Jānis Rainis: Nachtgedanken über ein neues Jahrhundert

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jānis Rainis: Nachtgedanken über ein neues Jahrhundert

Rainis-Nachtgedanken über ein neues Jahrhundert

ZWEI STERNE

In den Wolken ziehn zwei Sterne,
Leuchten sich entgegen, ziehen
Weiter in die Himmelsferne. –
Ob sie sich dort jemals finden?
Oder ob sie dort verglühn,
Wo Jahrtausende entschwinden?

Warum seh auf meinen Wegen
Ich den Sternen noch entgegen?

 

 

 

Rainis und seine Lyrikzyklen

Im August 1893, nach dem III. Kongreß der II. Internationale, besuchte einer der Kongreßgäste, ein junger Lette, August Bebel in seinem Züricher Logis. Später traf sich Bebel mehrmals mit seinem neuen Bekannten, versorgte ihn mit marxistischer Literatur und gab ihm die Adresse eines Meisters, der Taschen mit doppeltem Boden anfertigte. Als der Gast heimreiste, führte er eine solche Tasche bei sich, in ihrem Geheimfach steckten Das Kommunistische Manifest, Das Erfurter Programm und Bebels Die Frau und der Sozialismus.
Dieser „Schmuggler“ war Jānis Pliekšāns, Doktor der Rechtswissenschaften und Chefredakteur der Rigaer Zeitschrift Dienas Lapa (Tageblatt). Der in Zürich aufgenommene Kontakt zur internationalen Arbeiterbewegung, insbesondere die Begegnung mit August Bebel, rundete eine Etappe seiner politischen Entwicklung ab: Er kehrte als bewußter Verfechter der Interessen der Arbeiterklasse nach Riga zurück. Zunächst kämpfte er für die Realisierung seiner Ideale in der täglichen Praxis als Publizist. Zur Zeit seiner Züricher Gespräche mit Bebel wußten wenige in Lettland, daß er auch Verse schrieb. Und als er 1895 den auf einem Wegweiser gelesenen Bauernnamen Rainis als Pseudonym unter ein resignierendes Gedicht setzte – da hätte noch niemand vorauszusagen gewagt, daß die zündenden allegorisch-romantischen Verse des gleichen Mannes ein Jahrzehnt später eine der gefürchtetsten Waffen lettischer Revolutionäre sein würden. Im Dezember 1905 mußte der „Aufwiegler“ Rainis-Pliekšāns ins Ausland fliehen, für fünfzehn Jahre wurde die Schweiz sein Zufluchtsort. Die reaktionäre baltendeutsche Dünazeitung schimpfte ihn einen Bankräuber.
„Ich brauchte keine Bank zu berauben“, kommentierte Rainis diese Ausfälle, „meine Waffe ist die Dichtung… Mit ihr habe ich gefochten, und ihren Ruhm verkündet nun das Gezeter meiner Feinde.“
Jānis Rainis geboren am 11. September 1865 in Dunava im Kurländischen Gouvernement des großrussischen Reiches, entstammte der Familie eines lettischen Gutspächters. Seine Persönlichkeit formte sich in einem Zeitabschnitt, als die Wachstumsexplosion der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse zu tiefgreifenden Veränderungen im Leben der vom Zarismus unterjochten Nationalitäten führte. In Rainis’ Kindheit und Jugend attackierte das lettische Volk in Bauernaufständen und in einer damit ursächlich verbundenen bürgerlich-nationalen Bewegung vornehmlich den baltendeutschen Adel, der seit 600 Jahren das Land beherrschte und trotz der hundertjährigen zaristisch-russischen Oberherrschaft seine Privilegien nicht eingebüßt hatte. Doch bereits in den neunziger Jahren wurde die Arbeiterbewegung zur Interessenvertreterin des lettischen Volkes, und ihr gegenüber standen der russische Absolutismus, die deutschen Junker und Großunternehmer und das lettische Bürgertum. Das Bildungsgut, das Rainis aufnahm, war von diesen gesellschaftlichen Kräften und ihrem dynamischen Verhältnis bestimmt. Er besuchte eine deutsche Grundschule und von 1880 bis 1883 das deutsche Stadt-Gymnasium zu Riga, wo er starke Eindrücke von der westeuropäischen Kultur, insbesondere von der antiken und der klassischen deutschen Literatur, aber auch vom russischen Realismus empfing. Außerhalb der Schule beschäftigte ihn die Wortkunst des eigenen Volkes: die reiche Folklore und die Literatur, die – kaum älter als er – im Ergebnis der progressiven frühbürgerlichen Bemühungen um die Schaffung einer lettischen Kultur entstanden war und durch eine patriotische romantische Lyrik (J. Alunāns, Auseklis, A. Pumpurs) sowie einige realistische Prosawerke (M. und R. Kaudzīte, Apsīsu J.) ihre Geltung bewiesen hatte. Rainis’ Engagement für die lettisch-nationalen Belange gab sich früh als Parteinahme für die ausgebeutete Mehrheit zu erkennen, verbunden mit der Ablehnung des lettischen Bourgeois, der seine Geschäfte mit Phrasen von der nationalen Einheit verbrämte. Während des Jurastudiums in Petersburg (1884 bis 1888) geriet er ins Kraftfeld des fortschrittlichen russischen Geisteslebens. Das Programm der Narodniki, mit denen er Kontakt hatte, konnte ihn auf die Dauer nicht fesseln. Politisch, philosophisch, ästhetisch profitierte er von den Schriften der russischen revolutionären Demokraten und – soweit es seine materialistisch-atheistische Haltung betraf – von den Vorlesungen Mendelejews und Bechterews.
