ERKENNTNIS
Stein kehrt wieder zu Stein.
Jahre hindurch mit den Feigenkakteen, mit
aaaaaabgebrochenen Gesprächen;
die Linienschiffe kommen immer verspätet; der
aaaaaRauch neben der Hafenlaterne;
am Kai schlafen auf ihren Bündeln die Reisenden;
Tote lauern hinter den Zeitungen; Sterne,
riesige Sterne schreien über dem ehernen Meer, möchten
die heimliche Mordtat vertuschen – nie hat einer zu Ende über sie ausgesagt.
Da wolltest du – du – deine Gangart ändern, es deinem Schatten gleichtun,
und wußtest schon, daß der allerletzte Sprung nicht dorthin reichen würde.
Monovassiá, 17.X.76
Am 24. Juli 1974 stürzt in Griechenland eine Militärjunta, die mit wohlwollender Billigung durch die USA das Land sieben Jahre lang ökonomisch und moralisch heruntergewirtschaftet hat. Es vergehen noch mehrere Wochen, bis sich in der Bevölkerung Sicherheit darüber einstellt, daß zugleich auch das Ende des ‚gewöhnlichen‘ Polizeistaates gekommen ist, der Griechenland seit Ende des Zweiten Weltkrieges in verschiedenen Formen war.
Jannis Ritsos hat als kommunistischer Intellektueller während der Diktatur zweieinhalb Jahre in Internierungslagern und in lückenlos überwachtem Hausarest verbracht. Jetzt, plötzlich frei zu unüberwachtem Reisen an jeden Ort im In- und Ausland, fährt er von einem Wohnsitz auf Samos aus – beinahe von der türkischen Küste – quer durch das Land über Athen zum südöstlichen Zipfel der Peloponnes, in das fast verlassene und verfallene Küstenstädtchen Monovassiá (amtlich Monemvassía), den Ort seiner Kindheit. Es ist keine nostalgische Suche nach Ruhe in einer heilen Vergangenheit, die den fünfundsechzigjährigen Dichter sofort hierhin führt. Er weiß im Gegenteil genau, daß er mit bedrückendem Verfall konfrontiert sein wird. Er reist dennoch – in dem seit seiner Jugend sicheren Bewußtsein, daß hier seine persönlichen und künstlerischen „Wurzeln“ liegen. Der fruchtbaren Verbindung mit diesem Ursprung will er sich versichern. Wahrscheinlich gerade zur Zeit der Entstehung des „Monovassiá“-Zyklus, dessen meiste Gedichte durch erneute Besuche des Ortes 1975 und 1976 angeregt wurden, hat er über sein besonderes Verhältnis zu dem Kindheitsort eine bewegende mündliche Auskunft gegeben: „Sprechen können wir über etwas, das wir staunend bewundern, wenn es sich in einer Entfernung von uns befindet. Monovassiá ist, was ich auf dem Leib trage – ja, es ist mein Körper, ich lebe innen in Monovassiá.“
Das hier formulierte Paradox des sich entziehenden Nächsten prägt auch den Gedichtzyklus. Einerseits sind die einzelnen Gedichte gesprochen aus einer „uralte(n) Vertrautheit“ mit der Topographie des Ortes, seiner Geschichte, seinen lebenden und seinen gestorbenen Bewohnern, mit seiner Architektur. Vor allem aber betätigen sich dem impliziten Sprecher der Gedichte die grundlegenden eigenen „Prägungen“ durch diese sinnliche und kognitive Gegenständlichkeit Monovassiás. Er bekennt sich zu ihnen mit einer Art von staunendem Stolz. Insofern ist der Kindheitsort ihm das Nächste. Andererseits drückt der von der Komposition des Zyklus gewollte jähe Wechsel der Töne eine Unruhe aus, die darauf hinweist, daß jeder fixierende Blick auf Monovassiá sogleich einer Ergänzung aus anderer Perspektive bedarf. In der Abfolge der Gedichte wird gefaßte Reflexion relativiert und ergänzt durch die Unmittelbarkeit ergriffener Rede, der Ausdruck stolzer Selbstgewißheit durch die Äußerung bestürzter Ratlosigkeit. Eine nur bedingte Faßlichkeit, kennzeichnet zuinnerst den poetischen Gegenstand Monovassiás, der sich für Ritsos durch den Ort Monovassiá/Monemvassía andeutet. Das Erstaunen, das dieser auslöst kehrt immer wieder…
Offenkundig zielte Ritsos zur Entstehungszeit des „Monovassiá“-Zyklus nicht mehr auf politische oder historische Parteinahme durch Gedichte. So findet sich in dem Zyklus, der zu einem großen Teil Geschichtsdichtung ist, auch keinerlei Hinweis auf eine Auseinandersetzung mit den Jahren der Diktatur. Später hat Ritsos die hier nur erst werkimmanente Entscheidung gegen politische Aufgabenstellung für Dichtung auch in theoretischen Reflexionen wiederholt und bekräftigt. Er vermißte die ästhetische Legitimation auch eigener Gedichte zu politischen Themen, darunter solcher, die ihn mit berühmt gemacht haben, wie z.B. die Makrónissos-Gedichte und „Die Nachbarschaft der Welt“.
