenmotivs schärfen können.35 Ohne hier das Vergleichsmaterial detailliert auszubreiten, seien drei wesentliche Momente festgehalten:
Nach Scholem wird die Schechina ursprünglich verstanden als „Personifikation […] der Einwohnung oder Anwesenheit Gottes in der Welt“.36 In der Kabbala erfährt die Schechina allerdings eine Umdeutung im Zusammenhang mit der Unterscheidung von En-sof – der Gottheit in ihrem verborgenen An-sich – und den Sefiroth – den Kräften und Potenzen, in denen sich der Prozess des schöpferischen und welterhaltenden Wirkens Gottes realisiert. Innerhalb der Ordnung der zehn Sefiroth, die jeweils eine der Seiten Gottes repräsentieren, erhält die Schechina die Rolle der zehnten und letzten Sefira, die ausdrücklich als weiblich qualifiziert wird. Diese Hervorhebung ihres weiblichen Charakters ist nach Scholem das entscheidende Moment der kabbalistischen Umdeutung, und zwar deshalb, weil es die Voraussetzung dafür schafft, die Schechina mit der Gemeinde Israels zu identifizieren.
Diese Gemeinde Israels, die im Sinne der allegorischen Ausdeutung des Hohen Liedes als durch den Bund Gott ehelich anverlobt gedacht ist, wird durch die Identifizierung mit der Schechina zu einer Art mystischen Leib Gottes. Ein beliebtes Symbol aber für die Gegenwart der schöpferischen Kraft Gottes und als Gemeinde Israels ist nun die Rose! Aber auch als Krone (!) wird sie bezeichnet […]37
Die kabbalistische Lehre von der durch Rose und Krone symbolisierten Schechina wird noch weiter ausdifferenziert durch die Unterscheidung einer unteren und einer oberen Schechina. Als obere repräsentiert sie als ewige Gegenwart die Sphäre der Erlösung; zu ihr kehrt alles zurück, was von ihr ihren Ausgang nahm. Als untere ist sie in der Schöpfung präsent als erlösungwirkende Potenz. Aufschlussreich ist, dass in dieser Konzeption einer sich doppelt ausfaltenden Schechina der Sexualsymbolik zur Verdeutlichung des Einigungsgeschehens eine wichtige Rolle zukommt. Scholem merkt dazu an:
Man kann es in der Tat kaum für zufällig halten, dass die ersten Zeilen des Sohar (d.i. die Bibel der Kabbalisten) gleich mit einer ausgesprochenen Sexualsymbolik über die Befruchtung der Rose, eines beliebten Symbols der Schechina beginnen, und von hier an setzt sich das bis zum Ende fort.38
Es lässt sich demnach festhalten: Die Schechina wird mit der Gemeinde Israel identifiziert, und diese Identifikation wird im Symbol der Rose zum Ausdruck gebracht.
Darüber hinaus ist bedeutsam, dass an den Stellen im Buch Sohar, wo es um die Vereinigung der unteren mit der oberen Schechina geht, eine Verschiebung der Aktivität von Gott weg hin zum Menschen zu beobachten ist. Nach Scholem ist „immer wieder als allgemeines Prinzip davon die Rede […], dass alles Obere der Anregung durch den Impetus des Unteren, der menschlichen Handlung bedürfe. Dies wird im Sohar immer mehr dahin verstanden, dass die Gottheit nur dann nach unten wirkt, wenn ihre Kräfte durch die von den menschlichen Aktionen ausgehenden Anregungen zum Erwachen und zur Aktivierung gebracht werden.“39 Die in den Zeilen „Dir zulieb wollen / wir blühen. / Dir / entgegen.“ angelegte Akzentuierung der Eigeninitiative des Menschen könnte von daher verstanden werden. Die Kabbala thematisiert die Vereinigung der Schechina (also des Volkes Israel) mit dem En-Sof (d.i. die Gottheit in ihrem verborgenen Ansich) im Bild der Befruchtung der Rose.
Schließlich gibt es das Motiv der dämonisch zerstörenden Macht, die der Vereinigung entgegenwirkt.
