Jannis Ritsos: Der Sondeur

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jannis Ritsos: Der Sondeur

Ritsos/Wendisch-Der Sondeur

DER SONDEUR

Wer schon vorher hinsieht, geht nicht weiter; er bleibt
aaaaastehen und sieht; – sieht nicht.
Am Anfang ist das Wort immer ungewiß. Und dann
kannst du nicht mehr aufhören. Zwischen Anfang und
aaaaaEnde
bleibt vielleicht noch Platz für Wunder, jenseits
von überfrachteten Bedeutungen, dichtgedrängten
aaaaaHäusern, aaaaaTelegrafenmasten,
jenseits, der gesetzlichen Verordnungen, des Handelns der Söldner,
beim Anblick der Blumentöpfe mit den vertrockneten Pflanzen neben der Treppe
oder der überflüssigen Masken aus Pappe, ausgeblichen von der Sonne,
die draußen an der Wand des Kleinwarenladens im Vorort hängen.

 

 

 

Auf dem Gebiet der Dramatik dient mein Versuch

– so unbedeutend er sein mag – der Idee, der Dichtung wieder zu ihrem wahren Raum und ihrer wahren Bestimmung zu verhelfen – ein weiter Raum, ein zahlreiches Publikum und kein geschlossener Raum, kein Raum der Einsamkeit. Bestimmung: die Seele berühren, sie wecken, sie erschüttern durch Empfindungen und Probleme, sie erziehen und zum Besseren bekehren. Ich vergesse nie den Zuschauer und den Zuhörer (nichteinmal bei meiner Dichtung), denn ich will die Poesie wieder „sichtbar“ und „hörbar“ machen, so daß sie nicht nur gelesen werden kann. Ich will auch den Zuschauer wieder in die Lage versetzen, Poesie nicht nur lesen, sondern sie auch „aus erster Hand“ hören zu können…

Jannis Ritsos an Jannis Veakis, 21.10.1959

Nachwort

Jannis Ritsos schrieb  1973, im sechsten Jahre der Junta, sein szenisches Gedicht Der Sondeur. Der vierundvierzigjährige Dichter setzte gegen die ihn umgebende vom Irrationalismus der Obristen deformierte Wirklichkeit, in der er sich nicht frei bewegen konnte, seine – phantastische – irrationale Welt der Poesie, als wollte er mit diesem Widerspruch auf die Unzulänglichkeit der rationalen Methode hinweisen, jenes Gefühl, das zwischen Verzweiflung, Resignation und Hoffnung schwingt, in Worte zu fassen. Dieses Werk, das ganz in der Tradition der europäischen Moderne steht, zu deren wichtigsten Exponenten in Griechenland Ritsos gehört, ist ein wichtiges Bespiel für den antidogmatischen Avantgardismus (wenn der Begriff gestattet ist) seines Schöpfers. Ritsos, das zeigt sich hier besonders deutlich, nimmt nicht nur Überliefertes auf, sondern schafft selbst Neues, das inzwischen die neuen Dichtergenerationen beeinflußt. Die meisten seiner über 100 Bücher – sieht man von der politischen Lyrik ab, die Ritsos selbst nicht als Dichtung akzeptiert – hat er unabhängig von Publikumserwartungen geschrieben und darin, wie kaum ein anderer griechischer Dichter des 20. Jahrhunderts, geforscht und experimentiert. Aber die tendenziöse Vereinnahmung seines Schaffens durch die kommunistische Ästhetik einerseits und vor allem die Wirren der Nachkriegsgeschichte Griechenlands (Bürgerkrieg, rechtsradikale Regierung, Junta) mit ihren Auswirkungen auf das kulturelle und geistige Leben andererseits haben die Sicht auf den Neurer Ritsos verbaut.
Die im Sondeur verwendete irre Sprache, die sich in einem Rausch apokaliptischer Bilder eröffnet, ist Ausdruck eines – für andere möglicherweise sinnlosen – poetischen Widerstands gegen Totalitarismus und Unvernunft. Angst vor dem Maulkorb, vor dem endgültigen Verstummen, beherrscht die austauschbare Szenerie. Eine Angst, die sich langsam selbst entdeckt und in Worte kleidet und die alle im Gedicht Agierenden verrückt macht.
Die beklemmende Stille, die über diesem Gedicht liegt, nur von Worten der etwa vierzig phantasmagorischen Gestalten unterbrochen, die plötzlich, von Scheinwerferlicht erhellt, aus ihrer Lethargie erwachen, ihren Spruch aufsagen und wieder im Dunkel verschwinden, diese Stille ist eine wichtige sprachliche Errungenschaft des Gedichts. Der Einsame, die drei Verrückten, der Hinkende, das Menschlein und alle anderen Frustrierten, Schwachen und Starken, die vor dem Hintergrund des modernen Griechenland auftauchen, sprechen und bewegen sich – bewegen sich, indem sie sprechen – desillusioniert, monologisierend, fast antikisch. Alle Stimmen münden in eine einzige, die dem Verstummen nahekommt. Die Sprache dieser seltsamen monströs-gewöhnlichen Person ähnelt sich (ist die gleiche), nur die Haltung/die Maske ändert sich (bleibt die gleiche): Der Dichter schlüpft nacheinander in die selbsterdachten Rollen, entblößt sich – indem er sich verkleidet – vor den Augen aller, probiert sich aus in der verkehrtesten aller nur möglichen Welten; hier wartet Godot auf uns, da pinkelt der andalusische Hund unter einem Mond von de Chirico. Aber der Sensualist Ritsos spricht nur über sich, über sein Leben und seine Träume, über Erfahrenes und Erlebtes, üb er die Koraka-Straße in Athen und die Kleinstadt Karlowassi auf Samos – nichts ist konstruiert; das Gedicht gleicht einem revueartigen Panoptikum: Eine Straße wird mit einer Kopplung von Tele- und Weitwinkelobjektiv abgefilmt, der Sondeur – eigenwilliger Chronist, der an Konstantinos Kavafis, den Begründer der griechischen Moderne, erinnert –, der nichts mehr auszuloten vermag, ja nichts mehr ausloten will, lauscht dem Treiben und den Worten der Anwohner, nimmt Anteil an ihren Sorgen und Freuden. Ritsos beobachtet ganz genau.
Die meisten „Wortmeldungen“ sind eigenständige Gedichte, eine Technik, die sich in den langen Monologgedichten der Vierten Dimension (Agamemnon, Die Rückkehr der Iphigenie etc.) und vor allem in der Gedichtkomposition Graganda (1972) angekündigt hatte, was für die Arbeit an unserer Nachdichtung von ausschlaggebender Bedeutung war. Galt es doch der Autonomie der einzelnen Gedichte wie dem einheitlichen Sprachgestus der poetischen Großform des Textes gerecht zu werden. Ritsos’ Knappheit ist nur schwer ins Deutsche übertragbar, weil seine – demokratische – Verwendung der Umgangssprache in der deutschen Dichtung undenkbar ist. Der vorliegende Versuch, es doch zu tun, ebenso wie das ganze Buch, sind dem 80. Geburtstag des Dichters gewidmet.

