DIE LINKE HAND DER DUNKELHEIT
wieder alles
anders ich spring aus dem zug
die nacht ist klar
zwölf elf
wieder schneit es
alles entweder oder
zehn neun acht ich halte
die karte dran wieder alles alles sieben
sechs ja hotelzimmer
cuba libre gitarren evangelium
morgenstern auf dem bildschirm
ja fünf vier login passwort
wieder alles anders
ich spring aus dem zug wieder mit neuer
identität neuem rhythmus
neuem ypakoé
Übersetzung: Jana Krötzsch
sie sagen eine bessere welt hat noch nie jemand erfunden also
lauf lieber nicht langsamer vergiss nicht
die spannungspunkte zu beobachten an
wichtigen orten wird gebetet
(…) trag dir schwarze farbe
auf die haare als
zeichen
Mit Bedacht betritt Jan Škrob die Bühne. Komplett in schwarz. Er stellt sich hin, blickt kurz in den Raum, zieht das Mikro ein Stück zu sich heran und liest. Nein, proklamiert, donnert mit dem Gestus einer Rapper*in und der Stimme einer prophetischen Schaman*in. Die Arme ständig in Bewegung entfaltet er vor unseren Augen dystopische, ja geradezu apokalyptische Landschaften – „eine landschaft mit heide und draht überall natodraht“. Im rasanten Tempo strömen Jan Škrobs Enjambements auf uns zu – seine Beschwörung, sein Aufruf zur Revolte, sein Gebet und Liebeslied. Und wir hängen ihm an den Lippen, wissend, dass wir schon längst mittendrin sind. In einem Raum, in dem Apokalypse, Mythos, Computerspiel, Vision und Wirklichkeit miteinander verschwimmen; denn es ist unsere Realität, umzäunt vom Natodraht, und wir steuern den Eingang zum nächsten Level an.
Radikal empfindsam reflektiert Jan Škrob die Lage der Welt, die es zu verändern gilt, die er verändern will. Doch es geht hier nicht um die einst hitzig diskutierte Frage nach der Engagiertheit der Poesie, den ewig gekauten Dualismus zwischen der Schönheit des Verses auf dem Piedestal der Sprache und dem kämpferisch erhobenen Wort-Diskussionen, die um die Jahrtausendwende in Tschechien entflammten und die dortige Lyrikszene prägten. Jan Škrob will weder das eine noch das andere. Er will alles. Und umso dringlicher schallen seine Worte im Raum. Denn: Es geht ihm um nichts weniger als um das Überleben – der Menschen und vor allem der Menschlichkeit – und um die Liebe.
du sagst dass
wir nicht gewinnen können doch
die sehnsucht erstickst du nicht
unser programm
das ende des kapitalismus
und allgemeines priestertum
schon wieder
habe ich mich in dich verliebt
Die teils karg gehaltenen Wortkaskaden sind keine leeren Hüllen, kein Pathos oder plakative Parolen, sondern ein aufrichtiges Aufbegehren, in dem sich christliche und linke Paradigmen paaren. Hier spricht ein apokalyptischer Prophet, ein revolutionärer Anstifter und ein sich selbst ertappender Beichtender, ein trotz all der düsteren Stimmung, Verzweiflung und Empörung suchendes und hoffendes Ich, das hinaus will, zum Licht. In seiner assoziativen Sprache voller Brüche und Kanten vermag er intime Lyrik und Spiritualität mit Neusprech, Slogans und Codes zu einem sprudelnden Fluss zu verbinden, in den alles hineinfließt, was ihn beschäftigt, beunruhigt, bestürzt oder berührt.
Als Dichter finde ich es wichtig, mich nicht zu sehr mit Poesie als solcher zu beschäftigen. Es besteht die Gefahr, dass man dabei vergisst, dass das Leben – und die lebendige Sprache – auch woanders ist. Ob Musik, Science-Fiction-Filme oder Serien, Computerspiele, soziale Netzwerke, philosophische oder politische Essays, Manifeste, Comics, Mythologie oder Nachrichten – alles ist für mich gleich wichtig. Authentische Poesie muss mit authentischer Sprache im Kontakt bleiben (…) All das kann manerarbeiten, überall Inspiration finden.
Martina Lisa, Nachwort
Die Auswahl der Gedichte erfolgte in Absprache mit dem Autor. Die tschechischen Originale entstammen dem Gedichtband Reál, Malvern, Praha 2018. Die Texte „die kürzesten tage des jahres“, „dublin“, „mit dem gesicht zur wand“ und „die linke hand der dunkelheit“ hat Jana Krötzsch für den Dresdner Lyrikpreis aus dem Tschechischen übertragen und für diese Ausgabe noch einmal durchgesehen. Alle anderen Texte wurden von Martina Lisa für diesen Band erstmals ins Deutsche übertragen.
donnert mit dem Gestus einer Rapper*in und der Stimme einer prophetischen Schaman*in – der Dichter gilt als eine der großen literarischen Entdeckungen der letzten Jahre. In seiner Lyrik verbindet sich das Politische mit dem Privaten, Fiktion mit Realität, Glaube mit Zweifeln und Konflikten. Zuletzt ausgezeichnet mit dem Dresdner Lyrikpreis 2018.
hochroth verlag, Ankündigung
Julia Schmitz: Überlebensanleitung für die Alltäglichkeit
Jádu, 18.2.2021
Jan Škrob liest aus Real am 19.2.2019 in der Buchhandlung und Antiquariat Fryč.
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