… Und die fünf alten Bauern schnitzten mir während der Verbannung einen schön verzierten Stuhl damit ich nicht auf der Erde sitze sagten sie und meine Hose beschmutze
und ich war zärtlich verbittert weil sie mich so umsorgten als stünde ich etwas über ihnen
und ich sagte den anderen fünf aus Thessalien mein ganzes Leben habe ich mit Schreiben zugebracht
sagte es ganz schlicht meinen Stolz zu verbergen
Und da sagte Charalambos
das ist ja ’ne schöne Wichserei
und Thanasis etwas romantischer veranlagt sagte
das ist ständiger Beischlaf mit dem Weltall
und er ist ja nie erschöpft davon setzte Michalis hinzu
und ich wiederholte still für mich wie einen weltumspannenden Eid
aaaaaaaaaadas Unerschöpfliche das Unerschöpfliche
aaaaaaaaaadas Unerschöpfliche
und legte in die vier Ecken des Horizonts vier Eier als Symbole
aaaaaaaaaagefiederter Genesis
obwohl ich die pompösen Ausdrücke verabscheute und die einfachen Dinge und die stummen Gesten bevorzugte…
Ich wußte zunächst nicht…, daß er der größte lebende Dichter dieser unserer Zeit ist; ich schwöre, daß ich es nicht wußte. Ich habe es nach und nach erfahren, von einem Gedicht zum anderen, ich würde sagen, von einem Geheimnis zum anderen, denn ein jedes Mal war es der Schock einer Enthüllung, den ich verspürte. Die Enthüllung eines Menschen und eines Landes, die Tiefen eines Menschen und die Tiefe eines Landes.
Louis Aragon
1
Ich kannte diese Worte Aragons, als ich im Mai 1984 eine Einladung von Jannis Ritsos zu einem Besuch in Athen erhielt. „Ich bin mit der Idee, eine bibliophile Ausgabe meines Poems Das ungeheure Meisterwerk herauszugeben, vollkommen einverstanden und wünsche mir eine schnelle Realisierung“, hatte er geschrieben. Wenige Monate später saß ich ihm gegenüber. Einige Literaten haben nach einer Begegnung Details seiner Physiognomie beschrieben. „Solch einen Bart tragen die Heiligen in der Kirche meines Dorfes“, las ich in den Aufzeichnungen des Griechen N. Sein deutscher Kollege K. befand:
Sein Aussehen – typologisch nahe dem männlichen Hollywood-Ideal der dreißiger Jahre.
Ich konnte mit diesen widersprüchlichen Charakteristiken nichts anfangen. Mich beeindruckte die Elastizität – um nicht zu sagen Eleganz – in den Bewegungen des Fünfundsiebzigjährigen, das nervöse Spiel seiner schönen und nervigen Hände, die unablässig zur Zigarettenschachtel griffen. Die Aura des Kettenrauchers – wenn es sie gibt −, hier wäre sie vielleicht zu finden. Unwillkürlich mußte ich an einige Fakten aus der Biographie des Dichters denken: schon in der Kindheit verlor er Mutter und Bruder durch Tuberkulose und erkrankte selber an diesem Lungenleiden während seiner Studienzeit in Athen.
Mein Besuch fiel in die Mittagsstunde. Ein grelles Licht drang durch die weit geöffneten Fenster in den kleinen Raum. Ritsos fragte gleich nach der herzlichen Begrüßung und noch bevor wir den Kaffee nahmen nach meinen ersten Eindrücken. Diese grelle, entblößende Helligkeit habe mich irritiert, schon im Flug über der Ägais, dann auf der Akropolis und auch am Fuße des Poseidon-Tempels von Sunion, bemerkte ich. Ritsos antwortete mit einer ganzen Theorie. A. dolmetschte, denn wir unterhielten uns durch den Mund einer dritten Person:
Wenn Sie nach den Produktionsbedingungen von Kunst unter den spezifischen griechischen Voraussetzungen, klimatischen und landschaftlichen, fragen, dürfen wir nicht vergessen, daß immer nur aus Antinomien heraus große Kunst entsteht. Aus dieser von Helligkeit überfluteten Mittelmeerlandschaft und ihrem grellen Licht erwuchs die psychologisch düstere Welt der Tragödie. Die Griechen besitzen eine impulsive, widersprüchliche Mentalität. Um sie zu kompensieren, ein wenigstens geistiges Gleichgewicht wiederherzustellen, entwickelte sich in der Antike das vernunftgemäße Denken, ein Offenlegen der Abgründe des menschlichen Geistes durch das überall eindringende griechische Licht, ein immer tieferes Erfassen der wesentlichen Gegensätze, eine ständige Annäherung an die Substanz des Lebens.
Ich hatte vor dem Gespräch den Delphi-Essay von Seferis gelesen, einen Hymnus auf die Symbiose von antiken Bauwerken, Landschaft und Licht. Die im gleißenden Sonnenlicht sich spiegelnden Fenster der Wohnung, durch die der Pausenlärm aus einem gegenüberliegenden Schulhof drang, veranlaßten mich, Ritsos zu fragen, was ihm Licht bedeute. „Ich brauche das Licht zum Arbeiten, viel Licht zum Arbeiten, viel Licht zum Lieben“, antwortete er spontan.
