Jan Urbich: Zu Wulf Kirstens Gedicht „curriculum vitae“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „curriculum vitae“ aus Wulf Kirsten: fliehende ansicht. –

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

curriculum vitae
Bernhard Böschenstein gewidmet zum 80. Geburtstag

zu Frankfurt eine ohrfeige empfangen
wegen liebe zu Diotima.

von Goethe wohlwollend verkannt,
tatbestand: geringschätzung.

von Schiller fallengelassen,
zu befremdlich dieser landsmann.

noch jüngst von einem kritiker
als ihm nicht gemäße nebenfigur abgetan.

im gartenhaus am Hausberg zu Camsdorf
am „Hyperion“ geschrieben.

wie treffend erkannt seine landsleute
als allzu berechnende barbaren.

nirgendwo in Deutschland heimisch,
auch Jena enttäuscht den rücken gekehrt.

jahrzehnte im wahnsinn verdämmert
in einem Tübinger turmzimmer,

unter dem der Neckar seine bahn zieht,
als ich hinunterblickte, huschte eine ratte davon.

 

Anmerkungen zu Hölderlin-Spuren in Wulf Kirstens Lyrik

Für M.
Am Anfang. 

Meine Lektüre von Hölderlin-Spuren bei Wulf Kirsten konzentriert sich auf das Gedicht „curriculum vitae“ aus dem Band fliehende ansicht (2012),1 welches explizit den Dichter Friedrich Hölderlin zu seinem Gegenstand hat. Nach Selbstaussagen von Wulf Kirsten ist Hölderlin stets eine zentrale Referenz seines eigenen Schaffen gewesen. Die Aufarbeitung dieser Verbindung ist deshalb hier nicht in ihrer ganzen Breite möglich. Stattdessen soll Kirstens Hölderlin-Affinität exemplarisch, eben von jenem Gedicht her als Brennspiegel, in den Blick genommen werden.
Der Gattung nach ist „curriculum vitae“ ein Porträtgedicht,2 das in diesem Gedichtband z.B. ein Pendant im Gedicht „tirade. E.TA. Hoffmann in Bamberg“ hat.3 Der Titel ist präzise in einem mehrfachen Sinne: Zum einen besteht das Gedicht, gemäß der Stuktur der (heute meist nur noch als tabellarisch genutzten) pragmatischen Gattung des Lebenslaufes, aus voneinander isolierten, schlaglichtartig erleuchteten faktischen Momentaufnahmen aus dem Leben Hölderlins. Zum anderen ist die erstarrte Metapher des Titels auch als eine Arbeitsanweisung zu verstehen, nämlich dahin, sie selbst wieder zu verflüssigen, indem sie wörtlich genommen wird. Denn die im lateinischen Ausdruck weit gemeinte „Kreisbahn des Lebens“ durchzieht und umfasst nicht nur eng das eigene Tun und Erfahren des dargestellten Subjekts, sondern bildet sich erst im transsubjektiven Daneben und Danach zu einem beurteilbaren Ganzen, d.h. in den Bezugnahmen der Mit- und der Nachwelt, die im Gedicht als integrale Elemente des Lebenslaufs Hölderlins, aber auf je verschiedene Weise, zur Sprache kommen. Darüber hinaus ist ein curriculum vitae, zumindest seiner heutigen Form und Funktion nach, nur die abstrakte Oberfläche verborgener tieferer Lebenschichten. Das für das Leben eines Menschen wirklich Bedeutende, und d.h. die für sein Sein und Handeln elementaren Erlebnisse und Erfahrungen, verschwinden im curriculum vitae in der bloßen Aufzählung von faktischen Eckpunkten der sozialen Existenz, welche nach den Normensystemen von Erfolg und Leistung ausgewählt werden und das Subjekt als Gegenstand eines zumeist ökonomisch verwertbaren Entwicklungsprozesses darstellbar machen. In Kirstens Hölderlin-Gedicht hingegen werden Hölderlins Haltestellen des Daseins (Frankfurt, Jena, Camsdorf, Tübingen) mit seinen seelischen Erfahrungen wieder auf das Engste verwoben, und die Chronik wird wieder als Lebensbericht lesbar.4 Drittens lässt sich der Titel natürlich zudem auf Hölderlins eigene Ode „Lebenslauf“ (1800) beziehen, welche die Ausarbeitung einer Frankfurter Kurzode von 1797/1798 darstellt und im Sommer 1800 entsteht, als Hölderlin in die schwäbische Heimat zurückkehrt;5 und einen großen Teil der Enttäuschungen, von welchen Kirstens „curriculum vitae“ berichtet, gerade hinter sich hat. Der große Bogenlauf des Lebens, auf den Hölderlins Gedicht „Lebenslauf“ dort nur allgemein zu sprechen kommt, wo Kirsten diesen an Hölderlin auch konkret aufzeigt, entzerrt sich bei Kirsten in einen episodischen, auseinander treibenden Rhythmus von existentieller Systole und Diastole, Steigen und Fallen. Was dabei ganz einfach und scheinbar überdeutlich daherkommt, ist in seinem Ablauf kunstvoll komponiert. Denn was dieses zerfallende Leben Hölderlins wiederum zusammenhält zu dem einen Lauf, ist das Zerfallen selbst: die Kontinuität von Enttäuschungen, Erfahrungen des Scheiterns, der Zurückweisung und des Unheimischen, die bei Kirsten in klarer, lakonischer Kürze aufblitzen und anscheinend folgerichtig im bekannten Ende Hölderlins gipfeln, welches selbst Gegenstand so zahlreicher Deutungsanstrengungen nicht nur der Hölderlin-Forschung geworden ist – „jahrzehnte im wahnsinn verdämmert / in einem Tübinger turmzimmer“ (15). Wo Hölderlins Leben von Glückserfahrungen gestreift wurde, scheinen diese nur als immer schon und auf besondere Weise vergangene, d.h. als bereits in ihrem Auftauchen verschwindende, das Ich kaum tangierende und im Ganzen unhaltbare, fassbar. Der berühmte erste Vers der Ode „Stutgard“ bringt dies in seiner betont unpersönlichen Form des Glücks, die ohne Beziehung auf das erlebende Subjekt besteht, und der irritierenden Temporalität seiner Fügung, welche Perfekt und Imperfekt, Verlauf und Abgeschlossensein ineinanderschiebt, exemplarisch zum Ausdruck:

Wieder ein Glück ist erlebt.6

Makrostrukturell ist Kirstens Gedicht dreigeteilt, wobei die ersten beiden großen Teile (1–8/9–16) in der Verkehrung des kausalen Zusammenhangs von Ursache und Wirkung die äußere gesellschaftliche wie persönliche Ablehnung Hölderlins voranstellen und dekontextualisieren, wodurch diese in isolierter Form nochmals schärfer in den Blick gerät:

zu Frankfurt eine ohrfeige empfangen
wegen liebe zu Diotima.

von Goethe wohlwollend verkannt, tatbestand: geringschätzung.

von Schiller fallengelassen, zu befremdlich dieser landsmann.

noch jüngst von einem kritiker
als ihm nicht gemäße nebenfigur abgetan.

Die ersten 8 Verse, also 4 Doppelverspaare, umkreisen so exemplarisch die verschiedenen Weisen der Ablehnung, Zurückweisung und Geringschätzung, denen Hölderlin erotisch, gesellschaftlich, intellektuell und fachlich ausgesetzt war. Dabei spielt die Ablehnung Hölderlins durch die geistigen Leuchttürme der sogenannten Weimarer Klassik, Goethe und Schiller, eine besondere Rolle: zeigt sie doch an, wie die beiden Verkörperungen der ästhetischen und menschlichen Normen der anerkanntermaßen wichtigsten Kulturepoche deutscher Dichtung an der Beurteilung Hölderlins scheitern. Oder genauer gesagt: Es wird sichtbar, welches ästhetisch-anthropologische Normengefüge, das in der Macht der Kanonbildung sich sowohl durch als auch an Goethe/Schiller herauskristallisierte, Hölderlin nicht zu fassen vermochte, und das dem Gedicht gemäß noch „jüngst von einem kritiker“ vertreten werden konnte.7 Die nächsten acht Verse wechseln dann in die Innenperspektive des Hölderlinschen Lebens: und zwar in einem Rahmen von zwei Ereigniszusammenhängen, welche die Extreme gelingender dichterischer Schaffenshaft („im gartenhaus am Hausberg zu Camsdorf / am ,Hyperion‘ geschrieben“, 9) und katastrophischer Wendung in den völligen Selbstverlust („jahrzehnte im wahnsinn verdämmert / in einem Tübinger turmzimmer“, 15) episodisch unvermittelt kurzschließt. Was diese lebensgeschichtlichen Extreme im Gedicht auseinanderhält, ist die Ausformulierung von Hölderlins Gesamtbeziehung zu seiner deutschen Heimat, deren zwei Schritte sich wie Grund und Begründetes zueinander verhalten:

wie treffend erkannt seine landsleute
als allzu berechnende barbaren.