Wie sehr die geistige Entwicklung des jungen Rainis den historischen Erfordernissen seines Volkes entsprach, macht der Erfolg seines politisch-publizistischen Wirkens in den neunziger Jahren sichtbar. Nach dreijähriger Tätigkeit als Jurist in Vilnius und Jelgava übernahm er, inzwischen promoviert, 1891 das demokratische Tageblatt. Unter seiner Leitung wurde die Zeitschrift zum ideologischen Zentrum der sogenannten Neuen Strömung, einer nicht organisierten, uneinheitlichen lettischen Intellektuellenbewegung, die mit der Arbeiterbewegung verbunden war und in Lettland marxistische Ideen zu verbreiten begann. Rainis, der sich in diesen Jahren entschieden den Lehren von Marx zuwandte, gehörte zu den führenden Köpfen des revolutionären Flügels der Neuen Strömung. Im Tageblatt behielt er sich das Auslandsressort vor, wo er zensurwidrige politische Fragen – vor allem des proletarischen Klassenkampfes – am unverfänglicheren ausländischen Material abhandelte. Nach seiner Züricher Reise verstärkte er die marxistische Propaganda, veröffentlichte unter anderem anonyme Auszüge aus Werken von Marx, Engels, Bebel und Plechanow. In den – häufig von Rainis angeregten – Polemiken um kunsttheoretische Probleme akzentuierte das Tageblatt den Realismus und präzisierte so die ideelle Ausstrahlung der Neuen Strömung auf breite Kreise der Kunst- und Literaturschaffenden. Der durch das Heranreifen der proletarischen Revolution bewirkte geistige Umbruch in Lettland verdankte viele Impulse dem Publizisten Rainis.
Als Schriftsteller trat Rainis in der Periode der Neuen Strömung nicht in Erscheinung, obwohl er seit seinem fünfzehnten Lebensjahr dichtete und 1888 ein Bändchen satirischer Verse publiziert hatte. Erst nachdem er 1895 die Leitung des Tageblatts niedergelegt hatte, kehrte er sich ernsthaft der Dichtkunst zu. Sie wurde für ihn Lebensaufgabe, doch sah er in ihr stets einen Teil des „großen Werkes“, „Das einzig und allein / Wert ist, getan zu werden“ – der Befreiung der „Grundklasse“, wie er als Dichter das Proletariat benannte. Die Hinwendung zur Literatur war mit einem harten äußeren Einschnitt in Rainis’ Leben verbunden. 1897 verhaftete die zaristische Gendarmerie alle aktiven Anhänger der Neuen Strömung und Teilnehmer der mit ihnen in Kontakt stehenden Arbeiterzirkel. Rainis wurde verbannt. Anderthalb Jahre brachte er in Pskow zu, vier Jahre in der nordrussischen Kleinstadt Slobodskoi. Im Gefängnis und im Exil arbeitete er angespannt im literarischen Bereich. Er dichtete, übersetzte (unter anderem Goethes Faust und Iphigenie auf Tauris, Gorkis Lied vom Falken, Lermontows Dämon, Dramen von Shakespeare, Schiller, Hauptmann), schrieb Essays (so über Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“ und die Jugendjahre Goethes), literaturkritische und publizistische Artikel. In diesen Jahren entfaltete sich seine poetische Begabung, einfühlsam gefördert von einem ihm sehr nahestehenden Menschen – der lettischen Dichterin Aspazija (Elza Rozenberga), seiner Lebensgefährtin. Diese eheliche Verbindung, die einen ständigen geistigen Austausch einbegriff, war für das Werk bei der Dichter gedeihlich, obwohl Aspazija, deren romantische Lyrik höchster literarischer Ausdruck der Neuen Strömung gewesen war, religiösen und bürgerlichen Anschauungen verhaftet blieb und sich später weltanschaulich und politisch von Rainis entfernte.
1903, kurz nach Rainis’ Heimkehr aus Slobodskoi, erschien in Riga sein Gedichtband Ferner Nachhall am blauen Abend. Es war ein kunstvoll aufgebauter, festgefügter Zyklus, in dem jedes Gedicht für sich stehen konnte, jedoch erst im Kontext der anderen seine volle Aussagekraft gewann. Dem aufmerksamen Zeitgenossen bot sich diese Dichtung als lyrisches Gemälde der vorrevolutionären Gärung im Lande und als Appell zum Umsturz dar. „Politische Hetze“ nannte die Gedichte ein Denunziant – Chefredakteur einer bürgerlichen Zeitschrift – in einem Brief an die zaristische Hauptverwaltung für Pressewesen; der Mann begriff recht gut, daß mit den „Lilien auf dem Feld“ gemeint war, wer von fremder Arbeit lebte, und daß Rainis’ Versapokalypse „Das Jüngste Gericht“ den Untergang der „Lilienwelt“ suggestiv vorzeichnete. Der Zensor, der das Buch mit geringen Streichungen hatte durchgehen lassen, mußte sich verteidigen: Es handele sich bei den verdächtigen Gedichten nur um Naturbilder oder um Bearbeitung biblischer Themen. Wie wenig diese Lesart zutraf, bezeugt die Resonanz des Buches im lettischen Volk. Die fortschrittlichen Kreise nahmen es mit ungewöhnlicher Begeisterung auf, es wurde rasch populär, und vor und während der Revolution, die 1905-1907 das zaristische Rußland erschütterte, rezitierte man in Lettland Rainis’ Gedichte auf Massenversammlungen und sang man seine „Föhren“ als Kampflied. Ein Augenzeuge berichtet von einer Veranstaltung, auf der Rainis selber seine Verse vortrug:

Wir erwarteten eine mächtige, klangvolle Stimme, doch wir täuschten uns. Rainis sprach leise, ein wenig abgehackt, ohne den erhofften Schwung. Aber seine Gedichte wirkten auch in dieser Form… Seine Persönlichkeit und Autorität fesselten, und aus den Worten der Dichtung sprachen die Gedanken des Volkes. Mit gespannter Aufmerksamkeit lauschten alle, und nach jedem Gedicht wurde applaudiert und gerufen: „Es lebe Rainis! Es lebe die Freiheit! Es lebe die Revolution!“ Rainis’ Auftreten wurde zu einer regelrechten Demonstration… Am meisten erregte die Leute sein „Jüngstes Gericht“, … wir waren ebenso wie Rainis überzeugt, daß „die stumme Erde den Schlund öffnen“ und die Tyrannen verschlingen würde.

Rainis’ Lyrikzyklus wurzelte – als erste unter den bedeutenden lettischen Dichtungen – in der sozialistischen Ideologie und in der Realität des proletarischen Klassenkampfes, woraus sich die Wirksamkeit der Gedichte im gegebenen historischen Moment erklärt. Doch dem lebensnahen Ideengehalt entsprachen keinesfalls immer lebensgetreue künstlerische Ausdrucksformen, Rainis verwendete häufig romantische Stilmittel, die ihm den überhöhten Ausdruck ermöglichten und überdies der Zensur weniger Angriffspunkte boten. Eine Reihe von Gedichten sind realistisch gestaltet, sie lassen es bei der Gesellschaftskritik bewenden, und die in ihnen wiedergegebenen sozialen Verhältnisse erscheinen gewissermaßen als Ursache für die Depressionen des lyrischen Helden, den Rainis im Auf und Ab zuversichtlicher und verzagter Stimmungen gestaltet. Der resignierend passiven Haltung wird ein außerordentlich starker Appell zur Aktivität entgegengesetzt: Aktivität vom Aufgebot allen Willens gegen den „alten Ekel vor dem Leben“ bis zum bewußten, unbeirrbaren Kampf für die radikale Änderung der menschenfeindlichen Lebensumstände. Und dies vor allem ist die Domäne der romantischen Mittel: Rainis läßt Allegorien und Symbole sprechen, wobei er die vertrauten Erscheinungen der heimischen Natur und auf neue, überraschende Weise biblische und folkloristische Motive umdeutet.
Das revolutionär-romantische Element verstärkte sich im nächsten Zyklus, „Saat des Sturmes“, dessen Erscheinen mit der Verschärfung der schweren Klassenkonflikte und dem beginnenden Gegenangriff der Reaktion im Herbst 1905 zusammenfiel. Rainis hatte sich sofort nach seiner Rückkehr aus dem Exil in die praktische revolutionäre Tätigkeit eingeschaltet. Seit Gründung (1904) Mitglied der Lettischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, verfocht er in illegalen und legalen Zusammenkünften und Aktionen ihre Ziele, und im Oktober 1905 wirkte er im Rigaer Strandbezirk an der Aufstellung von bewaffneten Arbeiter- und Bauernkampfgruppen mit. Doch der höchste Effekt blieb seinem dichterischen Wort vorbehalten. Rainis’ Verse verbreiteten sich wie Lauffeuer, und die Revolutionäre bedurften zum Verständnis der Natursymbolik wohl kaum der Vergilius-Worte, die der Dichter dem Zyklus „Saat des Sturmes“ vorangestellt hatte:

Arma virosque cano – Ich singe von Männern und Waffen. „… Der Augenblick war herangereift, und wir alle lebten in einem schaurig schönen Vorgefühl… Wenn ich jetzt die alten Gedichte lese, dann verblüfft mich, welch heiterer und übermütiger Geist darin herrscht“, charakterisierte Rainis 1925 rückblickend das Pathos des Zyklus.

Die erste große Nachricht überraschte mich damals am Meer, bei Frühlingsanbruch, und das Meer und die Bilder des Frühlings und die Gedanken bedrängten mich und überfluteten die Gedichte.

