Jan Koneffke: Zu Jan Koneffkes Gedicht „Mitbewohner Wilhelmstraße“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jan Koneffkes Gedicht „Mitbewohner Wilhelmstraße“ aus Jan Koneffke: Was rauchte ich Schwaden zum Mond.

 

 

 

 

JAN KONEFFKE

Mitbewohner Wilhelmstraße

Beneidenswert wer
einen Zementmischer in seiner Wand fand
Weltalter haltende Bierdosen
und keine Leiche in diesen
Betonschachteln er klopfte an
sein ewig behindertes Bein
hinkte in unseren Traum
seine Radioschnauze
stieß an unsere Ohren er
lebte als Schimmel im Bettzeug
pochte im Rohr kam
aus Abfluß und Abfallkorb Schaum
knirschte in Strippen als
Kauderwelsch redete er
wenn wir redeten mit keine
Ritze in der er nicht nistete wir
begegneten zahnlosen Monstern
mit Wachturm im Auge
in Ehren erblindeten Grenzhunden
am Gattinnenarm und in seiner
Begleitung der zischelte
weinerlich war nie bestechlich
nicht zu beseitigen mit
keinem Staubsauger Essigessenzen Herr
mausgrauer Leutseligkeit er
vermehrte sich Tag um Tag
lauernder heimlicher feuchter ansteckender
Haß

 

