Im Spiegel
bist du zwei
im anderen drei
elf fünfzehn vierundzwanzig
das Haus hat sich gefüllt
gefüllt hat sich die Welt
und Spiegel nirgends
nur ein See
und darin das große Rad
und deine Sandale
auf dem Tisch
neben dem Aschenbecher
enthält dieser Band, verhaltene Verse, deren Sinnlichkeit sich am ehesten dort offenbart, wo die stummen Zeugen der Leidenschaft aufgerufen werden: die Sandalen, der Aschenbecher, der hölzerne Stuhl. Mit lakonischen Worten beschreibt der Grieche Jannis Ritsos die Kraft, die Zweisamkeit zu geben vermag, die scheue Berührung und die stürmische Umarmung.
Wie spinnwebfein der Faden ist, der Liebenden so unzerreißbar scheint, ist ihm ebenso bewußt wie die Erfahrung, daß Liebe nicht in der Abgeschiedenheit gedeiht, sondern stets auf geheimnisvolle Weise an das „Tun Dritter“ geknüpft ist. Sehnsucht nach Glück und menschlicher Wärme drückt sich auch in den Steinzeichnungen aus, die der Dichter zum Teil schon in den Jahren erzwungener Einsamkeit schuf.
Verlag Volk und Welt, Klappentext, 1982
Von alltäglichen Dingen ist da die Rede, von einer Laterne, dem Fenster, von einem Wasserhahn oder Sandalen. Sie werden benannt und hineingestellt in eine kleine, vertraute Welt, die sich plötzlich weitet und immer neue Entdeckungen bereithält. Alles ist greifbar, und alles verwandelt sich. Was von der Liebe gezeichnet ist, kommt uns anders nah. 46 Gedichte zeugen in diesem Band von der Zauber- und Produktivkraft der innigsten Beziehung zweier Menschen, von Lust und Qual, von Sehnsucht und Erfüllung, von Zärtlichkeit und Kampf. Der griechische Dichter Jannis Ritsos, dessen Leben und poetisches Werk durchdrungen sind von politischer Leidenschaft, hat in den Januar- und Februartagen des Jahres 1980 einen Zyklus erotischer Gedichte geschrieben, die den menschlichen Glücksanspruch nicht im Privaten belassen. Das zweisame Miteinander führt auf keine abgeschiedene Insel, wird kein Fluchtpunkt, obwohl oder weil es sich oft in einer ganz und gar nicht abstrakten Leiblichkeit darstellt. Die gespannten und wachen Sinne fiebern nach Berührung, was der andere ist und was ihn umgibt, wird gleichermaßen wichtig. Immer wieder schließen sich Interieur oder Landschaft als Rahmen um die Nacktheit des Körpers, der ohne Verhüllung nahe ist und geheimnisvoll. Ritsos spricht von all dem mit lakonischer Nüchternheit und teilt so erst recht jede Schwingung sinnlicher Erregung mit. Er meidet lyrische Bilder oder Reflexionen. Ihm genügen die konkreten Einzelheiten, um im Ganzen ein poetisches Bild zusammenzufügen, das durch überraschende Assoziationen Tiefe und gesellschaftlichen Hintergrund gewinnt.
„Dinge des Tages“, so sagt der Dichter, können „Ausflüchte“, „Vorwände“ sein für das „Nichtgenannte“. Von diesem gerade sprechen seine Gedichte. Etwas benennen zu können heißt für ihn, etwas in Besitz zu nehmen. Doch seiner Liebe gibt er keinen Namen denn „bist du es nicht, bin ich es nicht“. Die Geliebte als das „Du“ zu begreifen, das nicht Eigentum, sondern Geschenk ist, bedeutet für Ritsos das Fundament wirklicher Partnerschaft und Liebe. Und gerade diese Erfahrung läßt Abgrenzung zur Welt nicht zu. Zugleich weist sie auf das Besondere hin, das jeder einzelne in die große Gemeinschaft einbringt, unterstreicht – seinen Wert, seine Unwiederholbarkeit. Ritsos bekennt sich hier zu einem Menschenbild, daß seiner fortschrittlichen Überzeugung gemäß ist. Liebe, – das ist es, „was dich dem andern ähnlich macht“. Die Klarheit dieser Aussage, die Sicherheit, mit der sie ausgesprochen ist, findet sich in den beigegebenen Originalhandschriften der Gedichte wieder. Sie haben in dem Band einen eigenen ästhetischen Reiz.