Aus „Saat des Sturmes“ spricht die Revolution in Aktion, und der lyrische Held verschmilzt mit der Gemeinschaft der Kämpfenden. Als Sinnbild der Freiheit, des künftigen glücklichen Lebens im Sozialismus, des Ideals wählte Rainis die Sonne. Die Sonnengestalt in seinem Schaffen bedarf besonderer Erwähnung als zentrales Symbol, dem er originelle Aspekte abgewann, das von Zyklus zu Zyklus vielschichtiger wurde und zur Versinnbildlichung immer komplizierterer Erscheinungen und Zusammenhänge diente, so zum Beispiel im allegorischen Revolutionspoem Ave, sol! (1910) und im philosophischen Zyklus Ende und Anfang, wo die Sonne unter anderem das der dialektischen Entwicklung in Natur und Gesellschaft innewohnende produktive Prinzip symbolisiert.
Die letztgenannten Bücher gehören bereits zu Rainis’ Emigrationswerken. Seit 1906 lebte er mit Aspazija im Schweizer Städtchen Castagnola, wo ihn die zaristische Polizei noch bis 1911 bespitzelte. Aus Lettland erreichten ihn erschütternde Nachrichten. Zu Beginn des Jahres 1907 erlagen die Revolutionäre der Übermacht, und für Rainis’ Heimat begann – wie für das ganze multinationale Rußland – ein Zeitabschnitt, der aus der Geschichte als Periode der Stolypinschen Reaktion bekannt ist. In Lettland griff die zaristische Regierung zu extrem grausamen Vergeltungsmaßnahmen, da die Volkserhebung hier heftiger als anderswo gewesen war. „Während der Revolution nahmen das lettische Proletariat und die lettische Sozialdemokratie einen der vordersten und wichtigsten Plätze ein im Kampf gegen die Selbstherrschaft und alle Kräfte der alten Ordnung“, schrieb 1910 Lenin und betonte, daß das lettische Proletariat mehr als alle anderen dazu beitrug, „die Bewegung auf ihre höchste Stufe, das heißt auf die Stufe des Aufstands zu heben“. Der von Lenin mehrfach unterstrichene hohe Reifegrad der lettischen Arbeiterbewegung zum Zeitpunkt der 1. russischen Revolution war zweifellos die historisch-gesellschaftliche Voraussetzung für die Entfaltung des überragenden Rainisschen Talents, das sich erneut in den Werken bestätigte, die der Dichter nach der Niederlage der Revolution veröffentlichte. So in seinem noch im Dezember 1906 in Riga erschienenen und sogleich konfiszierten Lyrikband Die neue Kraft, in dem Poem Ave, sol! und im fragmentarischen Epos Das Jahr 1905. Rainis’ bedeutendste lyrische Leistung dieser Periode war der Zyklus Das stille Buch, der 1909 in Petersburg gedruckt und noch vor Auslieferung beschlagnahmt wurde – nur etwa 200 Exemplare konnten gerettet werden.
Als Rainis diesen Zyklus konzipierte, vermerkte er:

Es ist schwer, sich von den Heldentagen zu trennen; man muß zugeben, daß eine Schlacht verloren ist. Wir wollten im Sturm erobern, nun müssen wir langsam das Feld neu bestellen, müssen neue Scharen lehren, organisieren, um einen größeren Sturm zu beginnen.

Dieser „Neubestellung“ diente auch sein Stilles Buch, das er sein „Trotzlied“ nannte:

… Der Trotz, das Dennoch ist zu allen Zeiten nützlich: Wir werden unter beliebigen Umständen weiterkämpfen. sei es zu Blut-, Kriegs- oder Friedenszeiten.

Doch in diesem Buch verzichtete Rainis auf die laute Pathetik der vorangegangenen Zyklen. Später erläuterte er:

Es wurde in der schwersten Periode der Reaktion geschrieben, in den Jahren 1907-1908, als unser Land von den deutschen Baronen und den russischen Bürokraten zerstampft und gebrandschatzt wurde – man nannte das Strafexpeditionen, und man strafte uns dafür, daß wir es gewagt hatten, Mensch zu sein und von Freiheit zu reden. Totenstille umgab alles, was noch lebte; Gestank von Blut und verbranntem Fleisch war die Atmosphäre, in der alles noch Lebende atmete. Das Stille Buch hallt von diesen Schrecken wider, und doch mußte es still sein.

Der tiefe Schmerz klingt aus den Gedichten ebenso verhalten wie die ungebrochene Leidenschaft des Rebellen. Der Dichter gestattete sich nicht einen einzigen Augenblick der Resignation, wie er es im „Fernen Nachhall…“ getan hatte. Seine Zuversicht fand er durch die Realität, die ersten Anzeichen einer revolutionären Wiederbelebung in Rußland, bestätigt: „Spürt ihr denn nicht, daß das Rad den toten Punkt überwindet?“ Die „Überwindung des toten Punktes“ bestimmt die Anordnung der Gedichte. Von der Trauer, von der Bewunderung für den Heroismus der Gefallenen wird übergeleitet zum Spott über die Abtrünnigen; dann weiter zum Dennoch, zu nur leicht poetisch verhüllter Propaganda des wissenschaftlichen Sozialismus sowie „stillegemäßer” Verhaltensweisen und zur Prognose der „Geburt einer neuen Sonne“. Weit mehr als in Rainis’ anderen Zyklen verschmelzen hier Dichtung und Politik. Fast mochte man den Band ein Lehrbuch für Theorie, Moral und Taktik des Klassenkampfes in der Periode der Stolypinschen Reaktion nennen. Rainis stand abseits der innerparteilichen Auseinandersetzung um die weitere Politik der Sozialdemokraten in Rußland, doch mit seinem Stillen Buch wies er sich faktisch als Bolschewik aus. Ein ungewöhnliches poetisches Bekenntnis zu einer Zeit, als viele Schriftsteller des zaristischen Rußlands, darunter auch ehemalige Kampfgefährten von Rainis, ihre revolutionären Ideale begruben und sich in die Dekadenz flüchteten.
Unter dem unmittelbaren Eindruck der Revolution schuf Rainis auch einige seiner bemerkenswertesten Dramen. Bereits 1903 hatte er mit der Komödie Der Halbidealist“ im dramatischen Genre debütiert. Doch sein erstes Bühnenwerk von Rang war das philosophische Versdrama Feuer und Nacht, das er 1905, noch vor seiner Flucht aus Lettland, beendet hatte. In der Schweiz schrieb er sechs Stücke in Versen: Das goldene Roß (1909, dt. 1922), Indulis und Ārija (1911), Dünawind (1913, dt. 1922), Ich spielte und tanzte (1919), Joseph und seine Brüder (1919, dt. 1921) und Der Rabe (1920). Außerdem begann er die Arbeit an seinem letzten bedeutenden Stück, der Tragödie Ilja Muromez (1922). Obwohl Rainis gewöhnlich Stoffe aus der Folklore und Geschichte wählte, waren seine Bühnenwerke – er nannte sie treffend „Ideendramen“ – stets gegenwartsbezogen.
Je länger das Exil währte, um so schwerer litt der Dichter unter der Trennung von der Heimat. Seine Sehnsucht, die Sorge um die Zukunft seines Volkes prägte den Lyrikzyklus Sie, die nicht vergessen“ (1911). „Emigrantenlieder“ wollte er ihn erst nennen, nannte ihn dann „Herbstlied“ – im Gegensatz zu seinem „Frühlingslied“: „Saat des Sturmes“. Herbstlich ist hier die Sonne, glanzlos sind Farben und Bilder. Unpathetisch und unheroisch, ja mitunter verzagt sind die Gedichte: „Aussicht auf Heimat und Zukunft haben wir nicht.“ Und doch atmet auch dieses Buch, das „stiller ist als das ,stille‘“, beherrschte Zuversicht, die der Dichter aus der Gewißheit schöpfte, daß nicht er allein hoffte. „Viele einsame Herzen sind verstreut über die großen Wüsten wie rote Beeren in herbstlich leeren Sümpfen“, schrieb er im Vorwort.

