STÜRME
Jetzt sind die Stürme da. Die Bäume raufen sich die
aaaaaHaare. Die ganze Gegend heult.
Es heulen die alten Gerbereien, die eingestürzte
aaaaaWeinkellerei,
die verlassenen Tabakschuppen. Das Meer, zerzaust,
schreit „Haltet ihn“, Haltet ihn“. Ein Treuebruch?
Eine Mordtat? Es gibt keinen Zeugen.
Auch die Delphine, die spottlustigen, sind vernünftig geworden. Die hohe Marmortafel
mitten auf dem Platz ist ganz naß von dem Seegang;
Wasser rinnt von den eingemeißelten Namen toter Helden.
Ach, das unbändige Vergessen. Große Schiffe
fahren ein in die Häuser der Fischer. Die alte Frau
ging eben daran, die Hose des Käpten’s zu flicken. Die Garnrolle
ist unters Bett gerollt. An welcher Stelle soll sie sich jetzt
aaaaabücken? Laß es, mein je.
Was noch zuerst flicken? Die Welt hat so viele Löcher bekommen.
Jannis Ritsos hat ein veröffentlichtes lyrisches Œuvre im ihn selber verblüffenden Umfang von über fünftausend Seiten hinterlassen; außerdem Romane, meditativ-erzählerische Prosa und weitere, Gattungsgrenzen mißachtende Texte. Aus diesem Riesenwerk sind in der Bundesrepublik zwischen 1968 und 1990 immerhin vierzehn kleinere Bände – Einzelwerke und Auswahlen – in deutscher Übersetzung erschienen. Hinzu kommen im selben Zeitraum noch einmal fast ebenso viele Buchausgaben in der DDR, in der Schweiz und in Luxemburg.
So gewiß es also ein verlegerisches Engagement für Ritsos’ Werk und eine andauernde Rezeption im deutschsprachigen Raum gibt, so gewiß ist andererseits auch, daß seine Gedichte bisher nicht die selbstverständliche weltliterarische Geltung im Bewußtsein des bundesdeutschen Lesers erlangt haben, die der Lyrik seiner Landsleute und literarischen Generationsgefährten Giorgos Seferis und Odysseas Elytis längst zugeschrieben wird. (Seine Hochschätzung gleichsam als Chronist griechischer Zeitgeschichte ist davon unabhängig.) Den Gründen für die relative Zurückhaltung des literaturästhetischen Urteils nachzufragen, bedeutet zugleich, die Besonderheit von Ritsos’s Schreibweise kenntlich zu machen. Immerhin ist die Vergabe des Literatur-Nobelpreises an Elytis (1979) auch von liberaler Seite gelegentlich als ein politisch motiviertes Ausweichen kommentiert worden, durch das die Vergabe dieser internationalen Ehrung an den kompromißlosen Linken Ritsos vermieden werden konnte.
Qualitative Merkmale der Rezeption des Werkes in der Bundesrepublik lassen auf drei wesentliche Faktoren schließen, die die Wahrnehmung seines spezifischen Kunstcharakters bisher behinderten. Erstens wirkten allgemeine Bedingungen der Ära des Kalten Krieges, in der Ritsos aus gutem Grund vorsichtig „am langen Arm auf Abstand gehalten“ (Times Literary Supplement, 1990) werden mußte. Da ein großer Teil seines Schaffens griechische Nachkriegsgeschichte unmittelbar reflektiert – eine Geschichte brutaler Einmischungen vor allem seitens der westlichen Großmächte England und USA −, ist Ritsos-Lektüre immer auch ein Blättern im Sündenregister der „freien Welt“. Für den deutschen Leser kommt thematisch noch besonders hinzu, daß wichtige Werke offen an die Blutspur der deutschen Besetzung des Landes (1941–1944) erinnern. Es wäre zumindest erstaunlich, wenn die Literaturgeschichte in diesem Fall eine Ausnahme gemacht hätte, thematisch bedingte Empfindlichkeiten also nicht auch hier zu ästhetischen Vorurteilen geronnen wären. – Zweitens mußten bestimmte sehr deutsche Ausprägungen des Interesses an Griechenland überhaupt die Aufnahmefähigkeit für Ritsos’ Werk beeinträchtigen. – Drittens schließlich wirkte in der Rezeption, und zwar gerade in derjenigen durch die an dem Dichter besonders interessierte Linke, eine prinzipielle literarische Differenz sich aus, die bezeichnenderweise nicht einmal bemerkt wurde: ein Verhältnis von Ästhetik und Politik bei Ritsos, das dem der linken Literaturtradition in Deutschland geradewegs widerspricht. – Die beiden letztgenannten, komplexen Faktoren sollen hier untersucht werden; denn sie sind es, die auch unabhängig von besonderen politischen Sujets in der Ritsos-Lektüre wirksam werden…
Klaus-Peter Wedekind, Aus dem Nachwort
ist im deutschen Sprachraum vor allem als Dichter des linken politischen Widerstands und der Straflager bekannt geworden. Ziel dieser neuen Auswahl – der Ritsos noch selbst zugestimmt hat – ist es, sein facettenreiches Werk aus dieser Engführung zu befreien. Voraussetzung für den Umfang, die Vielseitigkeit und die Kontinuität des Œuvres ist eine – von Deutschland aus schwerverständliche – sich unablässig selbst regenerierende Wechselwirkung von politischem Anspruch und ästhetischem Bedürfnis. Es läßt sich vorführen, daß eine Homologie beseht zwischen der von Ritsos gemeinten politischen Befreiung und der nichtpolitisches Sprechen kennzeichnenden „rhapsodischen“ Unerschöpflichkeit der Situation und Neuanordnung der gesamten sinnlich-gegenständlichen Welt: In den Variationen des körperhaften Umgangs mit dieser wird der Reichtum aller vorenthaltenen Möglichkeiten eigener Existenz im Spiel erprobt und bewiesen. Der „deutsche“ Konflikt von autonomer ästhetischer Praxis bzw. Genußfähigkeit und festgeschriebener politischer Zielsetzung entsteht nicht.
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1991
Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos
Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus
Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos
Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos
Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer: Jannis Ritsos
Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984
Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984
Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984
Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989
Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989
Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis und Keti Thimi.
Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.
Herzlichen Dank. Ich werde gleich dat Gedicht STÜRME übersetzen in meiner Sprache. Yannis Ritsos bleibt mich faszinieren.