In erster Linie bin ich ein Mensch, der beobachtet. Ich bin ein visueller Mensch, nehme alles über die Augen auf. Darum müssen immer alle Fenster geöffnet sein. Dunkelheit und Zwielicht mag ich nicht. Doch eine Sache nehme ich mit dem Gehör genauso scharf auf wie die Welt mit Augen: die Musik.
Um unser Gespräch über Landschaft und Licht wohl auf einen Punkt zu bringen, gab er mir beim Abschied den Rat, unbedingt nach Delphi zu fahren.
Als ich das Mietshaus mit der Nummer 39 in der Korakastraße verließ, wurde mir überdeutlich bewußt, daß ich es eigentlich in Erwartung von etwas Sagenhaftem betreten hatte, denn für den Fremden ist Griechenland stets noch von Mythen eingehüllt, und viele seiner Bewohner machen diesen Mythos ja nicht selten zu ihrer Geschichte. In meiner Erwartung noch bestärkt hatte mich Günther Kunert, der nach einer Begegnung mit Ritsos diesen mit Antäus verglich. Die enge Bindung an sein Griechentum, so schrieb Kunert, „verleiht doch diesen Manne etwas Eigenartiges, Fremdartiges, eben Archaisches, das, um ein Bild sprechen zu lassen, ihn zum letzten Exemplare einer aussterbenden Rasse von Giganten macht“.
Ich hatte diese Beschreibung einst mit gemischten Gefühlen gelesen. Nach dieser Begegnung wußte ich, daß ich einem Dichter gegenübergesessen hatte, der in Person und Werk zwar das verpflichtende Erbe der Antike bewahrt hat, aber dennoch kein „Klassizist“ ist. Weder idealisiert Ritsos das griechische Altertum, noch betrauert er den Untergang seiner Götter und Giganten, Tempel und Kulte. Doch Einschmelzung von Mythologie und Historie in die Gegenwartsstoffe ist für ihn ein unveräußerliches Prinzip seiner ästhetischen Praxis. Als einer der Erneuerer der griechischen Dichtung fußt er auf Kostas Palamas (1859–1943), der den Attizismus, eine Form des Altgriechischen in der Literatur, zurückdrängte und ihre Öffnung hin zum neugriechischen Volksidiom vorbereitete. Ritsos kennt den Kontrast zwischen verklärender „Ägäis-Poesie“ und jüngster griechischer Wirklichkeit:
Sehr gedürstet haben wir, am Stein gearbeitet, den ganzen Tag. Unter unserem Durst wachsen die Wurzeln der Welt.
Und wieder mußte ich an Worte Aragons denken. Ergriffen von der emotionalen Tiefe und künstlerischen Wahrheit eines patriotischen Gedichtes bemerkte er, daß Ritsos’ Verse „in ihrer Größe so wenig der Heldendichtung gleichen…, weil das Pathetische in der Einfachheit der Dinge liegt“.
2
Ritsos wurde am 1. Mai 1909 als Sohn eines später verarmten Gutsbesitzers an der Südostküste der Peloponnes geboren. Er besuchte von 1921 bis 1925 das Gymnasium von Gythion und arbeitete nach der Übersiedlung in die Hauptstadt zunächst in einer Anwaltskanzlei, dann als Rezitator, Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Theatern. Zwischen seinem 20. und 30. Lebensjahr verbrachte er mehrere Jahre in Lungenheilanstalten. Hier entstanden seine ersten, künstlerisch reifen Gedichte, die 1929 erschienen. Von da an entfaltete sich sein lyrisches Werk quantitativ und qualitativ mit einer Kontinuität, die auch deshalb bewundernswert ist, weil dagegen die Diskontinuität seiner realen Existenz stand: früher Verlust der Familie, langjährige Krankheit, politische Verfolgung und in ihrem Ergebnis wiederholte Verbannung und Deportation in Konzentrationslager. 1948 bis 1952, nach dem für die griechische Demokratie so tragischen Ausgang des Bürgerkrieges, wurden die Verbannungsinseln Limnos, Makronisos und Ajos Efstratios sein entbehrungsreiches Domizil, nach dem Putsch der Obristen 1967 Jaros und Leros. Unter welchen Umständen hier Poesie entstand, das verrät uns eine Passage aus seinem Gedicht Herakles und wir:
… und sollten auch eines Tages unsere Verse ungeschickt erscheinen, so denkt daran, daß sie geschrieben wurden unter den Blicken der Wächter und mit der Lanze an der Seite.
