Jan Wagner: Der verschlossene Raum

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Münchner Reden zur Poesie“

Münchner Reden zur Poesie

DER VERSCHLOSSEN RAUM

I
Meine Damen und Herren, obwohl Sie sich heute, was Sie ehrt, auf den Weg gemacht, sich hier zusammengefunden haben, um einem Vortrag über das unpopulärste Genre zu lauschen, das die Literatur zu bieten hat, über die Lyrik nämlich, obwohl Sie also offensichtlich ein Interesse an der Poesie haben, erlauben Sie mir, Sie am Anfang meiner Rede mit einem Ausflug ins beliebteste Fach zu überraschen, und das heißt natürlich: zum Kriminalroman. Denn wer sich etwas ausführlicher mit Lyrikern und ihren Biographien beschäftigt, wird erstaunt feststellen, daß sich ausgerechnet unter ihnen, die ja jenseits der Bestsellerlisten und des grellen Bühnenlichts ihrer seltsamen und alles andere als einträglichen Tätigkeit nachgehen, daß sich gerade unter den Dichtern also verblüffend viele finden, die Kriminalromane lesen, ja geradezu verschlingen – wodurch das am meisten Beachtung findende literarische Genre mit dem abseitigsten, fast vergessenen, weit öfter zusammentrifft als man annehmen sollte.
„Für mich, wie für viele andere, ist das Lesen von Detektivgeschichten eine Sucht wie Tabak oder Alkohol“, schrieb W.H. Auden, bekannte allerdings, daß es ihm schwerfalle, auch solche Kriminalromane zu goutieren, die sich nicht des ländlichen Englands, seiner Landschaften und Herrenhäuser, als Hintergrund bedienten. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in Pablo Nerudas Sommerhaus „La Sebastiana“ im chilenischen Valparaíso, läßt sich noch heute die beeindruckende Sammlung von Kriminalromanen aus aller Welt besichtigen, meist in den Originalfassungen, die der Nobelpreisträger zusammentrug. Und selbst die deutschen Antipoden Bertolt Brecht und Gottfried Benn, die sich von Herzen abgeneigt waren, fanden zumindest in diesem einen läßlichen Laster zu einem gemeinsamen Nenner. „Colt – aber, Herr Oelze!“, ruft Benn in einem Schreiben an seinen liebsten Briefpartner aus, der sich, ganz Bremer Geschäftsmann, mit Schußwaffen augenscheinlich nicht auskannte. „Lesen Sie keine Kriminalromane? Ich ständig, wöchentlich 6, Radiergummi für’s Gehirn, – ein berühmter amerik. Revolver, ohne den kein Scotland Yardmann auftritt“, schreibt Benn also und endet mit den Worten: „empfehle Wallace, Agatha Christie, van Dine, Sven Elvestadt. Tausend Grüsse! Ihr Benn.“ Sogar in einem späten Gedicht, „Was schlimm ist“ heißt es, schlägt sich diese Leidenschaft nieder – denn schlimm sei unter anderem, so Benn, wenn „man kein Englisch kann, / von einem guten Kriminalroman zu hören, / der nicht ins Deutsche übersetzt ist“. Bertolt Brecht schließlich sah im Lesen von Detektivgeschichten eine „intellektuelle Gewohnheit“, von der er auch im Exil nicht abließ, ganz gleich, wohin es ihn verschlug. In Kalifornien etwa notiert er Mitte der vierziger Jahre:

Wenn Eisler nachmittags nicht kommt, bleibt nur der Simenon.

Die literarische Vorliebe dieser und vieler anderer Dichter, diese charmante Schwäche für eine so ganz anders geartete Textsorte hat mich immer schon fasziniert. Und vielleicht gelingt es uns, wenn wir von diesem Kuriosum ausgehen, es vielmehr ernst nehmen und nicht für einen bloßen Zufall halten, vorzudringen zum eigentlichen Gegenstand unseres Interesses, zum Gedicht also und seiner Beschaffenheit. Dabei darf man wohl von vorneherein ausschließen, daß ein Interesse am Kriminellen und am Kriminalistischen dahinter steckt, die schiere Lust am Nervenkitzel, am Verbotenen, die Faszination des Bösen – auch wenn hier und da in Gedichten durchaus ein Mord geschehen oder ein anderes Verbrechen stattfinden kann. Man denke an Brecht, auch jenseits der Dreigroschenoper, jenseits von Macheath, dessen Messer man, anders als die Zähne des Haifisches, nicht sieht, man denke etwa an sein Gedicht „Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde“ aus der Hauspostille, das einen Elternmord in vierzeilige Strophen bringt:

In mildem Lichte Jakob Apfelböck
Erschlug den Vater und die Mutter sein
Und schloß sie beide in den Wäscheschrank
Und blieb im Hause übrig, er allein.