An vielen Stellen des Sohar […] gerät die Schechina unter die Macht der anderen Seite, der sie es ermöglicht, in sie einzudringen und sich, mit für Israel und die Welt zerstörenden Folgen, an ihr festzusetzen. Dies mag wohl durch ihre Schwäche und Hilflosigkeit verursacht sein, wenn ihr der Impetus fehlt, den die guten Taten hervorrufen, aber auch dadurch, dass Kräfte, in ihr zur Vorherrschaft kommen, die eben ihrer Natur nach als strafende Gewalt eine Affinität zur anderen Seite haben. Nun dringt die Finsternis in sie ein, überwältigt sie und sie selbst wird finster und zerstörend. So ist sie auch die Rose, die von Dornen und Disteln umgeben ist, die eben jene Kräfte des Dämonischen sind, die sie gefangen halten.40
Die Vereinigung der Schechina mit Gott wird demnach empfindlich gestört durch Bedrohungen von außen; in der Symbolsprache: die Rose ist von Disteln umgeben.
Nach der Shoah erhält die Behandlung des Rosenmotivs im „Psalm“ einen besonderen zeitlichen Index. Das Gedicht spricht im Namen der Toten und identifiziert sie mit der Rose, dem Bild für Israel. Im Schicksal von Verschleppung und Vernichtung spiegelt sich – in kabbalistischer Sicht – zugleich das Geschick der exilierten Schechina, der israelzugewandten Seite Gottes. „Immer wenn die Israeliten geknechtet wurden“, heißt es im Exodus-Kommentar Mekhilta deRabbi Yischmael, „wurde die Schekhina – wenn man so kühn reden darf – zusammen mit ihnen geknechtet. […] Und wenn die Israeliten am Ende der Tage zurückkehren werden, wird auch die Schekhina mit ihnen aus dem Exil zurückkehren.“41 Lässt sich aber die Katastrophe der Shoah als Einigung der exilierten Schechina mit dem verborgenen Wesen des Höchsten, dem En-Sof, deuten? Zunächst kann man an die gläubigen Juden denken, die auch unter extremsten Lagerbedingungen nicht aufgehört haben, den Psalter zu singen, und die mit dem Schma Jisrael auf den Lippen in den Tod gingen (vgl. Dtn 6, 4–9). Ihre Gebete richteten sich trotz der erlittenen Verborgenheit Gottes an Gott. Sie sprachen Lob, Dank, Klage und Bitte „angesichts des Dorns“. Im „Psalm“ aber heißt es: sie sangen „über, o über / dem Dorn“. Ist damit eine Einigung der Toten mit dem gestaltlosen Gott angedeutet, die sich durch das Feuer der Vernichtung hindurch und jenseits der Dornen ereignet?
Eine solche Vorstellung mag gewagt erscheinen, aber sie ist von jüdischen Dichtern ganz unumwunden zum Ausdruck gebracht worden. So lautet ein spätes Gedicht von Nelly Sachs, das sich in einer gewissen Nachbarschaft zu Celans „Psalm“ bewegt:
NACHT DER NÄCHTE
Die Nacht war ein Sarg aus schwarzem Feuer
Die roten Amenfarben der Gebete
bestatteten sich darin
In diesem Purpur wurzelten Zähne – Haare – und der Leib
ein geschüttelter Baum im Geisterwind
Hellgesichtig – dieser Eintags-Cherub
zündete sich an
Die Flammen im Adernetz
liefen alle ihre Deutung zu
In der Auferstehungsasche spielte Musik.42
Auch wenn Celans „Psalm“ und seine Dichtung überhaupt eine weniger direkte Sprache sprechen, so lassen sich in der Niemandsrose doch Spuren finden, die in eine ähnliche Richtung weisen. In dem Gedicht „Chymisch“, das schon vom Titel her auf eine Substanzverwandlung anspielt, wird die Schechina als „Schwestergestalt“ bezeichnet und mit den „verbrannten Namen“ in eins gesetzt. Von Asche ist die Rede, von gewonnenem Land über den „leichten Seelenringen“; die Krone, Attribut der Schechina, wird zur Luftkrone, deren Spuren sich verflüchtigen und ins Nichts auflösen („Fährten- / lose“):
[…]
Große, graue,
wie alles Verlorenen nahe
Schwestergestalt:
Alle die Namen, alle die mit-
verbrannten Namen. Soviel
zu segnende Asche. Soviel
gewonnenes Land
über den leichten, so leichten
Seelenringen.
Große. Graue. Schlacken-
lose. […]
Finger, rauchdünn. Wie Kronen, Luftkronen
um – –
Große. Graue. Fährten-
lose.
König-
liche. („Chymisch“, GW Bd. I, S. 227f.)