Dieser Schritt seines poetologischen Nachdenkens hatte einen Irrtum der Literaturkritik zur Folge. Weil er gegenaufklärerische Wünsche befriedigt, behauptet er sich im Feuilleton über Ritsos’ Person und Werk noch heute zäh. Scheint es doch auf den ersten Blick, als könne man mit dem Placet eines herausragenden linken Autors die altbekannte Dichotomie von ‚reiner‘ und ‚politischer‘ Dichtung einmal mehr aktualisieren. Nach diesem Schema ist die ‚politische‘ Dichtung eine ‚engagierte‘; die ‚reine‘ dagegen – die auch die ‚originäre‘, ‚authentische‘ o.ä. heißt – verfolgt keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck. Sobald man die scheinbare begriffliche Abgrenzung mit Ritsos’ Gedanken zur Poetik konfrontiert, erweist sie sich als haltlose Sprachregelung. Ritsos hat als Diagnostiker der Lebensumstände seines Jahrhunderts illusionslos registriert, daß einst leicht bestimmbare gesellschaftliche Gewaltverhältnisse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Undefinierbarkeit komplex geworden waren – im Kern dadurch, daß die Opfer gesellschaftlicher Gewalt, zu deren Befreiung die linken politischen Bewegungen sich einmal konstituiert hatten, inzwischen bewußtlos auch als Mittäter ihrer eigenen Unterwerfung agierten. (Viele Texte Ritsos’ sind Psychogramme der Transformation von Gewalt äußerer Verhältnisse in mentale Deformation, die den Verzicht auf Selbstbestimmung unspürbar macht.) 1984 – seit fast einem Jahrzehnt ist Griechenland erstmals eine parlamentarische Dmokratie – notiert Ritsos über die durchaus frei redenden Zeitgenossen: Sie führen „keine Zwiegespräche, sie sagen nichts Eigenes, […] Besonderes (und daher Allgemeines). Nur Worte, fremde, mechanische, journalistische […]. Sie sehen sich um neun und um zwölf auch die Fernsehnachrichten an (neuerdings in Farbe), betrachten sich als hinreichend informierte Menschen und sind in jeder Hinsicht anwesend (hier und heute), zugleich aber sind sie abwesend – abwesend von ihrem Ich, von ihrer Vergangenheit, ihrer Zukunft und natürlich von ihrer Gegenwart. Konstatiert wird also ein Verlust eigener Erfahrung und Geschichte, d.h. von Denk- und Handlungsraum. Der Verlust steht in einem Wirkungszusammenhang – vielleicht einer Wechselwirkung? – mit der Entfremdung der Sprache (wie auch der Visualität), die Verständigung und Selbstverständigung nicht mehr leistet. Dem Dichter gibt dieser Zustand auf, eine Sprache zu finden, die aus der Erstarrung in Kommunikationslosigkeit herausführen könnte. In den Metaphern eines poetischen Schlüsselwerkes hat Ritsos diese Aufgabe schon früher formuliert: „Ändere deine Stimme, sage auf andere Art: dies – bloß dies. Suche im Schweigen nach der Stimme, die durch die große eiserne Wand dringt.“ Die Metaphern lassen absichtsvoll offen, was gesagt werden müsse. Aber sie sagen deutlich, daß es vom subjektiven Hinzutun und der Bemühung des Sprechens abhängt, ob Verständigung durch die jetzt noch undurchdringliche Sperre hindurch gelingen, die geschichtslose Erstarrung also aufgehoben werden kann. Ausgedrückt ist dies als ein verpflichtender Appell. Ritsos versteht ihn zugleich ethisch und poetologisch, wenn er, – eben zur Zeit seiner sprachphilosophischen Gesellschaftskritik – gelingendes „Leben“ definiert als eine „Schlacht gegen den Tod, gegen all die täglichen Tode. Und die Gedichte [sind] eine endlose Schlacht gegen den Tod.“ Demnach ist ein Engagement konstitutiv für Dichtung; es ist ihr immanent und richtet sich gegen „die täglichen Tode“ im verständigungslosen Zustand. Weil Dichtung damit als befreiender Eingriff in gegenwärtige Lebensverhältnisse verstanden wird, ist ein besonderes ‚politisches Gedicht‘ ein theoretisches Pleonasmus, gewissermaßen eine gedankliche Mißgeburt mit einem überflüssigen, zweiten Kopf. Unverkennbar führt Ritsos’ besorgtes Nachdenken nicht zurück zu der Dichotomie von ‚reiner‘ und ‚engagierter‘ Dichtung; sondern es hebt die Dichotomie im einen Begriff von der Dichtung auf.