Als am 1. Mai 1936 in Thessaloniki auf streikende Tabakarbeiter geschossen wurde, antwortete Ritsos mit seinem Eitaph. Diese Trauerklage einer Mutter über ihren ermordeten Sohn, die sich zum revolutionären Protest gegen das faschistische Regime steigerte, sollte zwanzig Jahre später in einer die Elemente der Volkspoesie unterstreichenden Vertonung von Mikis Theodorakis zu großer Popularität und nach dem Machtantritt der Obristen auch zu erneuter Aktualität gelangen. Zugleich markiert dieses Poem den Beginn einer Kette von Dichtungen, in denen der Tod, der Zug der Erschlagenen, Erschossenen und Hingerichteten allgegenwärtig ist. In einem Interview hat sich Ritsos über die Dialektik von Leben und Tod geäußert:
Die Liebe ist die Schöpferin des Lebens, das Licht des Lebens, und der Tod ist der Verlust des Lebens, ist die Dunkelheit, ist die Abwesenheit vom Leben. Wenn wir das aber in einem weiter gefaßten Sinne betrachten, werden wir sehen, daß wir gerade dem Tod das Gefühl, das Begreifen und die Notwendigkeit der Unsterblichkeit schulden. Denn wenn wir unsterblich wären, würden wir nicht danach streben, unsterblich zu werden. Wenn uns das Gefühl sagt, morgen, übermorgen, in fünf oder zehn Jahren sterben zu müssen, werden wir uns der zerstörenden Kraft des Todes entgegenstellen und Werke schaffen, die nicht nur einfach den Menschen und sein dichterisches Werk unsterblich machen, sondern auch seine Epoche. So haben wir auf der einen Seite die positive schöpferische Kraft der Liebe und auf der anderen Seite die verneinende Kraft des Todes, die schließlich durch die Vermittlung der Kunst von einer negativen in eine positive Kraft umschlagen kann.
Kostas Vernalis (1884–1973) hat in den fünfziger Jahren in seiner Aisthetika-Kritika mit einem Literaturverständnis abgerechnet, das Griechenland als „ewiges Muster“ betrachtet, demzufolge schon allein Mythos und Landschaft die Präsenz griechischen Wesens garantieren. Sein Essay Die fremden Einflüsse in unserer Literatur entlarvte die vielfach beschworene Autarkie griechischer Literatur als selbstgefällige Fiktion und deckte deren reaktionäre Hintergründe auf: „Fremde Einflüsse“ sind von übel, weil sie „revolutionäre Einflüsse“ bedeuten und das Eindringen progressiver Bewegungen ermöglichen, die wiederum auf Veränderung auch der griechischen Verhältnisse zielen könnten. Funktion und Erscheinungsweise eines solchen Rezeptionsverhaltens hat Vernalis treffend charakterisiert:
Dort, wo Dekadenz ist, wird der Mythos zum wirksamsten Mittel für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung, ist er die sicherste Garantie zur Disziplinierung der Massen.
Es war kein Zufall, daß die Obristen den Mythos eines universalen Griechentums gerade zu einem Zeitpunkt hervorkehrten, als dessen Perversion sich als allgegenwärtig erwies.
Der 1934 unter dem Titel Traktor vorgelegte erste Gedichtband von Ritsos mutet heute wie eine Vorwegnahme jener Gedanken an, die Varnalis, den Ritsos als seinen Lehrer betrachtet, mehr als zwanzig Jahre später in seiner Ästhetikkritik vorgetragen hat. Ritsos bemächtigt sich der „fremden Einflüsse“ und preist den Enthusiasmus bei der Realisierung der ersten sowjetischen Fünfjahrpläne. Nicht nur das Einbringen von Technik in Dichtung als etwas der literarischen Tradition Griechenlands bis dahin absolut Fremdes schockierte eine auf die „ewigen Werte“ setzende Kritik, auch seine unter dem Einfluß von Varnalis seit Anfang der dreißiger Jahre zunehmende Bindung an die Kommunistische Bewegung stieß auf Ablehnung. An Marx heißt ein Gedicht in dem erwähnten Band.
Die faschistische Okkupation und der nach der deutschen Niederlage mit Hilfe Großbritanniens von der Konterrevolution entfesselte Bürgerkrieg, in dem es um die politische Zukunft Griechenlands ging, sah Ritsos an der Seite der progressiven Kräfte. In Romiosini (Griechentum, 1945) wird er zum Chronisten des Widerstandes gegen die Besatzungsmacht, in späteren Poemen wie Der Mann mit der Nelke, gewidmet dem von der Reaktion ermordeten Nikos Belojannis, feiert er die Helden des bewaffneten Volksaufstandes. 1956, vier Jahre nach seiner durch internationale Proteste erzwungenen Freilassung aus der Deportation, wird das Monologgedicht Mondscheinsonate veröffentlicht. Diese in zwanzig Sprachen übersetzte Dichtung kündigt sowohl von der sinnlichen Komponente der griechischen Landschaft als auch von deren menschlicher Entleerung, von dem bedrohenden Weiß der Mondscheinnächte und der zu Stein erstarrten Gloriole, evoziert aber zugleich die Frage, wer in dieser Landschaft, unter diesem Licht, in welchen Verhältnissen lebt, unter welchen sozialen Bedingungen zu leben gezwungen ist. Auf diese Schöpfung treffen die Worte zu, die Pablo Neruda 1968 seinen eingekerkerten griechischen Freunden zurief: „Wir sehen, wie die heutigen Griechen heilige Wurzeln haben. Ihre Flügel aber, im Wind der Epoche fliegend, sind unmittelbar vor uns, den Weg der Weisheit vorwärtstreibend.“ Angesichts des stetig wachsenden internationalen Ruhmes des Dichters, der die Großen aus Kunst und Literatur, darunter Picasso, Neruda und Aragon, zu seinen Freunden zählte, konnte die griechische Regierung nicht umhin, ihm 1956 für diese zaubermächtige Dichtung den Staatspreis für Lyrik zu verleihen. Jahr für Jahr rundet sich seither das Werk des Dichters. Mehr als ein halbes Hundert Editionen – Gedichtzyklen, Dramen, Essays, Übersetzungen – zeugen von der poetischen Kreativität eines Mannes, der in seinen Angaben zur Identität stolz die Quelle seiner Schöpferkraft benennt:
Ich studierte Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft an der Zeitenössischen Fakultät des Kampfes.