Asteris Kutulas, Nachwort, 1989

 

Dieses während der Zeit der Junta entstandene Buch

gilt als eins seiner wichtigsten Werke. Szenische Lyrik in Umgangssprache. Personen treffen sich auf der Straße und reden gegen die politische „Rationalität“ an, in „irrer“ Sprache, mit „irren“ Beziehungen untereinander.

konkursbuchVERLAG CLAUDIA GEHRKE, Ankündigung, 1989

 

Wie haben wir nur alles auf den Kopf gestellt?

Wir sprechen. Wir sprechen nicht.

Im April vor 20 Jahren sind wir nach Dresden gefahren.
Ritsos wurde 80. Was gab er uns nur für einen klaren Blick. Zu seinen Ehren lasen wir den Sondeur im Theater der jungen Generation, oder war es die junge Garde? Egal. Wir waren zu acht oder neunt, vielleicht auch zehn, darunter ein Säugling, mein Sohn, der in der Garderobe schlief. Wäre er aufgewacht, vom Fenster schreien die kleinen Eulen herüber, hätte er mitspielen müssen.
Jeder hatte drei, fünf oder zehn Zeilen zu lesen – Ach fremde Feder – und ging wieder ab, Kempe las mit Gasmaske, Baader in Taucherflossen, Hufe auf meiner Brust, auf meinen Knien. Eine Geige. Die tonlose Musik füllte meine Jacke. Die Veranstaltung war ausverkauft, aber als wir nach fünf oder sechs Stunden an den Scheinwerfern vorbei in den Zuschauerraum sahen, merkten wir, dass wir allein waren mit uns und Ritsos und der Text noch lang nicht zu Ende. Und gegenüber, fünf Meter über der Erde, das gespannte Seil mit den Fahnen. Bis zu dieser Zeile kamen wir nicht. Nachts ging es zurück, das Auto ächzte, wenn die Räder die Ritzen der Betonplatten der Autobahn Dresden-Berlin berührten. Die Geschichte ging weiter, die Allgemeine Geschäftsordnung veränderte sich gründlich. Ach, begeistert aufgenommene Freiheit, wo du auch sein magst. Der Sondeur wurde eine Zeitschrift. Die Zeitschrift überlebte die Freiheit nicht – blinde Uhren, weiche Pantoffeln, zerrissene Briefe. Unsere Wege trennten sich. Baader lief gegen eine Straßenbahn, wir anderen in Sackgassen und wieder heraus. Wie geheimnisvoll das Blut fließt. Manchmal treffen wir noch aufeinander, jenseits von Erinnerung. Das vergilbte, brüchige Papier meiner Lesefassung (1. Durchschlag) wanderte von Wohnung zu Wohnung. Alle Rechnungen unbeglichen, hängen in der Luft. Der Säugling geht längst eigene Wege. Frag die Zeit, frag auch die steinerne Frau.

(kursiv: aus Ritsos’ Sondeur)

Annett Gröschner, Jannis Ritos. Hommage, 2009

 

 

Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos

Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis

Asteris Kutulas: Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis

Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus

Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos

Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos

Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer: Jannis Ritsos

 

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Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin

 

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984

Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984

Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989

Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989

Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989

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Porträtgalerie: Keystone-SDA
Nachruf auf Jannis Ritsos: Neue Zeit

 

Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.

 

Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.

 

Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis  und Keti Thimi.

 

Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.

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