Sie alle lieben und können nicht vergessen. Sie schweigen und leiden vielleicht mehr als dies Herz, das sterben müßte, wenn es nicht redete und das Leid der anderen ausspräche, das einzig auch sein Leid ist. Und Tausende Herzen in der Heimat… können sie denn vergessen und zu lieben aufhören?

Und eine scharfe Replik an Kleinmütige in einer Notiz:

Ihr sehnt euch nach einem sonnigen Winkel, ich nicht; Frieden brauche ich, um weiterzugehen, für mich gibt es keinen Frieden. Vergessen wollt ihr, wir sind die, die nicht vergessen.

Dies „Nichtvergessen“ der vergangenen Kämpfe und der Ideale tönte als Leitmotiv durch die wehmütigen lyrischen Meditationen des Emigranten. Rainis’ Grübeleien über das Schicksal seines Volkes mündeten in proletarischen Internationalismus und in die Vision einer von der Arbeiterklasse erkämpften weltumfassenden Gemeinschaft freier Menschen, in der alle Völker aufgehen.
1912 erschien mit dem Untertitel „Eines Lebens Winterlied“ Rainis’ nächster Gedichtband: Ende und Anfang. „… Dies ist meine intimste und persönlichste Dichtung“, schrieb der Verfasser rückblickend im Jahr 1925.

Um 1910 ließ mich das ,große Werk‘ los, es bedurfte meiner nicht mehr, ich konnte an mein eigenes Werk gehen, das Herz konnte sich selber finden.

Der Dichter empfand es schmerzlich, daß er am „großen Werk“ – den politischen Kämpfen in seiner Heimat – nicht praktisch mitwirken konnte. Außerdem türmten sich zwischen ihm und der lettischen Sozialdemokratie allmählich Meinungsverschiedenheiten. Sie wurzelten zum größten Teil in der sich damals vollziehenden Spaltung der Partei in Bolschewiki und Menschewiki – ein Prozeß, den Rainis nicht durchschaute. Nach und nach begann er sich unverstanden und einsam zu fühlen. Die Isolation lenkte ihn auf den Intimbereich. Doch dies Herz, das sich in der unerwünscht eingetretenen äußeren Ruhe selber suchte, war das Herz eines Revolutionärs geblieben und fand seine Erfüllung in den großen weltverändernden Aufgaben des Menschen. Die Erfahrungen seines schmerzensreichen inneren Weges zur Erfüllung – konnten sie nicht, philosophisch und künstlerisch verallgemeinert, den Vollziehern des „großen Werkes“ nützen? Und Rainis eignete sein intimstes Buch denen zu, die nach seiner Überzeugung als historische Kraft berufen waren, „der Menschheit schmerzverletzte Seele“ zu heilen: „Grundklasse, dir…“
Bei der Arbeit an dem Zyklus notierte sich Rainis unter anderem:

Dieser… Gedichtband korrespondiert mit dem Fernen Nachhall… Dort sucht und findet sich die Persönlichkeit in der Revolution. Hier geht sie von der Revolution, vom Sozialismus, von der Freiheit der Menschheit aus, sondert sich ab und findet sich und die Menschheit im Kosmos.

Die proletarische Revolution setzt der Dichter hier als gelöstes, zumindest innerlich gelöstes Problem voraus, er besinnt sich auf allgemein menschliche Widersprüche, die Leid verursachen und gelöst werden wollen.

Das Leid und der Tod rühren doch gerade von der inneren Disharmonie her, von den ungelösten Fragen, wie man sich verhalten soll zu Vergangenheit, Natur, Liebe, Arbeit, zu sich selber. Also muß ich all diese Abschnitte ungelöst lassen, alle beenden mit einer Frage, mit Zuspitzung, Zweifeln, Unzufriedenheit, und die Harmonie wird für alle Abschnitte nur darin gefunden, daß man sich von allem Fremden befreit.