Was das Buch darüber hinaus zu einer Kostbarkeit werden läßt, sind die von Manfred Küchler hervorragend fotografierten bemalten Steine, die den Dichter auch als Maler von Rang ausweisen. Als der zweimal von faschistischen Regimes eingekerkerte Jannis Ritsos 1967 auf der griechischen KZ-Insel Leros interniert war, begann er Steine zu sammeln und sie mit farbigen Zeichnungen zu versehen.
Er nutzt die Struktur und Form des Materials für seine an der griechischen Antike geschulten Bilder, in derer klaren Linienführung und verhalten-kostbaren Farbigkeit eine tiefe Sehnsucht nach Harmonie zum Ausdruck kommt. Aus unbelebt Dinglichem wächst auch hier menschliche hier Schönheit, Kunst, die im Kampf geboren ist.
Klaus-Dieter Schönewerk, Neues Deutschland, 3.8.1982
Klaus Reichelt: Gibt es bei Ihnen, verehrter Jannis Ritsos, einen Gegensatz zwischen Ihrer lyrischen, romantischen Weltsicht und der politischen Wirklichkeit unserer Tage?
Jannis Ritsos: Aus der ersten Frage ersehe ich, daß alle folgenden Fragen sehr umfassend, allgemein sein werden. Aber wie jedes Umfassende, Allgemeine auch unbestimmt, vage. Und die Antworten auf unbestimmte Fragen müssen notgedrungen ebenfalls unbestimmt sein. Vielleicht sind sie gerade aus diesem Grund so umfassend und bedeutsam.
Zu Ihrer Frage: Wie vereinbart sich der Lyriker, der Romantiker mit einem Menschen, der sich der harten politischen Wirklichkeit unserer Tage gegenübersieht? Ich glaube, hier waltet eine Kraft, die gerade in diesem Widerspruch zu finden ist. Es ist wie in der Dialektik: These – Antithese, daraus entsteht die neue Synthese. Aber in dieser Synthese existieren wiederum These und Antithese, und aus diesem Widerspruch entwickelt sich ein Ausgleich. Ja, wir können sagen, die Lebensbejahung, die die Arbeit des Dichters darstellt, steht nicht nur einfach diesem Widerspruch gegenüber, sondern sie ist auch notwendig, um die schöpferische Arbeit in Bewegung zu setzen. Folglich gibt es hier keinen absoluten Gegensatz Politik – lyrisches Lebensgefühl, wenn dieses lyrische Lebensgefühl Ausdruck der Persönlichkeit ist. Denn auch das Individuum formt sich unter dem Einfluß der konkreten historischen Wirklichkeit. So ist der Dichter gleichzeitig der erste Bürger seines Landes, darüber hinaus einer der ersten Bürger der Welt. Der Widerspruch, wie er in Ihrer Frage behauptet wird, muß kein Gegensatz sein.
Reichelt: In einem Ihrer Gedichte bezeichnen Sie die Dichter als die immer untröstlichen Tröster der Welt. Trifft das auch auf Sie zu, wie werden Sie damit fertig?
Ritsos: In der Gedichtsammlung Gesten, im ersten Gedicht mit dem Titel „Der andere Staat“, d.h. der Staat der Dichter, gibt es einen Vers, da heißt es: die immer untröstlichen Tröster der Welt. Wie in der ersten Frage zeigt sich auch hier in der zweiten ein Widerspruch. Es tröstet die Untröstlichen. Indem aber die Untröstlichen die Welt trösten, werden durch die Tröstung der Welt auch die Dichter selbst getröstet. Auch dieser Widerspruch wird neutralisiert, durch die Wirkung der dichterischen Synthese. Denn Kunst und Dichtung heben die Dinge besonders hervor, die die Menschen einen. So also trösten die untröstlichen Tröster, die Dichter, die Welt und versichern ihr, daß es Schönheit gibt, Leben, Liebe, Freundschaft, daß es Werte gibt. Wenn es ihm gelingt, dieses Lächeln den Menschen zu geben, kann auch der Dichter selbst getröstet lächeln.
Reichelt: Poesie ist immer auch ein Stück Utopieentwurf. Sie bezeichnen sich selbst als „Dichter des letzten Jahrhunderts vor dem Menschen“. Dieses Jahrhundert geht zu Ende. Wird dadurch Ihr eigener poetischer Utopieentwurf in Frage gestellt? Wie bewältigen Sie als Dichter das Spannungsfeld von Utopie und Wirklichkeit?