Ein Verständnis des „Monovassiá“-Zyklus müßte die Frage beantworten, wodurch auch diese Gedichte in „eine[r] endlose[n] Schlacht gegen den Tod“ engagiert sind.
Klaus Peter Wedekind, Aus dem Nachwort
ist ein Zyklus von 36 Gedichten, geschrieben 1974-1977. Nach dem Ende der Diktatur 1974 bekam der verbannte bzw. mit Hausarrest belegte Jannis Ritsos die volle Bewegungsfreiheit zurück und stattete seinem Kindheitsort Monovassiá – einem Ort von großer symbolischer Bedeutung in der Geschichte Griechenlands, gelegen auf einer Felseninsel an der Westküste des Peloponnes – mehrere Besuche ab.
Mit seinen byzantinischen, venezianischen, osmanischen und nationalgriechischen Denkmälern steht Monovassiá exemplarisch für das nachantike Griechenland – und evoziert Ritsos’ Kindheit, die Geschichte seines Lebens. „Über etwas, das man staunend bewundert, kann man sprechen, wenn man Abstand zu ihm hat. Monovassiá ist, was ich auf dem Leib trage – ja, es ist mein Körper, ich existiere im Innern von Monovassiá.“
Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2009
– Revolte gegen den Tod: Jannis Ritsos, einer der großen griechischen Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts, tritt in zwei neuen Übersetzungen als Zeuge der Zeit und der Ewigkeit hervor. –
Der Grieche Jannis Ritsos (1909 bis 1990) war elfmal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Doch anders als seine Lyrikerkollegen Seferis und Elytis hat er ihn nie erhalten. Umso erstaunlicher ist seine weltweite Resonanz. Sie reicht über seinen Tod hinaus. Ritsos’ Ruhm ist der Ruhm des Dichters, der sein Leben als Revolte gegen den Tod verstand. Dass er diesen Kampf lange Zeit als Linkssozialist führte, ist für sein Werk eher peripher, aber doch zeithistorisch von Bedeutung.
Das Leben des Dichters stand für Jahre im Schatten von Repression und Diktatur. Unter Ministerpräsident Papagos war Ritsos zwischen 1948 und 1952 in sogenannten Umerziehungslagern interniert, desgleichen 1967/68 unter der Obristen-Herrschaft in Straflagern auf Jaros und Leros. Anschließend lebte er streng überwacht und unter Hausarrest auf Samos. Erst nach dem Sturz der Junta 1974 kam er endgültig frei: als Dichter ungebrochen und inzwischen eine internationale Berühmtheit. Endlich musste er seine Gedichte nicht mehr in Flaschen und Blechdosen aus dem Lager schmuggeln. Endlich konnte er sich frei bewegen und wieder reisen.
In diese Zeit zwischen Unterdrückung und Freiheit führen uns zwei neue Übertragungen aus dem großen Fundus von Ritsos’ Werk aus Anlass des hundertsten Geburtstags im Mai dieses Jahres: der Zyklus Martyríes – Zeugenaussagen und die Gedichtreihe Monovassía. Die Übersetzer der Bände haben sich durch frühere Editionen griechischer Lyrik profiliert: Günter Dietz als Übersetzer von Odysseas Elytis und Klaus-Peter Wedekind mit den Bänden Gedichte und Die Umkehrbilder des Schweigens von Jannis Ritsos.