Diese Befreiung dachte sich Rainis keinesfalls mystisch, gemeint war die Besinnung auf das Wesentliche: die schöpferische Arbeit. Entsprechend dieser Konzeption baute Rainis seinen Zyklus auf, wobei er die Strophen des Gedichts „Ich rolle…“ als Überschriften vor die einzelnen Abschnitte setzte und sie dann zusammenfaßte – außer der ersten Strophe, die zur Einleitung gehört. Nach Rainis’ eigenen Aufzeichnungen ist der Zyklus wie folgt gegliedert: 1. Einleitung; 2. Vergangenheit; 3. Natur; 4. Liebe; 5. Arbeit, selber, Bewegung; 6. Leid; 7. Zum Tode hin; 8. Einsamkeit; 9. Werdende Seele; 10. Vereinigung im Kosmos. Durch „sieben Welten“, versinnbildlicht durch sieben Kränze und sieben Regenbogenfarben, irrt der Suchende. Nicht der nahende Tod schreckt ihn am meisten, er überwindet ihn gedanklich: „… in der Reife deines Werks / Lebst weiter du“, sterben aber heißt in eine andere materielle Form übergehen. Furchtbarer als der Tod ist der „Berg der Stille“ – die Einsamkeit, die zur Unproduktivität verurteilt. Sie birgt das tiefste Leid, und nach ihr schließt der Dichter die sieben Problemkreise. Im resümierenden Gedicht „Ich rolle“ begegnen sich Ende des inneren Niedergangs und Anfang des Aufstiegs. Das lyrische Ich ermannt sich zur Abkehr von allem Quälenden; die Besinnung auf die Kraft des menschlichen Geistes, auf seine Fähigkeit, die soziale und die naturgegebene Welt nach seinem Willen umzugestalten, löst die schmerzhaften Widersprüche und wird zur Quelle echten Glücks.
Das Buch umfaßt 172 Gedichte, und ihre Entstehungszeit. 1901–1912, läßt abermals erkennen, daß Rainis seine Lyrikbände als festumrissene Zyklen konzipierte, in die nur Aufnahme fand, was zur Idee des Zyklus paßte. Unsere kleine Auswahl konnte die Grundlinien der meist recht umfangreichen Zyklen nur andeuten. Weil reichhaltiger, als Auswahl, Nachdichtung und Kommentar vermitteln können, ist auch die Verskunst der Rainisschen Dichtung.
Einen Blick in seine poetische Werkstatt gewährt folgende Notiz über die Arbeit an Ende und Anfang: „I. Beachten, daß alle Epitheta ornantia neu sind. 2. Die Vierfüßigen meiden. 3. Singbarkeit. 4. Einfachheit, ohne die üblichen Ausrufe. 5. Frische in Bildern und Gedanken. 6. Neue Wörter aus dem Wörterbuch. 7. Wortneuschöpfungen. 8. Neue Reime.“ Forderungen, die der Dichter in hohem Maße beherzigte. Bemerkenswert ist unter anderem der metrische Formenreichtum dieses Zyklus. Rainis bevorzugte von jeher die klassischen sowie die der Folklore entlehnten Versmaße, Reimarten, Strophenformen, die er häufig eigenwillig abwandelte. Im „Fernen Nachhall“ hatte er ein neunzeiliges Sonett geschaffen (vgl. „Der verlorene Sohn“). In Ende und Anfang verwendete er erstmalig auch eine Sonettform aus sechs Zeilen. Abgewandelte italienische Ritornelle, zum Beispiel in „Ich rolle…“, vom lettischen Volkslied hergeleitete Metren wie in „Ein später Gast“, reine antike Versformen – das ist nur ein Teil der metrischen Ausstattung dieses Zyklus. Die hyperbolische Akzentuierung der geistigen Kraft, nützlich und legitim bei der literarischen Gestaltung des revolutionären Helden, führte den Dichter im Bereich der Philosophie und der Theorie der sozialistischen Revolution zu einigen fragwürdigen Schlüssen: Er überschätzte die Rolle des menschlichen Bewußtseins in der geschichtlichen Entwicklung. Widersprüchlich entwickelte sich in den Exiljahren auch seine Haltung in der nationalen Frage. Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges verfaßte er im Namen lettischer Emigranten eine Protestresolution gegen den Verrat der deutschen Sozialdemokratie sowie ein Protestschreiben gegen die beabsichtigte Annexion Lettlands durch das deutsche Kaiserreich, worin er „Ein freies Lettland in einem freiem Rußland“ forderte. „Die Formel ,ein freies Lettland in einem freien Rußland‘ bedeutet ein sozialistisches Lettland in der Föderation eines sozialistischen Rußlands“, präzisierte er später. Doch zugleich klammerte er sich an den Trugschluß, daß eine Art Aktionseinheit aller Klassen das kleine lettische Volk vor der Vernichtung im Krieg bewahren könnte. Solche Ansichten prägten seinen Gedichtzyklus Sei gegrüßt, freies Lettland! (1919) und das Poem Daugava (1919), zwei Dichtungen, mit denen er den Widerstandswillen seines Volkes stärken wollte.