nirgendwo in Deutschland heimisch,
auch Jena enttäuscht den rücken gekehrt.
(11–14)

Damit spielt das Gedicht auf Hyperions sogenannte Scheltrede auf die Deutschen8 aus Hölderlins Roman Hyperion, an, deren poetische Kritik an der zunehmenden Entfremdung und Verdinglichung eines rein am ökonomischen Erfolg orientierten Bürgertums auch in zahlreichen Briefen Hölderlins seit der Frankfurter Zeit zu verfolgen ist,9 und die nicht zuletzt in der ersten Strophe von „Brod und Wein“, vollendete poetische Gestalt gewonnen hat:

Satt gehen heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäfftige Markt.
10

Kirsten markiert diese Topographie des Scheiterns mit wenigen präzisen Strichen als den mitteldeutschen Raum seiner eigenen Heimat, in dem der Hausberg zu Camsdorf innerhalb des Ereignisraumes Jena-Weimar räumlich auch die Peripherie jener Kulturlandschaft um 1800 darstellt, deren Epizentrum rund fünfundzwanzig Kilometer weiter westlich in Weimar liegt. Hölderlin wird so zu einem Dichter der Ortlosigkeit, „nirgendwo in Deutschland heimisch“ (13). Sein Herausfallen aus der Anerkennungsgemeinschaft der Intellektuellen und Dichter seiner Zeit erscheint demnach innerhalb der Koordinaten der Kulturlandschaft Weimar-Jena auch als Verlust von räumlicher Bindungsenergie. Kirstens Hölderlin treibt so haltlos durch den Kulturraum Deutschlands und wird erst durch den Wahnsinn unfreiwillig topographisch verortet. Die Kreisbahn des Lebens hat ihn wie Treibgut zurückgeführt an den Ort seiner Jugend und dort ohne Bewusstsein angeschwemmt. „Exzentrisch“ im strengen, vollständigen Sinne der Idee der „exzentrischen Lebensbahn“ aus dem Hyperion11 ist dieser Lebenslauf seinem dargestellten Gehalt bzw. „Sachgehalt“12 nach aber gerade nicht.13 Denn er findet im Gedicht bei Kirsten nicht zu einer sinnhaften Rhythmik aus peripherem Niedergang und finaler Vollendung, wie sie Hölderlins Roman vorgibt, sondern läuft im Wahnsinn aus, d.h. er verbleibt streng im Raum der Lebenschronik Hölderlins als eines Gescheiterten. Erst der Wechsel auf die Ebene des Darstellungsgehalts bzw. „Wahrheitsgehalts“ des Gedichts, d.h. die Perspektive auf das Gedicht selbst als Figur eines sinnhaften, formensprachlichen Ganzen gibt den Blick auf die exzentrische Lebensbahn Hölderlins frei: indem das Eingedenken an diese Lebensbahn als Gedicht den Grund dafür freilegt, Hölderlin als Subjekt eines exzentrischen Lebenslaufs zu verstehen. Das Gedicht Kirstens ist es, welches die Stelle des Sinnzusammenhangs vertritt, der dem dargestellten Lebenslauf gerade fehlt: weil es Hölderlin als Leuchtturm der ästhetischen Moderne eingedenkt, schließt sich in seinem rettenden Erinnern eben jede exzentrische Bahn mit sich zusammen, die auf der Ebene des Darstellten ins Leere ausgeht. „Dem Gedicht fehlt das Subjekt“ deshalb nicht primär, weil seine „Leerstelle“ ein „vielfach besetzbares Bedeutungssubjekt“14 vertreten soll: Dazu ist diese Lebensbahn zu spezifisch an Namen, Orten, Zeitpunkten aufgezogen, zu eng an den Ereignishorizont Hölderlins geknüpft und zu funktional auf seine eingedenkende Rettung ausgerichtet. Im Kontext der hier vorgestellten Überlegungen ist es das Gedicht selbst als poetische Aussagefigur, welches den Namen Hölderlins nachbildet, der auf der Ebene des Darstellungsinhalts nicht ausgesprochen werden darf. Es kommt dieser äußerlichen Lebenschronik in ihrer Faktizität des Scheiterns nicht zu, jenen Namen zu nennen, den einzig das Gedicht über Hölderlin – als Ausdruck seines geschichtlichen Bleibens und seiner normativen poetischen Perennienz – in der Figur seiner poetischen Argumentation vertreten darf. Hölderlin muss vom Gedicht vertreten werden, auch wenn er als Dichter nicht vertreten werden darf:15 zumindest dort, wo die Bahn seines Lebens so unvollständig wie verzerrt in der Diskursform des quasi-tabellarischen, chronologischen Lebenslaufes zur Darstellung kommt.
Die letzten beiden Verse wechseln gänzlich die Perspektive, um den Geist dieser Rettung von der Ebene der Darstellung auf die Ebene des Dargestellten zu holen. Denn nun tritt das Gedicht in seinem lyrischen Sprechen in den historischen Raum seines Gegenstandes selbst ein: Das Gedicht als Figur des Eingedenkens an den gebrochenen Lebenslauf Hölderlins macht sich als Gegenstand dieses Redens selbst geltend. Erstmals taucht im Gedicht explizit ein lyrisches Ich und damit ein raumzeitlicher Wahrnehmungsstandpunkt des Sprechenden in Kirstens eigener Gegenwart auf:

unter dem der Neckar seine bahn zieht,
als ich hinunterblickte, huschte eine ratte davon.
(17–18)

Das lyrische Ich entbirgt sich als Besucher des Hölderlinturms, und die Sprechsituation des gesamten Gedichts als Reflexion jenes lyrischen Ichs angesichts der konkreten Erfahrung dieses inneren und äußeren Gefängnisses, in das der Dichter die meiste Zeit seines Lebens eingeschlossen war. Demgegenüber bleibt die poetische Bedeutung dieser letzten Wahrnehmung des lyrischen Ichs bewusst rätselhaft, weil sie nur den allerletzten Moment am Ausgang des Gedichts besetzt, als den äußerst flüchtigen Augenblick kurz vor dessen Abblende. Kein haltbares allegorisches oder symbolisches System vermag dieses Bild deshalb aufzufangen. Damit bricht es in die semantisch klare Ordnung des Lebenslaufes und seiner wohlgerundeten Geschichte des Scheiterns als ein poetischer Rest ein, als gegensätzlich besetzbare Leerstelle finaler Bedeutsamkeit des lyrischen Gangs. Soll die davonhuschende Ratte als Sinnbild eines letztlich doch gelungenen Entzugs des Dichters aus den Zwängen seiner historischen Bedingungen gelesen werden, der im zumindest traditionell symbolisch hochbesetzten Bild des verachtetsten aller Tiere nochmals die Stellung Hölderlins im normativen Koordinatensystem des Klassischen deutlich macht? Zielt das symbolische Potential dieser Szenerie eher gegenteilig darauf, das ewige Gefangensein des verachteten Dichters im Bannkreis der Topographie seines Wahnsinns als Ergebnis seiner Ortlosigkeit anzuzeigen? Oder sind im verseuchten und verseuchenden Tier eben jene Kritiker Hölderlins gedacht, die sich ob seiner großen Nachwirkung aus dem Staube machen müssen, überstimmt von der Geschichte selbst? Vielleicht ist es aber eben jene Unbestimmtheit, die bedeutet werden soll: als (Ab)Grund und Unschärfe des Verstehens. Diese aber meint sich hier nicht dekonstruktivistisch-selbstgenügsam selbst, sondern übernimmt eine klar bestimmbare ethische Funktion: positiv einen Freiraum für die Rettung des besprochenen Dichters zu eröffnen, indem sich das chronologische Angeben des Lebensweges selbst ins Wort fällt und verstummt. Dann endet das Gedicht nämlich damit, die epoché des Verstehens als ethische Haltung des Abstandnehmens16 von den Geltungsansprüchen einer solchen restlosen faktischen Lebensbilanzierung, wie sie sich bereits im Gedichttitel ankündigt, als implizite Aufforderung auszusprechen. Die leise, feine, gegen die vorschnellen Zudringlichkeiten der benannten Hölderlin-Kritiker gerichtete, zurückhaltende Sympathie des lyrischen Ich für den Gescheiterten, und die in der genauen Komposition der Enttäuschungen und des Scheiterns sichtbar werdende Sorgfalt des Autor-Ichs als moralischer Dienst an der Erinnerung des in seiner Lebenszeit so vielfach gescheiterten Dichters verschaffen Hölderlins Lebenslauf in der Machart seiner poetischen Erinnerung eben jenes „Offene“,17 das er selbst immer wieder erdichtet hat und das ihm im Leben versagt blieb.
Ein kurzer Blick auf Hölderlins eigene Ode „Lebenslauf“ in ihrer entwickelten Gestalt sei hier erlaubt, nicht zuletzt weil der Titel des Kirsten’schen Gedichts so deutlich darauf verweist. In ihr ist, grob gesprochen, ein therapeutisches Verständnis der Enttäuschungen und Verwerfungen des Lebens angestrebt, ein Modus des Auskommens mit ihnen, ohne diese dabei in ihrer überwältigenden Faktizität leugnen zu dürfen.