Ritsos: Das Wort Utopie ist ein griechisches Wort, das auch in die deutsche Sprache eingedrungen ist wie in viele andere Sprachen. Ich weiß aber nicht, ob mit derselben Bedeutung wie im Griechischen. Deshalb kann ich nicht konkret antworten. Im Griechischen bedeutet Utopie etwas nicht Realisierbares, Traumhaftes, Phantastisches: etwas, das nicht verwirklicht werden kann. Ich kann nicht akzeptieren, daß eine solche Utopie eine dichterische Utopie ist. Traum – ja. Phantasie – ja. Voraussicht – ja. Vorausschau – ja. Prophetie – ja. Aber nicht Utopie als etwas, das nicht existiert oder nie existieren wird. Natürlich gibt es häufig Korrekturen unserer Träume. Was wir in unseren Kämpfen gewinnen, können wir in kurzer Zeit wieder verlieren. Es gibt ständig Enttäuschungen, Berichtigungen. Ein Dichter ist, wer die Hoffnungslosigkeit, die Enttäuschung nicht akzeptiert, sondern mit seinem Werk für sich und die Welt neue Hoffnung gründet. Die Hoffnungslosigkeit, die Verzweiflung ist die Zuflucht von Menschen, die nichts vermögen. Aber die Dichter glauben, daß auch im Leben, im täglichen Kampf, dem physischen wie dem geistigen, künstlerischen, die Menschen sehr viel erreichen können.
Wir kennen viele Augenblicke in der Geschichte der Menschheit, die uns bestätigen, daß trotz aller Katastrophen, aller Kriege, Erdbeben, Überschwemmungen, Taifune die Menschen große Werke schufen, die die Möglichkeit des Menschen bestätigen, große Kunstdenkmäler zu schaffen, die das Gedächtnis einer Epoche für Jahrhunderte und aber Jahrhunderte verewigen, und das in einem solchen Maße, daß sich die Werke mit der Ewigkeit fast berühren. Wir haben sehr viele solcher Beispiele, Sie in Deutschland, wir in Griechenland. Wir haben einen Parthenon, wir haben die Tempel, wir haben die großen Dichter. Wir haben einen Homer, diesen Schöpfer des Wortes, des Wortes der Welt, der vor fast 3.000 Jahren schrieb und immer noch der neueste Dichter der Menschheit ist. Bei all den Hoffnungslosigkeiten – vergessen Sie nicht, daß er einen Trojanischen Krieg schrieb, daß er eine Ilias schrieb. Er gestaltete das schreckliche Abenteuer eines großen Helden, des Odysseus, der viele Hindernisse überwindet, unter fürchterlichen Schwierigkeiten reist. Aber diese Dinge kennen Sie ebensogut wie wir, ja, im sozialistischen Deutschland kennt man die griechische Philosophie noch besser als die Griechen selbst. Das alles beweist uns, daß der Mensch sein Ziel erreicht, wenn er darauf beharrt, nicht verzweifelt und Tag und Nacht arbeitet in der Überzeugung, daß dieses sein Bemühen, das seinige und das so vieler anderer Menschen, nicht verloren geht, sondern weiterleben wird, über das Jahrhundert hinaus, in dem der Dichter lebt.
Wenn ich also das Gedicht des letzten Jahrhunderts vor dem Menschen schrieb, so bestimme ich nicht, welches Jahrhundert gemeint ist. Ich glaube aber tatsächlich, daß es kommt; jetzt sind wir in den Jahrhunderten – ich sage nicht in dem Jahrhundert – der vormenschlichen Geschichte. Ich glaube, der Mensch wird frei sein, ich sage aber nicht, wann das sein wird. Das kann in den folgenden oder, danach folgenden Jahrhunderten sein, es können noch zwei, drei Jahrhunderte vergehen, bis dieser Traum verwirklicht ist und der große Kampf aller Menschen für Glück, Frieden und Brüderlichkeit Gestalt annimmt.
Reichelt: Sie feiern in Ihrer Dichtung Jugend, Schönheit, Liebe. Aber Sie besingen genauso leidenschaftlich den Tod, den Kampf zwischen Werden und Vergehen.