3
In Ritsos’ Ungeheurem Meisterwerk, einer Louis Aragon gewidmeten Dichtung, ist die Topographie dieser Kampfplätze beschrieben, auch deren archaischer Topos. Das dichterische Ich fungiert darin als Katalysator für die Auflösung von Biographie und Geschichte durch Phantasie. „Die elementaren biographischen Angaben“, so Ritsos, „existieren in den unterschiedlichsten Formen und Masken im Gedicht selbst.“ Der Übersetzer des Werkes, A. Kutulas, hat in seinen Notaten zum Ungeheuren Meisterwerk auf die komplizierte Struktur der Dichtung verwiesen, die in Form eines inneren Monologs Reflexionen über die großen und kleinen Dinge unserer Welt zu den schmerzhaft gewonnenen Erfahrungen eines konsequent gelebten Lebens in Beziehung setzt. Zuweilen erinnern die Wortkaskaden und eine kühn gehandhabte Freiheit bei der poetischen Bildfindung an die automatische Schreibweise der französischen Surrealisten, wie sie Jaime Sabartés, Picassos Freund und „Eckermann“, anhand der Sprachversuche des großen Malers charakterisierte: Er „will alle möglichen Worte, die Verben, die ganze Hinterlassenschaft der Sprache verwenden, ihre Grazie herausputzen, die Extremitäten vollendeter Sätze verlängern und sie nach Lust und Laune auflösen, mit ihnen spielen, sich ihrer wie Hintertüren bedienen, indem er seine Gedanken umkehren läßt, ohne sie freizugeben; die Sprache will er wie plastische Materie verwandeln und etwas daraus machen, was nicht mehr dem Redefluß aus seinem Munde gleicht. Doch das Wort ist ebenso durchtrieben wie die Farbe… Es fängt zu singen an, es entreißt der Kindheit eine Erinnerung und wiegt uns zuweilen mit seinen Liebkosungen ein.“ Ritsos selbst gab auf Fragen des Übersetzers Erläuterungen zu seiner Dichtung. Sie gelangen hier gesondert zum Abdruck.
4
Malende Dichter oder dichtende Maler sind in der europäischen Kulturgeschichte keine Seltenheit, denn „Worte und Bilder sind Korrelate, die sich immerfort suchen…“ (Goethe). Jannis Ritos zählt zu diesen Doppelbegabungen. „ich bin ein visueller Mensch, nehme alles über die Augen auf.“ Aragon memoriert in seiner großen Arbeit über Henri Matisse das Farbempfinden in der Dichtung von Ritsos und setzt eine Collage aus dem Zyklus Jazz, eine mit der Schere aus weißem und blauem Papier geformte Figur, in direkte Beziehung zu dem Gedicht „Die blaue Frau (Zeugenaussagen II)“:
Sie tauchte ihre Hand ins Meer
Die wurde blau
Das gefiel ihr
Sie rannte nackt ins Meer
Sie wurde blau
Blau auch ihre Stimme und ihr Schweigen
Die blaue Frau
Alle bewunderten sie
Keiner hat sie je geliebt
„Man könnte schwören“, schreibt Aragon, „Ritsos habe den Zyklus ‚Jazz‘ gekannt, als er dieses Gedicht schrieb…, obwohl das unmöglich ist.“ Ritsos befand sich zu jener Zeit, als die Bildfolge von Matisse in einer bibliophilen Edition vorgelegt wurde, auf einer der Verbannungsinseln der Obristen. Und weil dem Verbannten Malutensilien nicht gestattet wurden, machte er das auf diesen „Trockeninseln“ vorgefundene karge Material zu seinem zeichnerischen Experimentierfeld: Steine, Knochen, Wurzeln. Sie und ihre Konsistenz stehen für die Notwendigkeit, „eine Aussage zu machen… um das individuelle Überleben zu sichern“. In Ritsos’ Essay „Steine, Knochen, Wurzeln“ heißt es:
Besonders die Verbannten, die Einzelhäftlinge, die zum Schweigen Gezwungenen, fanden in den Steinen gute Kameraden… Der Kiesel mit glatter Oberfläche oder mit gewölbten Erhöhungen, auf dem mit Filzstift oder wenig Tusche das eingeschrieben oder unterstrichen werden konnte, was der Stein selbst diktierte…, endlose Bereitschaft zum Gespräch, endlose Möglichkeiten… Dann: die Knochen. Eine weiße, zerschundene Stimme. Zu berichten hatten sie uns und wir ihnen über eine gewisse Festigkeit und Standhaftigkeit… Schließlich die Wurzeln. Du betrachtest sie genau… Bald, mit einer kleinen Feder, unterstreichst du zwei Löcher, bestimmte Furchen der Rinde, eine Mundöffnung. Hier, ein menschenähnlicher Löwe, scheinbar gebändigt, ungebändigt im Innern.