Martyríes – Zeugenaussagen entstand zwischen 1957 und 1967, also in den Jahren vor dem Putsch der Obristen. Für den dreiteiligen Zyklus gibt uns der Dichter einen Schlüssel an die Hand. In einer Notiz von 1962 benennt er die Motive, die ihn zum Schreiben der zumeist kurzen Texte führten. Darunter die „Notwendigkeit blitzartiger Reaktionen auf gravierende, dringliche Probleme unserer Zeit“. Daher das Epigrammatische und Lakonische der Gedichte. Für diese Lakonie bringt Ritsos halb im Scherz seine Herkunft aus Monemvassía ins Spiel, das in Lakonien liegt.
Die Texte von Martyríes – Zeugenaussagen zeigen einen Doppelcharakter: Es sind Untersuchungen und Bekenntnisse zugleich. Sie nehmen den Menschen existentiell wie politisch als Zeugen in den Blick. Das Eingangsgedicht beschreibt das als „Prozedur“. In ihr entkleidet sich der Mensch bis auf die Haut, ja bis auf die „reine Substanz“. Zugleich definiert er sich als Creator, als jemand, der „kleine Krüge formte, Gedichte und Menschen“.
Natürlich spricht in Martyríes auch der politische Häftling als Zeuge. Ritsos tut es aus seiner früheren Hafterfahrung: „Er kam aus dem Gefängnis. Es war schön. Autos, Bäume, / Türen, geöffnete Fenster, mancherlei Reden, Aber warum dann diese Bitterkeit?“ Ritsos, dem die Junta-Zeit noch bevorstand, hegte schon damals, 1961, keine Illusionen über die Konsequenz der Befreiung.
Die schönste der „Zeugenaussagen“ ist „Sekunde“, eine lakonische Epiphanie:
Eine brennende Zigarette.
Ein Mädchen am Strand.
Ein Stein fiel ins Meer.
Gerade noch konnte er sagen: Leben.
Es ist der Moment der Freiheit, der alle Gefangenschaft transzendiert.
Die 36 Stücke von Monovassiá setzen 1974, nach Ritsos’ endgültiger Freilassung ein. Von Samos, wo er unter Hausarrest gestanden hatte, fuhr der inzwischen fünfundsechzigjährige Dichter in das Städtchen Monemvassía (wie es amtlich heißt), in den Ort seiner Kindheit und schrieb dort und in anderen Orten eine Art lyrisches Tagebuch.
Aber das Genre täuscht, denn vieles, auf das Ritsos in seinen Gedichten anspielt, verdankt sich intensiven Studien und Erkundungen. Monemvassiá, das über ein Jahrtausend Hafen und Festung war, spielt seit dem neunzehnten Jahrhundert eine symbolische Rolle in der Neubestimmung des Griechentums, als Bastion der Gräzität. Manches davon scheint in den Gedichten auf. Und die Gedichtfolge resümiert es mit den Schlusszeilen: „Genau jetzt verstanden wir, dass nichts verlorengegangen war.“
Was Ritsos in Monovassiá rekapituliert, hat nichts mehr mit dem marxistisch geprägten Geschichtsbild seiner früheren Arbeiten zu tun. Es ist zeitlos und subjektiv zugleich. Das zeigt nicht zuletzt das Selbstporträt, das Ritsos auf der Mitte des Zyklus entwirft. In „Angaben zur Person“ blickt der Dichter selbstkritisch und stolz zugleich zurück. Aus der Zeit „an der zeitgenössischen Hochschule des Befreiungskampfes“ bleibt ihm wenig: „Worte, Worte – mir blieb nichts anderes übrig.“ Aber eben aus seinem Dichtertum zieht der Poet seinen Stolz und sein Selbstverständnis. Er lässt sich nicht durch falsche Komplimente – sei es aus Ost oder West – korrumpieren: „Nun waren plötzlich die Schmeichler da, verneigten sich tief, steckten an meine Finger goldene Ringe.“
Ritsos distanziert sich vom ideologischen Geschichtsoptimismus, dem er einst anhing. Er erhebt seine Geschichtsklage, sein Ecce historia:
Wie viele Kriege,
Belagerungen, Plünderungen, totgeschlagene Priester, geraubte Ikonen
siedendes Öl, Wurfmaschinen, Kanonen.
So ist Monovassía eine Fortführung seiner „Zeugenaussagen“, ein weiteres Zeugnis jener Revolte gegen den Tod, die Jannis Ritsos als seine Lebensaufgabe betrachtet hat.