Ritsos: In meiner Dichtung gibt es den ständigen Kampf zwischen diesen beiden grundlegenden Kräften – wenn wir auch den Tod eine Kraft nennen wollen: zwischen Liebe und Tod. Die Liebe ist die Schöpferin des Lebens, die Schönheit des Lebens, das Licht – und der Tod ist der Mangel an Leben, ist die Dunkelheit, die Abwesenheit von Leben. Wenn wir das in einem weitem Sinn, in weiter Bedeutung betrachten, erkennen wir, gerade der Tod schafft das Gefühl, die Notwendigkeit der Unsterblichkeit. Wären wir Menschen unsterblich, würden wir nicht danach streben, unsterblich, groß zu werden. Der Zusammenstoß zwischen der Kraft, die Leben schöpft, und der das Leben zerstörenden Kraft, dem Tod, ist schrecklich. Das Wissen, daß wir morgen, übermorgen, in fünf oder zehn Jahren sterben können, läßt uns sich dieser zerstörenden Kraft entgegenstellen und Werke schaffen, die nicht einfach nur den einzelnen und sein dichterisches Werk unsterblich machen, sondern auch seine Epoche, alle Epochen. Auf der einen Seite ist die positive, schöpferische Kraft der Liebe und auf der anderen die verneinende Kraft des Todes, die schließlich durch die Vermittlung der Kunst von einer negativen zu einer positiven Kraft wird. Deshalb meine ich auch, wir müssen nicht neue Namen finden, weder für die Liebe noch für den Tod noch für ihre Beschreibung, sondern wir können weiterhin sagen: Liebe, Tod, Arbeit. Also These – Antithese – Synthese, wie schon bei den vorangegangenen Fragen.
Wir sehen also, die Dialektik von Hegel, von Marx, aber auch die von Platon findet auch in unseren Tagen Anwendung. Philosophie als auch Dichtung sind die diachronischen Formen des Schaffens. Sie überschreiten die Grenzen der Epochen, und sie überwinden auch den Tod, der das eine Lehen, das andere einzelner Menschen, bestimmter Epochen besiegelt. Wenn wir also sagen: Liebe, Tod, Arbeit – ob wir die nun Dichtung nennen oder bildende Kunst, ob es die Wissenschaft oder die Philosophie ist, gemäß dem Material, das Kunst und Wissenschaft benutzen – dem Wesen nach ist es dieselbe Liebe.
Reichelt: Sie haben oft über die Freiheit des Menschen geschrieben, die Freiheit zum Guten oder zum Bösen. Wie denken Sie heute darüber bei all den historischen Erfahrungen Ihres Lebens?
Ritsos: Die Freiheit ist für den Menschen ein prinzipieller Kampf. Natürlich bewegt sich dieser Kampf zwischen Gegensätzen, ohne diese Gegensätze gäbe es nicht den Kampf, das Ziel, das Zufriedenheit, Ruhe geben soll. Gerade weil es auf der einen Seite die Barmherzigkeit gibt, die splachnia, wie wir das in unserer heutigen Dimotiki (Volkssprache) sagen. Splachniá, die spláchno (das Innere) kommt vom menschlichen Herzen. Auf der anderen Seite ist die Unbarmherzigkeit, die Härte (Grausamkeit) der Epochen, die Härte der Kriege, die Härte der Macht, die Härte eines Landes, das ein anderes erobern will, die Härte unter den Menschen, wo der eine den anderen unterdrücken, in den Staub treten will, ihn erniedrigen, entwürdigen, versklaven, So gibt es immer im Leben den Kampf, um die Ketten zu zerbrechen, den Kampf für die Überwindung der Sklaverei, Die Sklaverei wiederum gibt uns einen Begriff von Freiheit, der Notwendigkeit von Freiheit. Deshalb, sehen Sie, rufen jedesmal die negativsten Elemente des Lebens positive Reaktionen hervor. Sie geben dem Menschen nicht allein Kraft, sondern auch das Bewußtsein ihrer Kraft zur Durchführung dieses Kampfes, für die Verwirklichung des letzten Zieles, das kein anderes ist – und ich wiederhole es wie einen Gemeinplatz, wie eine allbekannte Losung, die aber eine tiefe Wahrheit enthält –, als der Ausdruck des menschlichen Strebens nach Glück, Liebe, Frieden.
Reichelt: Als junger Dichter waren Sie den französischen, den spanischen Surrealisten verpflichtet, später zunehmend der klassischen griechischen Dichtung. Wie sehen Sie das Verhältnis von Experiment, Neuerertum und der klassischen Einfachheit?