Nachdem 1918 in Lettland die Sowjetmacht proklamiert worden war, trug sich Rainis mit dem Gedanken heimzukehren. Nach kurzem Bestehen erlag der lettische Sowjetstaat dem Angriff der Entente, und Lettland wurde eine bürgerliche Republik mit menschewistischer Regierung. 1920 kehrte das Dichterehepaar, vom Volk begeistert empfangen, in die Heimat zurück. Rainis wurde als sozialdemokratischer Kandidat in die Konstituierende Versammlung und später mehrmals ins Parlament gewählt, ein Jahr lang war er Bildungsminister. Doch sein Bestreben, in diesen Ämtern und in seiner gesellschaftlichen Tätigkeit die Interessen der Werktätigen zu vertreten, scheiterte. Sehr bald mußte er seinen anfänglichen Illusionen über das „freie Lettland“ entsagen. Da es den herrschenden Kreisen nicht gelang, den beliebten Dichter vor ihren Karren zu spannen, ließen sie ihn ihren Haß spüren: Mit Intrigen, Verleumdungen, schmutzigen Anwürfen vergällten sie ihm das Leben. Aber er brachte nicht die Kraft auf, mit den Sozialdemokraten zu brechen und sich der von den Kommunisten geführten illegalen Arbeiterbewegung anzuschließen. Er spielte mit dem Gedanken auszuwandern, besonders zog ihn die Sowjetunion an, doch fiel es ihm schwer, der Heimat erneut den Rücken zu kehren.
In dieser für ihn tragischen Situation fand er, wie immer, Halt in der Arbeit. Er wirkte rege auf kulturellem Gebiet. Von 1921 bis 1925 war er Direktor des Nationaltheaters. 1926 rief er eine „Gesellschaft für kulturelle Annäherung an die Völker der UdSSR“ ins Leben, deren Vorsitz er übernahm. Vor allem aber schrieb er – Lyrik, Dramen, Kinderverse und Stücke für Kinder. 1923 erschien Die Muse zu Hause, eine Sammlung von Gedichten, die er zu aktuellen Anlässen verfaßt hatte. Er arbeitete an vielen Werken, die zu vollenden ihm nicht mehr beschieden sein sollte, Dic nachgelassene Lyrik (aus allen Schaffensperioden) wurde später in mehreren Büchern herausgegeben. Einige von ihnen sind nach Rainis’ Konzeptionsentwürfen aufgebaut, so eine Auswahl politischer Gedichte, Die Muse im Kampf (1940), und die intim philosophischen Bände Lieder der Seele (1935) sowie Blumen der Felsenkluft (1937).
Das bedeutendste lyrische Werk, das Rainis in den zwanziger Jahren veröffentlichte, war der große Zyklus Dagdas fünf Skizzenhefte. Er besteht aus fünf kleineren Zyklen: „Addio, bella!“ (1920), „Schlangenworte“ (1920), „Nach Hause“ (1920), „Silbernes Licht“ (1922), „Mondmädchen“ (1925). Der Dichter verbarg sich diesmal hinter einer fiktiven Gestalt, dem Emigranten Dagda, und nannte den Zyklus einen „Roman über ein Leben“. „Hier… sind es Gedichte als Gefühl, in denen sich die Seele äußert, und die Umstände werden nicht dargestellt“, erläuterte er die ungewöhnliche Form des Zyklus. „Kein Versroman also, sondern ein Roman in Gedichten; nicht in ununterbrochenem, gemächlichem Fluß, sondern in einzelnen hervorgehobenen Momenten.“ Nach Rainis’ Terminologie könnte man den Zyklus einen tragischen Liebesroman nennen. Die drei Hefte „Addio, bella!“, „Silbernes Licht“ und „Mondmädchen“ enthalten vorwiegend romantische Liebeslyrik. Die Gestalt der Geliebten erscheint außer in einer realen auch in einer symbolischen Ebene. Als Sinnbild verkörpert sie die Heimat, doch auch das Gute, Humane, das Leben an sich und so, in der Synthese, die vom Dichter erträumte glückliche Zukunft der Menschheit (ähnlich der Sonnengestalt). Die unerfüllte Liebe des Dichters zu seiner Heimat verbindet alle fünf Hefte. 1918, bei der Konzipierung von „Nach Hause“, vermerkte er: „Der Inhalt also: Heimkehr, aber in der Mitte schon und am Ende die Voraussage, daß man wieder würde wegfahren müssen und für immer.“ Trotz dieses Vorgefühls stimmte der Dichter, wie er es selbst ausdrückte, bei seiner Heimkehr „ein Sommerlied“ an. „… Doch bald schon erstarrte es in Eis. Die Sommer sind ja in Lettland nicht warm und oft auch noch verregnet“, schloß er mit bitterer Ironie. „Silbernes Licht. Meines Heimatjahrs Fata Morgana“ nannte er sein eiserstarrtes Sommerlied. Wie eine Fata Morgana zerstob sein Traum vom „freien Lettland“, von der Sonne, die „allen Kummer nimmt“, und nach und nach verdrängte der kalte Glanz des Mondes das lebenspendende Sonnenlicht aus der Welt seiner Dichtung. Das Ideal, nun durch eine Kluft von der Realität getrennt, fand sein Sinnbild in der schönen, doch erdentrückten Gestalt des Mondmädchens. Dagda verläßt die Geliebte und die Heimat – die realen, im Augenblick unbefriedigenden Inkarnationen des Mondmädchens – um des Ideals willen, doch nicht, um ihm blind nachzujagen, sondern – wie eine Notiz bestätigt – um es zu prüfen:

Eine Krise in ihm selbst: Er muß sein und ihr Glück opfern, damit beide über sich Klarheit gewännen. Er will zu sich kommen, alles durchdenken…, mehr sich und die Welt kennenlernen, und der Ausweg ist die Flucht, um zurückzukehren.

Doch diese Rückkehr gelang dem Dichter nicht mehr, er „blieb bei sich, abgewandt“. Gleichsam eine Fortsetzung des „Mondmädchens“ ist eine Reihe kurz vor dem Tode verfaßter Gedichte: Völlig vereinsamt, von den Kräften isoliert, die um die Verwirklichung seiner Ideale kämpften, suchte er seelische Zuflucht bei seiner Idealvorstellung vom künftigen (sozialistischen) Menschen und von der künftigen (sozialistischen) Gesellschaft.
Rainis starb am 12. September 1929 an Herzversagen. Zehntausende gaben ihm das letzte Geleit. Die Vertreter der illegalen LKP, die an seiner Grabstätte einen Kranz niederlegten, wurden verhaftet. Auf dem Trauerband standen die Worte:

Wir sind die, die nicht vergessen… Dich, greiser Bannerträger der Grundklasse. grüßen wir!“

Als Gorki 1934 auf dem 1. Kongreß der Sowjetschriftsteller die literarischen Leistungen kleiner Nationen würdigte, gedachte er auch Rainis’:

… Die Letten brachten den machtvollen Dichter Rainis… hervor – es gibt kein noch so kleines Land, das der Welt keine großen Künstler des Wortes gegeben hätte.

In seiner Heimat hatte Rainis drei Jahrzehnte lang das Niveau der Lyrik bestimmt. Die Größe seines Talents erkannte auch die lettische Bourgeoisie, die sein Werk zu usurpieren suchte, wobei sie insbesondere die Zyklen Ende und Anfang und Dagdas fünf Skizzenhefte im Sinne bürgerlicher Verfallsliteratur umzufälschen bemüht war. Doch das Schicksal seiner Dichtung nach seinem Tode gab der fortschrittlichen inländischen Literaturkritik recht, die – von der sowjetischen Kritik unterstützt – Rainis’ Werk als Teil der proletarischen Kultur verteidigte. In der Sowjetunion wurden bereits vor 1940 seine ausgewählten Werke in lettischer und russischer Sprache herausgegeben. 1940 ehrte die Regierung der wiedererrichteten Sowjetrepublik Jānis Rainis postum mit dem Titel Dichter des Volkes. Heute bestätigen zahlreiche exakte Forschungen die unbestreitbare Zugehörigkeit seines Werks zum sozialistischen Literaturerbe. Die Hoffnung des Dichters auf eine Heimstatt im Herzen seines Volkes hat sich erfüllt. Seine Bücher erscheinen in hohen Auflagen, viele Institutionen und andere Arbeitsstätten tragen seinen Namen. Jedes Jahr um den 11. und 12. September werden dem Dichter zu Ehren in ganz Lettland „Tage der Lyrik“ veranstaltet. Die Ausstrahlung seiner Dichtung und Persönlichkeit, seit der Jahrhundertwende von der gesamten lettischen Literatur resorbiert, spiegelt sich, durch ungezählte Prismen gebrochen, in der lettischen Sowjetliteratur.
Inzwischen sind Rainis’ Dichtungen in vielen Sprachen der Sowjetunion erschienen. Einzelne Dramen und Gedichte wurden – teils bereits früher – ins Deutsche, Englische, Französische, Tschechische übertragen. In der Volksrepublik Polen erschien eine Lyrikauswahl. Dies ist die erste deutschsprachige Ausgabe seiner Gedichte.

Welta Ehlert, Nachwort, September 1973

 

Jānis Rainis

„Dies mein einziges Leben ist ganz der Vorbereitung des Sozialismus gewidmet… Meine Dichtung ist für das Proletariat.“ Der Lette Jānis Rainis (1865-1929) untermauerte sein Bekenntnis durch revolutionäre Aktivität und dichterische Aussage. Der Zar ließ ihn seine politische Tätigkeit mit fünf Jahren Verbannung entgelten. Doch der Dichter Rainis zahlte es dem Monarchen heim: Seine allegorisch-romantischen Verse aus den Zyklen Ferner Nachhall am blauen Abend und Saat des Sturmes waren 1905 eine gefürchtete Waffe lettischer Revolutionäre. Der Gendarmerie entging der „Aufwiegler“. Aus dem Schweizer Exil drang ans Ohr seines von Strafexpeditionen gepeinigten Anderthalbmillionenvolkes sein „Trotzlied“, geschrieben ins Stille Buch. Die Trennung von der Heimat, fünfzehn Jahre, verlieh der Stimme des Dichters verinnerlichten Klang. Doch auch die intime, philosophische Lyrik des Zyklus Ende und Anfang dachte er der „Grundklasse“ zu, dem Proletariat. 1920 ins nunmehr bürgerliche Lettland heimgekehrt, wollte er die parlamentarische Demokratie für seine Ziele nutzen. Diese Illusion führte ihn in tragische Einsamkeit, die seine Liebeslyrik – Dagdas fünf Skizzenhefte – überschattet.

Rainis’ literarisches Werk, zu dem auch Dramen gehören, ist ein Stück bedeutenden sozialistischen Kulturerbes der Sowjetunion. Unsere Auswahl – erste deutschsprachige Veröffentlichung seiner Lyrik – enthält Gedichte: vornehmlich aus seinen wichtigsten Zyklen.

Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1974

 

Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973

 

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