Eine Spurensuche in der eigenen Kindheit und in den prägenden Stätten der frühen Jahre, eine Rückkehr an den Ort, an dem der Dichter im Jahr 1909 geboren wurde und in dem er aufwuchs – auch das ist der Zyklus Monovassiá des großen griechischen Lyrikers Jannis Ritsos:
Deine Kinderjahre haben auf dich gewartet in vergessenen Winkeln,
in niedergerissenen Gebäuden, in byzantinischen Gewölben –
da war der Laden des Friseurs; da der des Schusters; da
müsste das Fischgeschäft gewesen sein.
1974 endete die Diktatur des Militärs in Griechenland und damit zugleich der Hausarrest des Dichters, der damit seine Bewegungsfreiheit zurückerlangte. Gleich die erste Reise führte ihn nach Monemvasia, wie sein Geburtsort offiziell in den Atlanten heißt, und in den folgenden drei Jahren entstanden sechsunddreißig Gedichte von wechselnder Länge, doch allesamt in Langzeilen gehalten, die auch den Ausdruck Gesänge rechtfertigen würden.
Monemvasia liegt an der südöstlichen Küste Lakoniens, besser: ihr vorgelagert, denn die Stadt wurde auf einer kleinen, nur durch einen Damm mit dem Festland verbundenen Insel errichtet. Die Unterstadt, die sich dem Meer zuwendet (wo „die Statuen in Gesellschaft der Haie / auf dem tiefsten Meeresgrund“ liegen), wird überragt von der Festung, die Monemvasia lange Zeit uneinnehmbar machte – zusammen mit der natürlichen Widerständigkeit der Insel, die auch in den Gedichten sofort ins Auge fällt und den Zyklus fast wie ein Leitmotiv durchzieht: Als ein „Fels auf dem Fels“ wird die Stadt gleich zu Beginn charakterisiert, sie ist ein Ort „des wilden Gesteins“, wo nur die Wurzel des Feigenbaums sich tief im harten Grund verankern kann; über diesem Fels erheben sich Stadt und Festung, ihrerseits aus Stein und damit „Ebenen von Dauer“.
Wie immer bei Ritsos sind die Schilderungen dessen, was ihn umgibt und zum Schreiben drängt, von großer Sinnlichkeit und visueller Kraft; man glaubt das Meer förmlich zu hören, spürt die Sonne:
Die Mittage gehämmert von den Zikaden,
Juli-August, Gluthitze und Salz, der herabgestürzten Laternen,
fasst du Stein oder Holz an, verbrennt sich dein Finger
Und wie immer ist es nicht zuletzt das genau erfasste, unscheinbare Detail, das den Versen zu ihrer üppigen Präsenz verhilft.
In einem früheren Gedicht hatte Ritsos einmal geschrieben, er verstecke sich hinter einfachen Dingen, damit man ihn finden könne, und so geht auch hier das „Immerwährende“ des Felsen- und Festungsmassivs eine zwanglose Allianz mit dem Flüchtigen ein:
Bei Matúlas altem Restaurant
pries der Duft von Fischsuppe aufs neue die enge gepflasterte Stätte
Jannis Ritsos war lange, gerade auch im deutschsprachigen Raum, vor allem als Dichter des Widerstands, als politischer Autor bekannt, der früh der kommunistischen Partei beitrat, im Zweiten Weltkrieg erfolgreich gegen die deutsche Besatzung kämpfte und später Jahre in den Straflagern der Obristen verbrachte. So mag es auf den ersten Blick verwundern, dass er, der gerade erst Befreite, nicht ausdrücklich auf die jüngeren politischen Ereignisse eingeht und nur kurz auf die eigene Rolle zu sprechen kommt:
Ich studierte Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft
an der zeitgenössischen Hochschule des Befreiungskampfes. Mein Beruf:
Worte, Worte – mir blieb nichts anderes übrig.
Die griechische Geschichte freilich ist in jedem Gedicht präsent, sie hat sich der Stadt geradezu eingeschrieben, wo jeder „Stein sturzglatt poliert / vom Durchzug der Soldaten“ ist.