In den Knochen und Wurzeln, die das Meer anspülte, in den Steinen vom Strand erkannte Ritsos etwas zutiefst Kühnes und Menschliches, „die immerwährende Forderung nach Überleben“. Schreiben und die bildnerische Arbeit mit und an diesen Fundstücken wurden für den verbannten Dichter zum steten Bedürfnis, um „gegen seelische Zerstörung und nagende Einsamkeit anzukämpfen“.
Jannis Zaruchis, der Athener Malerfreund des Dichters, hat von dessen zauberhafter, ganz unnachahmlicher Sicht auf das antike Griechenland gesprochen. Der Leser wird an den dieser Edition beigegebenen Zeichnungen von Ritsos unschwer erkennen, daß seine Doppelbegabung es ihm erlaubt, auch als Bildautor hervorzutreten und damit sein Bekenntnis zum überkommenen Erbe zu reflektieren. Die Blätter in der antik-mediterranen Gestimmtheit ihres Sujets sind kein bildhaftes Echo auf den vorgelegten Text, signalisieren auch kein Sich-verlieren in idyllisch-arkadische Bereiche, sondern wollen Formgefäß sein für die zeitgenössische Sehnsucht nach ungebrochenem Lebensgefühl. Denn immer findet sich in seinen künstlerischen Themen, mit denen er gegen die Grausamkeit und Härte der Welt ankämpft, jener Funke, der den Eros entfacht, „jener Eros, der über Enthaltsamkeit und Genuß steht, der Eros, der die Welt erschafft“ (J. Zaruchis). Ikonographisch stehen die Blätter in der Tradition neoklassischer Zeichenkunst. Und besonders die eigens für diese Ausgabe geschaffene Radierung mit ihrer rhythmischen Dynamik im Linearen erinnert an Arbeiten von Picasso (zu Ovid) und Matisse.
Als Kostas Varnalis, der von Ritsos verehrte Dichter, darum bat, seine Wahre Apologie des Sokrates mit Zeichnungen zu versehen, kam Ritsos auf seine Schwierigkeiten zu sprechen:
Wie dem gerecht werden? Ich bin kein Maler, obwohl ich mich in den Pausen zwischen meiner schriftstellerischen Arbeit mit Malerei beschäftige. Dieses ‚in den Pausen‘ kennzeichnet deutlich das amateurhafte dieser meiner Beschäftigung… so blieb mir nichts anderes übrig, als aus meinen malerischen Improvisationen einige Monotypien auszuwählen, die in jenen Stunden des Polytechnikums entstanden, da die innere Erregung den Mund des Dichters verschlossen hielt.
Auch wir entschieden uns für diesen Weg und wählten bei einer zweiten Begegnung mit Ritsos aus einem größeren Konvolut von Bildern, Aquarellen und Zeichnungen die hier im Druck wiedergegebenen Blätter. Kunst und Literatur bedeuten für den Dichter eine „immerwährende Geburt“, sind ihm Metaphern für eine beispielhafte Existenzform des Humanen. Davon zeugt auch dieses Buch, das wir hier als siebenten Druck der Dürer-Presse vorlegen,
Hans Marquardt, Mai 1987
Fragen • Antworten • Annotationen
Asteris Kutulas: wie ist einem Text beizukommen, der als „Meisterwerk“ und noch dazu als „ungeheures“ betitelt ist.
Jannis Ritsos: Die Bedeutung von „Meisterwerk“ und „ungeheuer“ kann man beim Lesen wirklich klar erfassen. In diesem Gedicht werden alle poetischen Ausdrucksmöglichkeiten genutzt: erlaubte und unerlaubte, legitime und illegitime. Genutzt werden Bericht, Erinnerung, Essay, genutzt wird die gesellschaftliche Kritik in alle Richtungen, nach außen und nach innen. In dieser Hinsicht ist es eine Legierung aller widersprüchlichen Kräfte, möglicherweise sogar deren Synthese, welche wiederum in These und Antithese zerfällt, um abermals zu einer Synthese zu führen. Dieses Werden offenbart sich in den verschiedenen Phasen des Gedichts.
Und noch etwas: Vor dem Ungeheuren Meisterwerk schrieb ich fast ausschließlich in einer anderen Person. Hier kehre ich zum ich zurück. Die 1. Person führt zu einer objektiven Sicht, zum allgemeinen, und vom allgemeinen, den Kreis schließend, findet man wieder zur 1. Person, die nun, nachdem sie oft in diesem Prozeß ihrer Persönlichkeit beraubt wurde, auch durch ihre ausgeprägte Un-Persönlichkeit, zu einer ganz konkreten, bestimmten Person wird.
Kutulas: Und es sind „Erinnerungen“?
Ritsos: Ja, und zwar Erinnerungen eines Menschen, der nichts wußte. Das ist Ausdruck – einer furchtbaren Erfahrung, die bis zum Äußersten geht und die Erkenntnis einschließt, daß man nichts weiß, weil man viel weiß.
Kutulas: Also bewirkt die Phantasie, daß sich die im Leben und aus der Geschichte gewonnenen Erfahrungen auflösen?
Ritsos: ich habe nie Tagebuch geführt. Die elementaren biographischen Angaben existieren in meinen Dichtungen in unterschiedlichster Form und verbergen sich oftmals hinter den verschiedenen Masken. Im Ungeheuren Meisterwerk entledige ich mich aller Masken, ich bin nicht Orest, nicht Philoktet, nicht Ajax, nicht Agamemnon, nicht Iphigenie, nicht Ismene, nicht Chrysothemis –
Kutulas: den gleichnamigen Monologgedichten.
