300
Die Sägespäne, die aus deinem Haar fielen, fand ich
aaaaaheute im Gedicht.
301
Unter dem unbewegten Papier treibt ein großer
aaaaaSturm die Schiffe auf die Felsen zu.
302
Die Trompeter stiegen lautlos von Mykene herab.
303
Mysteriöses Licht, vervielfacht in zerbrochenen Spiegeln.
304
Wiederholung: sich der anonymen Bedeutung versichern.
305
Auf der Agora, lautstark, mit Waagen, mit Besenstielen, mit Fleischständen.
306
Sie zogen fort. Verlassenheit. Tiefes Einatmen des Blaus.
307
Sie rissen Löcher in die Trommeln, versteckten dort ihre Handschriften.
308
Tote Stadt. Die Herolde kamen. Zertrümmerte Statuen.
309
Jeder hat seine kleine Geschichte. Wirf noch Mörtel zu!
310
Die weiße Kirche auf dem Berg nennt dich noch heimlich, Griechenland.
Der 1909 geborene Jannis Ritsos schrieb 1979 die Erste Reihe der Monochorde – 336 einversige Gedichte −, denen 1980/81 die Zweite Reihe und 1981 die Dritte Reihe folgten. Solch eine formale Klammer, die für Ritsos etwas Neues darstellte, dabei seine Vorliebe für die Zahl 3 offenbarend, benutzte er noch einmal 1982 im Band 3 x 111 Tristichen, in dem 333 dreiversige Gedichte enthalten sind. Für die (auch moderne) neugriechische Lyrik hingegen ist der festgefügte, meist traditionelle Versbau, den Ritsos in seinen ersten Zyklen Anfang der dreißiger Jahre durchspielte, weit verbreitet. Vor allem der in einem Monochord zitierte Odysseas Elytis geht in vielen Gedichtbänden von einer bestimmten Zahenhierarchie aus. 1977 hatte Ritsos in einer tausendversigen poetischen Autobiographie Das ungeheure Meisterwerk. Erinnerungen eines ruhigen Menschen, der nichts wußte gleichsam fotografisch-fragmentarisch das 20. Jahrhundert Revue passieren lassen. Wie als Pedant dazu lesen sich die oft skizzenhaften „Ein-Klänge“, die einem poetischen Zettelkasten entnommen scheinen.
Nicht zufällig also, daß Ritsos – für den die „verlorenen“ bzw. „nicht passenden“ Schlüssel zu den wichtigsten Topoi seiner Poetik gehören – im letzten Monochord von „meine Schlüssel“ spricht. Vielleicht ist der aphoristische Ton gemeint, dem man hier zum erstenmal bei ihm begegnet, oder die prägnante Reduktion auf einen Vers. Allerdings, der Prozeß der lyrischen Desillusionierung und Versachlichung begann bereits Anfang der sechziger Jahre mit dem Gedichtband Zeugenaussagen. In einem Essay von 1962 verwies Ritsos auf die wesentliche poetische Notwendigkeit, sich kurz zu fassen: Um den flüchtenden Augenblick anhalten und dessen Beschaffenheit blitzartig erhellen zu können – ein die Monochorde beherrschender Gedanke.
Den transparenten Hintergrund für die Monochorde bilden die Biographie des Dichters und die immer anwesende griechische Geschichte; schicksalshaft manchmal, manchmal vom Individuum durchschaubar: Szenen aus einer tragikomischen modernen Antike, Schwarz-weiß-Aufnahmen karger Landschaften, Darstellungen deformierter Gestalten aus der linken Bewegung – der Ritsos ein Leben lang verbunden blieb –, Alp- und Tagträume von einer „heilen Welt“, Bilder bezaubernder menschlicher Körper, Erinnerungen an die Zeit der Diktatur. …
Asteris Kutulas, Aus dem Nachwort, November 1988
erreicht die Dichtung von Jannis Ritsos in einer Hinsicht ihren Höhepunkt. Da er sich damit zum ersten Mal zu dieser aphoristischen Schreibweise entschließt, erhellt er in einer Art Momentaufnahme wesentliche Züge seiner eigenen Biographie, sowie der Geschichte Griechenlands, wie auch der Quintessenz der Dichtung überhaupt.
Das Buch, das dem deutschsprachigen Lesepublikum in der Übertragung des hochqualifizierten Übersetzers vieler Ritsos-Werke Asteris Kutulas vorgestellt wird, war ein kleines Geschenk zum 80. Geburtstag des am 1. Mai 1909 geborenen und am 11. November 1990 verstorbenen großen griechischen Dichters.
Romiosini Verlag, Ankündigung
Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos
Asteris Kutulas: Interviews mit Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos & Mikis Theodorakis
Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus
Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos
Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos
Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer: Jannis Ritsos
Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984
Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984
Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984
Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989
Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989
Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis und Keti Thimi.
Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.
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