Ein Gedicht übrigens, das Brecht einem wirklichen Kriminalfall der zwanziger Jahre verdankte, genau wie das etwas längere Poem „Von der Kindesmörderin Marie Farrar“, das in der Hauspostille gleich darauf folgt. Beide aber waren für Brecht ausschließlich deswegen interessant, weil sich in ihnen die gesellschaftlichen Verhältnisse bündeln und attackieren ließen, die bekanntlich nicht so waren, wie sie hätten sein sollen. Die letzte Strophe der „Marie Farrar“, insbesondere das abschließende Couplet, läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:

Marie Farrar, geboren im April
Gestorben im Gefängnishaus zu Meißen
Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will
Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen.
Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten
Und nennt „gesegnet“ euren schwangeren Schoß
Wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen
Denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid groß.
Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen
Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.

Was Gottfried Benn betrifft, an dessen frühe Morgue-Gedichte man denken könnte, an jenen ersoffenen Bierfahrer mit seiner kleinen Aster also, an das Mädchen aus dem Schilf, an die namenlos verstorbene Dirne mit der Goldplombe im Backenzahn, so präsentiert er zwar eine Reihe von Leichen, bei denen man nicht in jedem Fall sicher sein kann, wie genau und durch wessen Hand sie ins Schau haus gelangten, die aber in ihrer Mehrheit wohl doch zu den Selbstmördern und den bei allen Frühexpressionisten überaus geschätzten Wasserleichen zu zählen sind – und die vor allem deshalb aus den trüben Gewässern und im Text auftauchen, weil ihr Schock- und Ekelpotential ganz beträchtlich ist. Benn selbst konnte, wie er später gestand, seine Morgue-Sequenz nur mithilfe eines gut gefüllten Schnapsglases wiederlesen.
Doch lassen wir der Einfachheit halber die Lyriker selbst zu Wort kommen, denn von einigen, die ihr Faible für die Kriminalliteratur nicht verheimlichten, liegen auch theoretische Texte zum Thema vor. Helmut Heißenbüttel etwa setzte sich mit den „Spielregeln des Kriminalromans“ auseinander, und Bertolt Brecht verfaßte einen Aufsatz mit dem Titel „Über die Popularität des Kriminalromans“, dem wir eine erste, wenn auch naheliegende Erklärung entnehmen, denn, so Brecht, „der intellektuelle Genuß kommt zustande bei der Denkaufgabe, die der Kriminalroman dem Detektiv und dem Leser stellt“.
Am eindrücklichsten hat sich vielleicht der große englische Dichter Auden mit der Materie auseinandergesetzt. In seiner so eloquenten wie tiefgründigen Sammlung von Essays The Dyer’s Hand, Die Hand des Färbers, findet sich unter der Überschrift „The Guilty Vicarage“, was sich mit „das verbrecherische Pfarrhaus“ oder auch „das schuldbeladene Pfarrhaus“ ins Deutsche übersetzen ließe, eine Reflexion über den Kriminalroman und dessen Leser, die mit einigen bedenkenswerten Thesen aufwartet. „Die erstaunlichste Tatsache hinsichtlich der Detektivgeschichte ist“, so Auden, „daß sie den größten Reiz genau auf jene Leute ausübt, die gegen andere Arten von Tagtraumliteratur immun sind. Der typische Krimisüchtige ist ein Arzt oder ein Geistlicher, er ist Wissenschaftler oder Künstler, mit anderen Worten, er ist ein ziemlich erfolgreicher berufstätiger Mann mit intellektuellen Interessen, der in seinem eigenen Feld äußerst belesen ist, einer, der nie und nimmer die Saturday Evening Post oder etwas mit dem Titel ,Wahre Bekenntnisse‘ ertragen könnte, auch nicht Filmzeitschriften oder Comics.“ Und Auden fährt fort:

Ich vermute, daß der typische Leser von Detektivgeschichten, ganz wie ich selbst, eine Person ist, die unter einem Gefühl von Schuld zu leiden hat.