Ritsos: Das sind Gestalten, die mich in sich tragen, sie sind fast wie wir, oder es sind Möglichkeiten der Annäherung an andere Gestalten. In diesem Gedicht also werfe ich alle Masken von mir und kehre zur 1. Person zurück.
Kutulas: Es stehen Wörter wie Packpapier, Philosophie, Kochtopf, Traktor nebeneinander. Könnte man das als demokratischen Umgang mit der Sprache bezeichnen?
Ritsos: In allen meinen Dichtungen kommen ständig die alltäglichsten Dinge vor, Gegenstände, die von allen benutzt werden. Mich interessiert das allgemeine Element. Vielleicht haben andere für Philosophisches keine adäquate Vorstellung, aber von einem Stuhl, von diesem konkreten Gegenstand, haben alle eine Vorstellung. Das gleiche gilt für Tisch, Handschellen, Lampe, Bluse, Hose, Schuh. Dafür haben wir ein Gefühl in uns. Darin liegt eine Art von Begegnung, die uns neue Begegnungen ermöglicht, die psychischer, sozialer und geschichtlicher Natur sind. In meinem Gedicht Die Bedeutung der Einfachheit heißt es:
Hinter einfachen Dingen verstecke ich mich, damit ihr mich findet,
wenn ihr mich nicht findet, werdet ihr die Dinge finden,
ihr werdet dieselben Dinge berühren, die meine Hände berührten,
die Spur unserer Hände werden einander begegnen.
Und das Gedicht schließt:
Ein jedes Wort ist ein Weggehen
zu einem Treffen, viele Male vereitelt.
Und dann erst ist es ein wahres Wort, wenn es auf dem Treffen beharrt.
Ich habe nicht nur Gegenstände des täglichen Gebrauchs verwendet, ich gab ihnen auch einen substantiellen Sinn. Und das halte ich für eine tiefere, wesentlichere Beziehung; keine äußerliche, sondern eben wesentliche. Die Dinge haben eine Geschichte, die der Geschichte des Menschen entspricht; sie sind Schöpfungen von Menschenhand. Er hat sich in diesen Dingen verwirklicht. Und die Menschen sind sich durch das alltägliche benutzen von Glas, Gabel, Messer, Teller begegnet.
Wenn wir zum Beispiel Tisch meinen, sagen wir Tisch. Da gibt es viereckige, rechteckige, runde, kleine, große, luxuriöse, ärmliche Tische. Wir kennen den Tisch des Abendmahls, ein Sinnbild der christlichen Religion, wir kennen die Totenmahle zum Andenken an Verwandte, Freunde und Gefährten. Der Tisch existiert nicht von vornherein, er entstand aus dem Baum und wurde gefällt – und das Bild des Holzfällers ist im Wort Baum enthalten. Auch die Vorstellung von den Vögeln. All das steht in dem Wort Tisch: Wald, Vögel, Tiere, Quellen, Laub, Holzfäller mit Äxten, was wiederum eine Unmenge anderer Dinge assoziiert: die Flößer, die vom Ufer aus die nackten Stämme zu den Kähnen oder Schiffen bringen; in die Häfen, von einem Ort zum andern, in die Sägewerke, damit Stühle und Betten hergestellt werden, unsere Schränke, Tische. Und das alles wird mit diesem einen Wort ausgedrückt. Dann haben wir die Vorstellung von Sägewerk, Möbelfabrik, von den Arbeitern; wir haben Sägespäne, die in den Haaren der Tischler haften, die alles mögliche aus Holz anfertigen: Kreuze zum Kreuzigen, Werkzeuge, auch Folterwerkzeuge. So vieles! Dann der Tisch selbst: hier haben wir gegessen, gesungen, getrunken, Ellenbogen und Kopf aufgestützt in Stunden der Trauer; hier haben wir geweint, geklagt; hier fanden Hochzeiten, Taufen, Feiern, Totenfeste statt. Und alles das bedeutet Tisch. Jeder Mensch begreift das Elementare des Tisches.
Kutulas: Es werden also über die Unerschöpflichkeit der elementaren Dinge hinaus Imaginationen geschaffen.
Ritsos: Ja, denn das Unbekannte, das uns umgibt und das wir in uns selbst tragen, ist bei weitem unendlicher, größer als das Bekannte. Und den Wert der Dichtung macht gerade das aus: daß sie neben dem Bekannten auch den jenseits aller Erklärungen verbleibenden Rest auszudrücken vermag. Ein wahres Gedicht bleibt nach den erschöpfenden Erklärungen aller weiterhin unerschöpflich. Außerdem kann man auch nicht genau sagen, wie, wann, in welchem Augenblick und warum ein Gedicht entstand. Die Faktoren, die es hervorbringen, lassen sich nicht festlegen oder abwägen. Das Gedicht entsteht nicht als Summe von verschiedenen Faktoren, sondern als Ganzes, das durch die Erinnerung und – allgemeiner – durch die Funktionalität des Gedächtnisses, durch Gefühl, innere Anteilnahme, Wissen und Beherrschung der künstlerischen Technik bestimmt wird. Letztendlich nehmen wir ein Gedicht als Klangstruktur auf und bewerten das Fehlen oder Vorhandensein einer richtigen Ausgewogenheit zwischen Mythos, Traum, Erinnerung, Gedächtnis, Gefühl, historischer Wirklichkeit und einer weiter gefaßten gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sowohl die Vision als auch die Wahnvorstellung mit einbezieht.