Ritsos: Zunächst meine ich, daß es sich hier um ein Mißverstündnis handelt. Ich war niemals reiner Surrealist. Den Surrealismus akzeptiere ich als außerordentlich wichtiges und bedeutsames Experiment, der die akademischen Fesseln zerbrach und eine größere, umfassendere Bildhaftigkeit in der Dichtung erlaubte. Ich akzeptiere den Surrealismus als Erforscher, als Bahnbrecher, der aber auch einen großen Fehler gemacht hat. Er leimt die Logik ab, aber diese ist eine menschliche Eigenschaft. D.h. ich glaube, die Kunst, die Dichtung kennt keine Teilung, keine Aussonderung: Empfindung, Erkenntnis, Bewußtes und Unterbewußtes, die Logik, das Gehirn, das Absurde – Dichtung trifft keine solche Auswahl. Dichtung ist eine Tätigkeit. Sie ist eine Kraft, die den ganzen Menschen umfaßt. Und wenn ich sage: den ganzen Menschen, meine ich die ganze Menschheit. Sie umfaßt in erster Linie den Körper, in unserem Körper existieren die Sinne, unsere Instinkte, unsere Seele, unsere Haltung, unsere Sensibilität; es gibt den Geist, die Logik. Der französische Philosoph Bergson sagt, die Logik sei das Ergebnis gesellschaftlicher Zwecksetzungen, sie zeichne nur das Notwendige und Nützliche auf. Aber unsere Kunst, unsere Dichtung muß auch das scheinbar Unnütze und Unbestimmte, das Unfaßbare und das Unerklärliche aufzeichnen, ebenso wie das Sichtbare, Faßbare, Konkrete. Wenn wir eine Frau lieben, lieben wir nicht nur ihre Seele, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihre Vorstellungen, nicht nur ihre Zuwendung für uns – es wäre reiner Egoismus, liebten wir nur: das, was eine Frau von uns hält. Aber in erster Linie lieben wir ihren Körper. Nehmen wir dem Körper eine Funktion, wie etwa die Logik, fehlt ihm etwas. Ebenso würde auch der Dichtung etwas fehlen. Deswegen sage ich, ich war niemals reiner Surrealist. Der Surrealismus hatte einen grundlegenden Fehler. Im Namen der Aufhebung der Logik schuf er eine andere, strengere und schlechtere Logik. Er versuchte, nicht logisch zu sein, und schuf doch eine Logik, die viel enger war als die bestehende: eine Logik. die alogisch sein will. Das ermöglichte eine Geisteshaltung, die doch gerade für die Dichtung abgelehnt wurde. Deshalb glaube ich, ein Dichter darf nicht Sklave einer Schule sein. Er kann von allen Schulen nehmen, er kann mit seinem eigenen Werk neue Schulen schaffen, aber er ist nicht Sklave vorangegangener Schulen, auch nicht der seinigen, die er selber schafft. Wir haben dafür in der Malerei das große Beispiel Picasso. Er begann als akademischer Maler, wurde Surrealist, Futurist, er gehörte zu den Fauvisten, den Impressionisten. den Expressionisten, schuf und entdeckte den Kubismus, hinterließ diesen seinen Nachahmern. Er selbst kehrte oft zur akademischen Malerei zurück, auch zur impressionistischen, und gelangte schließlich zur kindhaft-ursprünglichen Malerei. Ein Dichter umfaßt also, wie jeder wahre Künstler, alles, was ihm vorausgegangen ist, alles, was ihm seine Epoche gibt und was in den folgenden Epochen geschaffen wird.
Aus dem Griechischen von Anneliese Malina
Sinn und Form, Heft 2, März/April 1989
ZUM TOD VON JANNIS RITSOS
Die Sonne
sang er
das Meer
den Fels
von Anbeginn
Griechenlands
Blumen Früchte
Mann Frau
immer Tod
so viel Tod
sang er
von Anbeginn
Gefangenentod
für die verschiedenen
Hunger der Mächtigen
Ein Herbst ohne Ernte
trat ihm entgegen
zuerst verweigerte er das Gespräch
dann hörte er zu Essen auf
er starb
als tausend Statuen
Lenins in tausend Städten
stürzten
Margarete Hannsmann
Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos
Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus
Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos
Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos
Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer: Jannis Ritsos
Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984
Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984
Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984
Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989
Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989
Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis und Keti Thimi.
Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.
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