Das Erfahrungs-Material

Am 9. November ’91, exakt zwei Jahre nach dem Fall der Mauer, bezog ich in einem Ostberliner Plattenbau Quartier. Die Arbeiten an dem Wohnviertel waren zu einem Zeitpunkt begonnen worden, als die DDR schon in Agonie lag, Mitte der 80er Jahre. Es war eine pikante Entscheidung, wenige Meter von der Mauer entfernt, eine Siedlung zu errichten. Natürlich konnte die Wohnungszuweisung nur an Parteimitglieder, an staatstreue Kommunisten erfolgen. Denn hier in der Otto-Grothewohl-Straße, zwischen Reichstag und Potsdamer Platz, hatte man die doppelte Mauer vor Augen, die Innen- und Außenmauer des „antifaschistischen Schutzwalls“, wie ihn die Staatspropaganda bezeichnete, und das Niemandsland zwischen den beiden Mauern, auf denen die Wachen Patrouille fuhren. Damit auf dem Streifen kein Gras wächst, der die Kontrolle erschweren könnte, war er mit Chemikalien gedüngt. Ja, der Boden war so vollgepumpt mit Chemie, daß noch in ’94, 5 Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR, das Gras nur sehr spärlich sproß.
Erst ein Teil der Siedlung war fertiggestellt, als die DDR kollabierte. Aber in einen Aufgang der schon bestehenden Häuser zogen verschreckte Staats- und Parteifunktionäre ein. Hastig versuchten sie sich den Angriffen zu entziehen, die Presse und Fernsehen, mittlerweile nicht mehr zensiert, gegen die Privilegienherrschaft der kommunistischen Führer richtete. Vor allem das Luxusdorf Wandlitz, das selber von einer Mauer umgeben war, in dem die Nomenklatura sich heimlich ein besseres Leben erlaubt hatte, als sie es dem Volk je zu bieten verstand, entfachte den Zorn der Menschen. Also flohen die verängstigten Machthaber aus Wandlitz und machten sich in einem Plattenbau klein. So wohnten sie alle in einem Aufgang, der SED-Parteichef Berlins Schabowski, der Leiter der Ideologiekommission des Politbüros Hager, der Kulturminister Hans Joachim Hoffmann und andere mehr. In einem anderen Aufgang, der erst ’91 fertig wurde, lebte bald die neue Herrschaft, von bewaffneten Männern mit schnarrenden Sprechfunkgeräten bewacht, die mich nachts häufig aus meinem Schlaf rissen: Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth, Umweltministerin Angela Merkel, und zwischen den beiden Mietparteien der Theaterschriftsteller Rolf Hochhuth. Aus shakespearehafter Nähe konnte ich Aufstieg und Fall der Macht bestaunen. Hier die verwirrten, unruhigen Blicke der entmachteten, alten Herren und dort die gespreizte Verhaltensweise von Leuten, die sich für bedeutend halten. Aber das war bei weitem nicht die einzige Beobachtung, die mich zweifeln ließ an meinem Wirklichkeitssinn.
Schon wenige Monate später beschloß die bürgerbewegte Bezirksversammlung Mitte, der Otto-Grothewohl-Straße einen anderen Namen zu verleihen: Toleranzstraße. Die ahnungslosen Ost-Berliner waren der irrigen Auffassung, Toleranz bedeute halt Toleranz. Den westlichen Medien in der Stadt war das ein willkommener Anlaß, über die Tölpel der anderen Stadthälfte herzuziehen. Genüßlich erklärten die Kommentatoren den Brüdern und Schwestern, was „Toleranzzone“ in der freien Welt bedeutet: daß dort die Prostitution erlaubt ist. Tatsächlich diente die kleine Kampagne einem ganz anderen Zweck, nämlich der Durchsetzung des ursprünglichen Straßennamens: Wilhelmstraße. In dieser Straße hatte sich zu Zeiten der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus die Regierungszentrale befunden. Der Plattenbau, den ich bewohnte, stand exakt auf dem Gelände des früheren Reichspräsidentenpalais. Vielleicht hundert Meter entfernt war Adolf Hitler im Januar ’33 in die Reichskanzlei eingezogen. Wiederum zweihundert Meter weiter erhob sich das protzige Ministerium des Reichsluftfahrtministers Herrmann Göring. Es stand noch immer, das Luftschloß aus Stein, hatte der DDR gedient, dem Lügner Walter Ulbricht, der in diesen Hallen verkündet hatte – wenige Monate vor dem Bau der Mauer – niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten, und diente in der ersten Hälfte der 9oer Jahre der Treuhand. Wiederum hundert Meter entfernt hatte sich das Prinz-Albrecht-Palais befunden, das Hauptquartier der Gestapo. In seinen Kellern hatte man Gefangene gefoltert und ermordet, in seinen Büros den Organisationsplan der „Endlösung“ ausgearbeitet.
Mit dem Fall der Mauer war Berlin aus seinem Dornröschenschlaf der achtziger Jahre erwacht. Die Geschichte meldete sich zurück. Sie klopfte an die Tür der Betonschachtel, in der ich Quartier bezogen hatte. Ich lebte auf dem Gelände des Reichspräsidenten, des Reichsmarschalls Hindenburg, zwischen verschwundener Mauer, verschwundener Reichskanzlei und im Erdreich verborgenem Führerbunker, in einem Gespensterreich.
Von meinem Schreibtisch aus sah ich auf den spärlich bewachsenen Grenzstreifen und schaute den beiden Türken zu, die ihre Teppiche ausrollten, um gegen Mekka zu beten. Jeden Mittag kamen sie ins ehemalige Niemandsland vom Pariser Platz vorm Brandenburger Tor, wo sie an Tapeziertischen sozialistische Devotionalien feilboten, DDR-Wimpel, Blauhemden, Mauerstücke und SED-Parteiabzeichen. Im Sommer errichtete man auf dem Streifen Palisadenzäune aus Holz, die eine mittelalterliche Stadtbefestigung abgeben sollten. Wo vor dreißig Monaten Grenzsoldaten Patrouille geschoben hatten, bewaffnet, mit scharfer Munition, und jederzeit bereit zu schießen, wurde mit Feuerschluckern und Hexenverbrennungen pünktlich um zehn Uhr nachts – ich hörte die Schreie der Hexen bis an meinen Schreibtisch – ein Mittelalterspektakel veranstaltet. So kehrte die Geschichte in doppelter Weise zurück: als elende deutsche Vergangenheit, und als Spektakel, bizarre Schrumpfform.
Die Geschichte des jungen Berlin war eine Geschichte der Katastrophen gewesen. Von der Novemberrevolution nach dem Ersten Weltkrieg, der Inflationszeit, bis zu der Krise von ’29, von Hitlers Machtergreifung bis zu den Luftangriffen der 4oer Jahre, der Blockade, dem Aufstand von ’53 bis zum Mauerbau acht Jahre später. Jahrzehntelang hatte die Propaganda des Hasses das Klima der Stadt bestimmt. Das brüllende Radio, die heiseren Lautsprecherstimmen in den Köpfen waren nicht verstummt. Das Unbewußte grollte in der Erde, den Eingeweiden des Ortes.

Die Erfahrung des Gedichts

Das Gedicht ist nicht, wie die gängige Vorstellung will, die Verdichtung des Materials. Statt seiner summierenden Nach-Erzählung wird das Material auf den Nenner der Sprache gebracht, der nicht mit der Zahl zu verwechseln ist, die unter dem Bruchstrich erscheint. Die Rede von der Verdichtung folgt letztlich einer quantifizierenden Vorstellung. Der Nenner der Sprache erinnert von fern an die Zahl, doch ist er im Innersten mit dem Nennen und Benennen verwandt. Er gibt seinem Material einen Namen, mit dem es aus der (semantischen) Allgemeinheit seiner Beschreibungen ausbricht und zum Besonderen, zum Individuum wird. Als Individuum lebt das Gedicht im Widerspruch zwischen Ver-Einzelung, Isolation und seiner inneren Unteilbarkeit. Das Gedicht ist – im besten Fall – unteilbar. Seine individuelle Erfahrung spricht es nicht zwischen den Zeilen aus, sondern durch seine Zeichen und Zeilen hindurch. Das Gedicht sagt sich selber seine Erfahrung vor.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00