1
Das Postskriptum des Ungeheuren Meisterwerks stellt die Frage nach einer automatischen Schreibweise, nach gesellschaftlicher Notwendigkeit für künstlerische Produktion überhaupt. Das lyrische Gebilde – eben jene Ungeheuerlichkeit – droht gegen Schluß zu zerfasern; die Diktion immer hastender, erfaßt den Inhalt, doch gibt sich das Ich des Gedichts nur halb diesem Taumel hin, der Abstand zum Geschehen dominiert. So ergibt sich die überindividuelle Relevanz des Textes bereits aus der Methode, aus der Anstrengung einer konstruktiven Rekapitulation.
2
Den Stil längerer Gedichtkompositionen, der in der modernen Lyrik u.a. durch Majakowski und Vallejo, Cardenal und Ginsberg entwickelt wurde, formte Jannis Ritsos in einigen Gedichten Ende der dreißiger Jahre aus: Das Lied meiner Schwester, Frühlingssinfonie, Marsch des Ozeans. Diese Gedichte entwuchsen aber auch der nationalen Tradition, deren wichtigste Vertreter Palamas, Sikelianos und Varnalis in groß angelegten, formal strengen, poetischen Entwürfen versuchten, die antike Kultur in eine volksverbundene Ästhetik aufzunehmen. Ritsos bewahrte zwar in seiner Poetik dieses inhaltliche Anliegen – und das unterschied ihn vom surrealistischen Kreis in Athen −, erreichte aber durch das Loslösen von strengen Formen größere Ausdrucksmöglichkeiten. Seine „patriotischen Poeme“ Die Herrin der Weinberge, Griechentum und besonders das im Ungeheuren Meisterwerk oft erwähnte Die Viertel der Welt, die während des Bürgerkrieges entstanden, deuteten bereits durch ihre (wegen der harten politischen Zustände noch teilweise überbrückte) Zersplitterung den künftigen Weg zur Montage an: die kurzen, unpathetischen und szenographischen Gedichte der sechziger Jahre (Zeugenaussagen), die während der Juntazeit geschriebenen Mythos-Adaptionen (z.B. Chrysothemis, Agamemnon) und 1973 Graganda, der formal-inhaltliche Prototyp des Ungeheueren Meisterwerks.
3
Die komplexe Struktur des Ungeheuren Meisterwerks verweist auf die Intention des Dichters, der „Erinnerungen“ aufschreiben will. Diese entstammen keiner harmonischen Welt, keiner harmonischen Biographie, was bekannt ist, sondern dokumentieren den Versuch, die „individuellen und kollektiven Alpträume optisch, das heißt durch die Dichtung, FESTZUNAGELN“, sie zu „benennen“, sie – so Ritsos 1972 – von Angst und Schmerz zu befreien. Das sei nur durch eine ausgesuchte Ironie gegenüber unseren „historischen“ Wahnvorstellungen zu erreichen, eine Ironie, die zuweilen in Sarkasmus, in Parodie, ins Scherzen und in unironische Sentenzen umkippt und die jenen so charakteristischen Gegensatz erzeugt: das an Homer angelehnte rhapsodische Episieren und – im Inhaltlichen – die assoziative Reihung von Fragmenten.
Von Odysseus heißt es in Kavafis’ Gedicht „Ithaka“ (1911)
Ithaka gab dir die schöne Reise.
Ohne sie wärst du nie aufgebrochen.
Andres hat sie dir nicht zu geben.
Immer wenn man die Oberfläche des von Ritsos scheinbar zufällig Berichteten aufbricht, schlägt ironischer Unterton in Ernst um. Ein Mann kehrt an altbekannte Orte seiner Kindheit und Jugend zurück, um sie fotografisch festzuhalten, stellt jedoch fest, daß sich die Bilder – durch Unbewußtheit der Erinnerung, bewußte Wiedererinerung (Anamnese), Linse des Fotoapparates, Entwicklung der Filme usw., also durch mehrfache Brechung – ständig verändern. Doch stehen die Momentaufnahmen für ein Ganzes.
4
Die Splittersammlung (das Fotoalbum) und das Flanieren durch bekannte-unbekannte Orte sind die beiden wichtigen Kompositionsprinzipien des Ungeheuren Meisterwerks. „Es wird zerschlagen, umgruppiert, aber nicht aufgelöst“, charakterisiert Adorno ein solches Verfahren, dessen Zielrichtung Benjamin bestimmt: „im Raum des politischen Handelns den hundertprozentigen Bildraum entdecken“. Allerdings bleibt nicht nur durch konkretes Aufarbeiten von Kindheitserinnerungen, Träumen, politischen Diskussionen usw., sondern auch durch das konsequente Benutzen eines verfremdenden Sehrasters jedes Bild, jeder Vers des Gedichtes der individuellen Sicht des Fotografen, des Dichters verhaftet. Seinen rhapsodischen Bilderstrom, diese Bündelung von Erfahrung, Erinnerung, Analyse, Vision und Traum, durchzieht ein pragmatischer sokratischer Skeptizismus. Das Ungeheure Meisterwerk entpuppt sich „nur“ als Erinnerung eines „ruhigen“ Menschen, der nichts wußte. Aber in dieser historischen Dialektik des permanenten Auseinanderfallens von Wissen und Handeln erschöpft sich nicht die Struktur des Gedichtes. Mit dem erweckten Anschein, mehr Objekt als Subjekt der Geschichte gewesen zu sein, wird eine Tabula-rasa-Welt vorgetäuscht, in der ein Unbeteiligter Eindrücke empfängt und sie als Chronist, gleichsam unsichtbar, ordnet, verwaltet und wiedergibt.