Auden unterscheidet in seiner Abhandlung ausdrücklich zwischen Kriminalliteratur und künstlerisch anspruchsvollen Werken. lm Krimi, schreibt er, gebe es immer ein Verbrechen und eine gewisse Zeit lang eine Unsicherheit darüber, wer die Schuld an diesem Verbrechen trägt; sobald der Täter feststehe, sei auch die Unschuld aller anderen einwandfrei und ein für allemal sichergestellt. Im Kunstwerk hingegen – Auden wählt als Beispiel den Prozeß von Kafka – stehe die Schuld fest, nur das Verbrechen nicht. Auden schließt:

K. der Held, ist in der Tat genau das Bildnis einer Person, die, um allem zu entfliehen, Detektivgeschichten lesen würde. Die Fantasie, der sich der Krimisüchtige also hingibt, ist die Vorstellung, aufs Neue im Garten Eden angelangt zu sein, in einem Zustand der Unschuld, in dem er die Liebe als Liebe und nicht als gesetzliche Vorschrift wahrnehmen darf.

Das ist ein schöner und faszinierender Gedanke, der uns zugleich daran erinnert, wie eng verwandt im Deutschen die Wörter „Lösung“ und „Erlösung“ sind. Wir werden später auf sie zurückkommen. Lassen Sie uns vorerst noch einen Augenblick beim Thema bleiben, und gehen wir zeitlich noch etwas weiter zurück.

 

In seiner Münchner Rede zur Poesie

geht Jan Wagner von der überraschenden Tatsache aus, dass auffallend viele Dichter von Auden bis Benn und Brecht begeisterte Leser von Kriminlaromanen waren – ein Zusammenhang, der sich zurückverfolgen lässt bis zu Edgar Allan Poe, der nicht nur einer der Begründer der modernen Poesie ist, sondern auch die Detektivgeschichte erfunden hat. Ausgehend von dessen The Murders in the Rue Morgue fragt Wagner nach Gründen für die Analogie von Krimi und Gedicht:

Läßt sich vielleicht das Gedicht selbst, wie das unerklärliche Rätsel aufgebende Zimmer in der Rue Morgue […] als ,locked room‘ begreifen, als ein verschlossener Raum, vom Dichter ganz gezielt und Schritt um Schritt erschaffen, immer auf den maximalen Effekt beim Leser bedacht, noch die kleinsten Wirkungen berechnend – nur um am Schluß den Schlüssel von innen stecken zu lassen und sich in Luft aufzulösen, auf mysteriöse Weise zu verschwinden?

Stiftung Lyrik Kabinett, Klappentext, 2012

 

 

Rede, gehalten am 28. März 2012 im Lyrik Kabinett

Einleitung von Frieder von Ammon:

„Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, da wir die Münchner Reden zur Poesie nach einer Pause von etwas mehr als einem Jahr fortsetzen…“

 

Jan Wagner | 1

„Guten Abend, vielen Dank für die Einladung nach München und für die wunderbare Einführung…“

 

Jan Wagner | 2

„Denn es kann doch, meine Damen und Herren, kein Zufall sein, dass einer der Begründer der modernen Lyrik…“

 

Jan Wagner | 3

„An dieser Stelle soll ein kurzer Exkurs risikiert werden…“

 

Jan Wagner | 4

„Zunächst einmal darf man Poe nach wie vor Recht geben…“

 

Jan Wagner | 5

„Diese sich bietende Freiheit als Genuss zu empfinden, ist sicherlich auch eine Frage von Geduld und Lernbereitschaft…“

 

Beitrag zu diesem Buch:

Walter Fabian Schmid: Zu Jan Wagners Poesierede
poetenladen.de, 22.6.2012

 

 

Denis Scheck trifft Jan Wagner in Druckfrisch.

Jan Wagner liest bei faustkultur.

Poetry Crossings: Jan Wagner, Monika Rinck, Alistair Noon und Adrian Nichols lesen im Studio Niculescu am 15.4.2011 ausgewählte Gedichte und übersetzen sich gegenseitig.

Salon Holofernes – mit Jan Wagner. Judith Holofernes spricht mit Künstlern über das Kunstmachen.

 

 

Ein Gedicht und sein Autor: Ursula Krechel und Jan Wagner am 17.7.2013 im Literarischem Colloquium Berlin moderiert von Sabine Küchler.

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Jan Wagner

 

Jan Wagner liest in der Installation Reassuring Synthesis von Kate Terry aus seinem neuen Gedichtband Australien im smallspace, Berlin.

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