Aufwärts oder hinab! Herrschet in heil’ger Nacht,
Wo die stumme Natur werdende Tage sinnt,
Herrscht im schiefesten Orkus
Nicht ein Grades, ein Recht noch auch?
18

fragt die zweite Strophe angesichts der konstanten und unausweichlichen Leiderfahrungen des Lebenslaufes, den Hölderlin vielsinnig in der ersten Strophe mit einem berühmten griechischen Wortspiel Heraklits anhand des Bogens (bíos=Leben; biós=Bogen) und seiner strukturellen Gegenwendigkeit poetisch erläutert. Die Frage danach, ob im „dunklen Chaos des Ursprungs und im Orkus des ,Abgrunds‘, in dem sich das Leben verschattet und alles sich in Schieflagen verfängt, doch ein Gerades herrscht“,19 d.h. ob eine waltende Gerechtigkeit die Not und das Leid des Lebensganges so auffängt, dass da doch „Einer, welcher dieses Fallen / unendlich sanft in seinen Händen hält“ erfahren wird, wie es in Rilkes Gedicht „Herbst“ aus dem Buch der Bilder heißt, steht im Zentrum des Hölderlin’schen Gedichts. Es endet freilich mit einem Gestus, bei dem es für einen heutigen Leser wohl ebenso schwer zu entscheiden ist, ob in ihm nicht ein Stück weit auch Verzweiflung darüber gestaltet sein soll, dass letztlich das Vertrauen auf „ein Grades“ im Abgrund niemals gänzlich mit Gründen einholbar sein wird:

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern’,
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will
.20

Diese Verse sollten ganz antisubjektivistisch verstanden werden: Es geht nicht um ein selbstherrliches kritisches Subjekt, dass sich zum alleinigen Maßstab der Beziehungen auf sich und auf Andere(s) so aufschwingt, wie Kirstens Gedicht dies als Haltung Goethes, Schillers und eines gegenwärtigen Kritikers gegenüber Hölderlin implizit kritisiert. Prüfung heißt das „Sicheinlassen in den durch eine Lebenstendenz gewiesenen Weg“ als „Bewährung des Lebens und Durchstehen der Not“.21 „Alles“ ihm Zustoßende und Angetane soll der Mensch in diesem Sinne sich aneignen, um in der Identifikation mit der Not zu einem Verständnis des eigenen Zusammenhangs zu gelangen, aus dem die „Dankbarkeit“ erwächst, welche sich im erinnernden Eingedenken manifestiert. Dieter Henrich hat in seiner wichtigen Interpretation der Ode daraus gefolgert:

Daher hat die Not des Lebens nur insofern ein Ende, als sie im Grund ihres Hervorgangs begriffen und als notwendige Bedingung eines Begreifens, das zu diesem Grund gelangt, verstanden ist.22