Asteris Kutulas, Nachwort
– Das ungeheure Meisterwerk von Jannis Ritsos als Druck der Dürer-Presse. –
Große Literatur in einem schönen Buch: Als siebenter Druck der Dürer-Presse erschienen, von Hans Marquardt herausgegeben, im Reclam-Verlag Das ungeheure Meisterwerk von Jannis Ritsos. Der griechische Dichter selbst schuf die Illustrationen — eine Radierung und sieben Zeichnungen. Und bei uns bemühte sich der Großbetrieb Offizin Andersen Nexö im Verein mit mehreren Künstlern um eine gediegene, edle Gestaltung der Edition. Hans Marquardt steuerte einen Essay bei. Der Nachdichter Asteris Kutulas führte ein Gespräch mit Ritsos und stellte mit Sorgfalt Anmerkungen zusammen. Schon wenn man bloß im Band blättert, spürt man das einträchtige Zusammenwirken von Leuten, die Literatur lieben.
Um Eintracht in einem weiten Sinne ist es wohl auch dem Dichter gegangen, als er sein Poem schrieb. Er widmete es Louis Aragon, beruft sich auf Künstlerkollegen wie Alexander Block und Pablo Neruda, Anna Achmatowa und Nazim Hikmet.
… und Whitman stieg hinab zu Dostojewskis Kellerwohnung mit ihren vielen Sardinenbüchsen und Schafotten.
Man trifft Figuren aus der griechischen Literaturgeschichte und Mythologie. Allerdings ist das Kunstschaffen nur eines von vielen Themen dieses wirklich ungeheuren Meisterwerkes.
„Erinnerungen eines ruhigen Menschen, der nichts wußte“ heißt der Text im Untertitel. Die pathetische Ankündigung einer bedeutsamen Verlautbarung wird kontrastiert durch Selbstironie. Ritsos’ Dichtung lebt von Antinomien im Stofflich-Thematischen und im Gestalterischen, im dialektischen Denken und in der Empfindung, im gleichberechtigten Nebeneinander von Erhabenem und Niedrigem, Tragischem und Komischem.
Der Leser muß sich auf plötzliche Stimmungsumschläge einstellen. iDoch wenn er ein guter Zuhörer ist und dem Blick des Autors folgt, der die verschiedensten Dinge in Momentaufnahmen faßt, wird sich ihm im Veränderlichen gerade die Kraft des Stetigen, Verbindenden mitteilen. Dominanz hat hier die Unendlichkeit des Lebens im Werden und Vergehen, die Wärme, die Menschen einander gaben und geben werden, die Unaufhaltsamkeit geschichtlichen Fortschritts.
Der Kommunist Jannis Ritsos, der Verbannung und Deportation erlitt, der nie seine Zukunftsgewißheit verlor, wendet sich an die „Genossen der Welt und der Legende“. In Form eines inneren Monologs zieht er eine Bilanz der Bewegung zum Sozialismus, bestimmt er den Platz, den er als Künstler in ihr einnahm. Das gelingt ihm mittels poetischer Bilder außerordentlich differenziert wobei er Präzision der Darstellung geringer schätzt als das Unerschöpfliche, das jeder großen Dichtung innewohnt.
„Das menschliche Gehirn braucht die ganze Zeit und jeden Augenblick“, schreibt Ritsos. Für seinen Text fand er eine komplexe Struktur, um Biographisches und Geschichtliches, Künstlerisches, Phantastisches und Reales, Banales und Naturphilosophisches ineinander zu verschmelzen, so daß eines im anderen intensiven Ausdruck findet. Zu weiträumigen Metaphern werden für ihn die alltäglichsten Dinge, weil er sie als Dinge des Lebens wertschätzt — „die Orangenschalen, ein Haufen im Abwaschbecken waren schon ein Turm voll Musik“
Ein weises Alterswerk des heute 79jährigen. Ein Werk voller ungestümer Lebensfreude, die immer wieder aus Grübelei hervorbricht. Auch Ritsos’ Zeichnungen sie verleugnen nicht den Bezug zu den Arbeiten seines Freundes Picasso — vermitteln ein solches ungebrochenes Daseinsgefühl. Da erstrebt einer tatsächlich Ungeheures, will alles umfassen mit einer Sehnsucht, die sich ständig neu entfacht.
Irmtraud Gutschke, Neues Deutschland, 21.10.1988
Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos
Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus
Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos
Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos
Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer: Jannis Ritsos
Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984
Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984
Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984
Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989
Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989
Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis und Keti Thimi.
Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.
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