Im „Psalm“ wird durch die Worte „Krone“ und „Purpur“ an die Würde der Leidenden erinnert. Die Attribute des königlichen Messias werden auf die Opfer übertragen, und die Trennung „König-/ liche“ in „Chymisch“ deutet an, dass es Tote (Lîchen = mhd. Leichen) sind, denen die Ehre des Majestätischen zugesprochen wird. In den Motiven „Krone“ und „Purpur“ klingt zudem deutlich vernehmbar eine Assoziation an die blutige Dornenkrone Jesu an, von der in den Evangelien die Rede ist;43 allerdings verändert Celan die neutestamentliche Vorlage. Der königliche Purpurmantel, den die Soldaten dem (aus jüdischer Sicht) gescheiterten Messiasprätendenten zum Gespött um die Schultern legen, wird poetisch umgestaltet zum Purpurwort.44 Ob mit dieser Transformation die Erinnerung an den Todesschrei des Gekreuzigten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2) beabsichtigt ist, muss offen bleiben.45 Fest steht lediglich, dass das Purpurwort nicht geschrien, sondern „gesungen“ wird. Auch an anderer Stelle taucht das Motiv auf, so im Gedicht „Bei Wein und Verlorenheit“ (GW Bd. I, S. 213):
Ich ritt Gott in die Ferne, die Nähe, er sang,
es war
unser letzter Ritt über
die Menschen-Hürden.
– und später im Gedicht „Königswut“ aus dem Gedichtband Atemwende heißt es (GW Bd. II, S. 81):
Hengste
psalmhufig, hinsingend über
auf,- auf,- auf,-
geblättertes Bibelgebirg.
Der Gesang klingt im „Psalm“ geradezu hymnisch „über, o über dem Dorn“ aus. Ein Gesang über dem Dorn? Ist dieser Gesang die „Musik“, die „in der Auferstehungsasche“46 (Nelly Sachs) spielt?
Brechen wir die Lektüre an dieser Stelle ab und halten inne. Paul Celans „Psalm“ führt an Grenzen. Das negative Mysterium jüdischen Leidens und das dunkle Geheimnis der radikalen Entzogenheit Gottes werden hier an der Schwelle zur Sprachlosigkeit zur Sprache gebracht. Die überlieferte Berakha-Formel: „Gelobt seist du, Ewiger“ wird durch die Anrufung, die sich an „Niemand“ wendet, poetisch verfremdet und gebrochen. Erhält das Gedicht dadurch den Status einer Klage oder wird hier im Gewand eines Psalms sogar eine dezidierte Absage an den Gott Israels vollzogen? Das Eröffnungsgedicht „Es war Erde in ihnen“ scheint eine solche Deutung zu bestätigen. Auch hier wird mit dem Parallelismus membrorum ein gängiges Stilmittel der Psalmen aufgenommen und die Lobverweigerung gewissermaßen im Modus doxologischen Sprechens vorgetragen. Auch wenn die Vorstellung eines allmächtigen und allwissenden Gottes, der dem Leiden apathisch gegenübersteht, abgelehnt wird, kommt es doch nicht zu einem totalen Kommunikationsabbruch. Gerade im „Psalm“ wird dem Sprechen durch die Anrede eines „Du“ Richtung gegeben und man kann in dem Namen „Niemand“ ein spätes Echo der biblischen Namensoffenbarung am brennenden Dornbusch erkennen, selbst dann, wenn unsicher bleibt, ob der Adressat der Anrufung überhaupt existiert oder nicht allererst im Akt der Anrufung konstituiert wird. Das Schweigen Gottes in Auschwitz führt auch das Sprechen an den Rand des Verstummens. So kann abschließend mit George Steiner gesagt werden, ohne mit Celans „Psalm“ zu einem Abschluss gekommen zu sein:
Celan hat Auschwitz in einen Psalm eingeschrieben, der gleichzeitig ein ,Anti-Psalm‘ ist […] Der Jude in der Shoah spricht zu und gegen Gott, einen nicht sprechenden, nichts sagenden Gott. Solange Juden zu Gott reden, muss er zuhören. Es mag sein, dass jenes erzwungene Zuhören in dem Auschwitz-Universum zu dem dünnen Band, dem ,Staubfaden‘, wurde, an dem die Existenz und das Überleben Gottes in einem Himmel, in einem Kosmos, hängt, der zerstört ist (,himmelswüst‘). Wenn man sagt, dass in der Passion Christi ein göttlichen Wesen, Sohn Gottes und der Menschen für die Menschen gestorben ist, so kann man auch sehen und sagen, dass in der Shoah das jüdische Volk […] für Gott gestorben ist, dass es die unvorstellbare Schuld Gottes, seine Gleichgültigkeit, Abwesenheit oder seine Ohnmacht auf sich genommen hat.47
Jan-Heiner Tück, aus Jan-Heiner Tück: Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation, Herder Verlag, 2020
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