Prüfung des Gegebenen und Dankbarkeit im Eingedenken – das sind Worte, die auch dem dichterischen Schaffen Wulf Kirstens nicht fern liegen. Freilich, das zeigt gerade sein Hölderlin-Gedicht im Kontrast zu Hölderlins eigener Lebenslauf-Ode, sind bei Kirsten Prüfung und Dankbarkeit nicht als Gesten letzter Einwilligung in den Gang der individuellen wie kollektiven Lebens/Geschichte zu verstehen. Vielmehr betont seine poetische Prüfung des „Zeitfraß[es]“23 in der Landschaft ein stärker noch unversöhnliches Moment als bei Hölderlin, das sich gerade auch im Eingedenken am Lebensspeicher der heimatlichen Landschaften entzündet und erhält.
Natürlich kann man bei Wulf Kirsten auch immer wieder einzelne sprachbildliche, motivische oder strukturelle Anklänge an Hölderlin finden. Etwa wenn am Beginn von „fliehende ansicht“, dem titelgebenden Gedicht des Bandes, die Bewegung des Absteigens, Niedersinkens oder Abrutschens analog zu „Hälfte des Lebens“ ins Bild gesetzt wird:

kahl die baumzeile, die im fluß
sich spiegelt flächig-filigran,
häuser an den waldhang gewürfelt,
festgezurrt in sich verkrallt
abbild des dorfes
24

Aber wichtiger als solche punktuellen Parallelen und Wiederaufnahmen, oder als die offensichtlichen Differenzen zwischen metrisch gebundener, auch in den freien Rhythmen noch von metrischen Zitaten betroffener und gebundener Versifikation bei Hölderlin und der modern-freirhythmischen Versinstrumentalik Kirstens, sind die Schnittpunkte in der poetischen Argumentation und dem poetischen „Wahrheitsgehalt“, um erneut mit Benjamin zu sprechen. Beispielsweise findet sich in Wulf Kirstens Gedichten wiederholt eine Poetik der Frage, welche jenseits von bloßer Ratlosigkeit den Vorgang des Eindringens der Sprache in die harte Oberfläche der Dinge ins Werk setzt, und die der Hölderlin’schen sehr nahe steht: „auf baumpfaden im nirgendwo / graslilien flächendeckend / hangunter in voller blüte, / wie zart, wie filigran / dieser grundton der erde / und woher nur genommen?“25 heißt es im Gedicht „landstieg“, auf Hölderlins „warum“, „woher“ und „wie“-Fragen reagierend.26 Beide Dichter verbindet zudem die scharfe Kritik an einer zunehmenden, den Erfahrungsreichtum, die Eigensinnigkeit und die Resonanzfähigkeit der Lebenswelten und Daseinslandschaften entleerenden Funktionalisierung und Ökonomisierung ihrer jeweiligen Gegenwart. Oft genug erfährt sich das lyrische Ich bei Kirsten „unvermutet eingekeilt von zeitgenossen“,27 die als „allzu berechnende barbaren“ (12) der menschliche Abdruck der „allmacht des marktes“28 und des aus ihm erwachsenen „abgeschriebene[n] verdinglichte[n] leben[s]“29 geworden sind.
Wirklich tragend jedoch scheint mir eine andere Verwandtschaft zu sein, die nun schon vielfach angeklungen ist. Wie Hölderlin legt Kirsten poetisch in der Topographie von sprachlich verfassten Landschaftsräumen die Zeitschichten menschlicher Sinnhorizonte frei. Was Hölderlin bspw. in Gedichten wie „Andenken“ am Raum der südfranzösischen Landschaft um Bordeaux oder in „Patmos“ am Raum der gleichnamigen griechischen Insel der südlichen Ägäis vollzieht (vgl. zudem „Heidelberg“, „Stutgard“ etc.), das arbeitet Wulf Kirsten vor allem an der mitteldeutschen Region mit ihrer besonders intensiven Verschränkung von Natur und Kultur, Kultur- und Naturgeschichte, eben von Landschaft,30 wie kein anderer heraus. Landschaft ist für beide (und darin übrigens auch dem Objektivitätsbegriff Rilkes verwandt) weder ein bloßes naturalistisches „Außen“ von rein materiellen Gegenständen naturgesetzlicher Prozesse noch eine bloße romantische Versinnlichung eines irgendwie transformierten subjekthaften oder göttlichen Innenraums: sondern ein Drittes dazu, nämlich das entfaltete und beharrliche Raumgewordensein der Offenheit von Natur, Kultur und Mensch füreinander, wie sie als Landschaft in der Form ihres gemeinsamen geschichtlichen Gewordenseins zugänglich ist. Kulturelle Arbeit, verstanden in einem deskriptiven Sinne als Sich-Verwirklichen des Menschen in und mit den Gegenständen der intersubjektiven Lebenswelt, ist laut Hegel „aufgehaltenes Verschwinden“:31 d.h. Gestaltgewordensein des flüchtigen menschlichen Tuns in den Naturräumen seiner Umwelt, auf deren beständiges Miteinander des Geben und Nehmens er angewiesen ist bis in den eigenen sprachlichen Ausdruck hinein – „nimm diesen landstieg an, / so wie er uns trägt, als sei er / schlichtweg das mundum seiner selbst.“32 So sind für Hölderlin, denkt man bspw. an „Brod und Wein“, wie auch für Kirsten die Ruinen der Landschaft, „trümmerbrocken / außer kraft und ohne sinngehalt“,33 als „erinnerungslasten“34 zugleich Einritzungen im „codex naturae“,35 die das gemeinsame Gewachsensein von Natur und Kultur gerade auch in ihrem Auseinanderbrechen bezeugen. Auseinander gehen Hölderlin und Kirsten aber dort, wo für Hölderlin die Dispositive und Normative dieser Sinnlandschaften mythisch-religiöser Natur sind, deshalb das Absolute in seinem geschichtlichen Werden als Grund durch alle raumgewordene Geschichte hindurchbricht, ja eigentlich die Form ihrer Übergängigkeit ausmacht.36 Wulf Kirsten hingegen enthält sich aus seiner geschichtlichen Situation heraus skeptisch-kritisch aller „großen Erzählungen“ oder religiöser Deutungsmuster, oder er bricht sie zumindest ironisch. An ihre Stelle tritt das Beharren auf der genauen sprachphänomenologischen Beobachtung und Registrierung der Verfasstheit der Landschaft in ihrem Ineinander von Kultur und Natur; das Gedicht „im überlicht“ aus fliehende ansicht37führt diesen miniature am deutlichsten vor. Damit aber hält er einer Poetik der Sprachlandschaft, einer poetischen Landschaftskunst die Treue, welche in Hölderlin einen starken Verbündeten kennt, der durch das „curriculum vitae“-Gedicht auch wahrlich beschützt wird.
„Der Weg hinauf hinab ein und derselbe“, so heißt es in einem Fragment des Vorsokratikers Heraklit, das Hölderlin im „Lebenslauf“, zitiert. Das heißt aber nicht: Es ist einerlei, welche Richtung und welchen Pfad man gerade beschreitet. Die Kartographierung dieser Lebenslandschaften, um die Eigenwertigkeit und Erfahrungstiefe der verschlungenen Wege sicherzustellen, ist Aufgabe einer Dichtung, die sich auf verschiedene Weise, aber jeweils einzigartig in Friedrich Hölderlins und Wulf Kirstens Werk ausgebildet hat. In dieser Hinsicht heißt es bei Martin Heidegger:

Darum sagen die wesentlichen Denker [und Dichter] stets das Selbe. Das heißt aber nicht: das Gleiche.38

Nähe oder sogar Übereinstimmung zwischen Dichtern als gemeinsames Arbeiten an dem, was wie das Selbe „in sich selbst zusammenhängt“,39 gleichwohl weit davon entfernt, deshalb als strenge objektive Rechtfertigungsinstanz gelten zu dürfen, sind eben manchmal vielleicht durchaus ein vorsichtiger Indikator dafür, „ein Grades, ein Recht[es]“ gefunden zu haben. Das ist die wahre Gemeinschaft der Dichter, von der es bei Hölderlin in „Brod und Wein“ heißt:

So komm! Daß wir das Offene schauen,
Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist.
Fest bleibt Eins; es sei um Mittag oder es gehe
Bis in die Mitternacht, immer bestehet ein Maß,
Allen gemein, doch jeglichem ist auch eignes beschieden,
Dahin gehet und kommt jeder, wohin er es kann
.40

Die Unglücksfälle, Erniedrigungen, Demütigungen, all das Gescheiterte und Missglückte des Lebens im poetischen Eingedenken aufzufangen, sowie das Verbünden mit den Verachteten und den „Hoffnungslosen“, für die uns nach Benjamin allein „die Hoffnung gegeben“41 ist – diese Haltung mag für Hölderlin wie für Kirsten die Frage beantworten, welche als Emblem über der Gegenwartserfahrung beider geschrieben steht:

wozu Dichter in dürftiger Zeit?42

Jan Urbich, aus Wulf Kirsten – die Poesie der Landschaft. Gedichte, Gespräche, Lektüren herausgegeben von Jan Röhnert, Stiftung Lyrik Kabinett, 2016

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00