Die Stadt ist für Ritsos die steingewordene Geschichte, Zeugnis eines nicht endenden Prozesses: Die „Gefangenen trockneten aus in der Sommerhitze, wurden Steine, / andere Geschlechter hoben die Steine auf, bauten die Häuser neu“, wie es in einem großartigen Bild heißt. Die Geschichte, in Schichten abgelagert. Und so überschneidet sich in jedem Gedicht auch die private Geschichte mit der Geschichte der Stadt Monemvasia, die sich am längsten gegen die türkische Herrschaft gewehrt hatte und deren Name für viele Griechen daher einen fast mythischen Klang hatte. Monemvasia war jahrhundertelang eine bedeutende Stadt an der Ostküste des Peloponnes und bis zum Zweiten Weltkrieg strategisch von höchster Wichtigkeit. Den byzantinischen Herrschern folgten die Kreuzfahrer, die Venezianer, schließlich die osmanischen Sultane. All die Grausamkeiten finden ins Gedicht, die Belagerungen, die auch in den siebziger Jahren längst historisch waren; trotzdem kommt man kaum umhin, beim Lesen der Zeile „Wir haben endlich gesiegt, sagten die Monovassier, und fingen an zu weinen“ auch an das Ende der Militärherrschaft zu denken. Vom „Dokument der Steine“ spricht Ritsos an einer Stelle; es ist seine Kunst, die Steine zugleich zum Sprechen und zum Leuchten zu bringen.
– Er arbeitete als Gelegenheitsarbeiter, wurde dann durch seine Gedichte über Nacht bekannt. Seiner kommunistischen Überzeugung blieb er jedoch auch als Dichter treu: Jannis Ritsos, der als einer der großen Neuerer der griechischen Lyrik gilt. Zum 100. Geburtstag Ritsos’ erscheint das Gedichtband Monovassiá in deutscher Übersetzung.–
Denkt an mich zurück, sagte er. Tausende Kilometer ging ich
ohne Brot, ohne Wasser, über Steine und Dornen,
um euch Brot und Wasser und Rosen zu bringen. Die Schönheit
− niemals verriet ich sie. Alles, was ich besaß, verteilte ich gerecht.
Für mich selber behielt ich nichts. Bettelarm. Mit einer Lilie vom Feld
erhellte ich unsere schlimmsten Nächte. Denkt an mich zurück.
Und seht mir diese letzte Traurigkeit nach.
Das ist der Anfang von Jannis Ritsos’ Gedicht „Als Epilog“. Ein passender Titel, denn es ist sein letztes Gedicht – geschrieben 1987, drei Jahre vor seinem Tod. Da ist Ritsos bereits schwer krank. Wie in vielen Texten spricht er von sich mal in der ersten, mal der zweiten oder dritten Person.
Das Gedicht zeigt einen selbstbewussten Autor, der um den Wert seines Werkes weiß – das vor allem im Zeichen der Schönheit steht. Und doch ist er alles andre als ein Schöngeist oder Ästhetizist. Seine Gedichte sind oft karg wie die griechische Landschaft; er verabscheut große Worte, nutzt die Sprache des Volkes – und schreibt über das, was andre übersehn: das Alltägliche, Kleine, scheinbar Unbedeutende.
Und: Ritsos ist, bei aller Suche nach Schönheit, Kommunist. Sein Werk tritt immer auch für den Mensch und dessen Freiheit ein, für Randfiguren und Unterdrückte. Über 30 Jahre galten seine Texte griechischen Regierungen als „gefährlich“, konnte er nicht frei publizieren. Vor diesem Hintergrund versteht man die zweite Hälfte seines „Epilogs“ – in dem es um einen „tiefroten Flicken“ am Ärmel eines Mannes geht:
Ich würde gern
noch einmal mit dem dünnen Mondsichelchen
eine reife Ähre schneiden. Auf der Türschwelle stehen, schauen
und ein Getreidekorn ums andere mit den vorderen Zähnen zerkauen
in Bewunderung und Lobpreis für diese Welt, die ich verlasse,
in Bewunderung auch für Ihn, der den Hügel hinaufsteigt im
Sonnenuntergang ganz von Gold. Seht:
Am linken Ärmel hat er einen tiefroten viereckigen Flicken. Der
ist nicht sehr deutlich zu erkennen. Und das vor allem wollte ich
euch zeigen.
Vielleicht deshalb vor allem lohnte es sich, dass ihr an mich
zurückdenkt.
Jannis Ritsos wird am 1. Mai 1909 in Monovassiá geboren – als Sohn einer wohlhabenden, doch bald verarmten Familie. Der Vater verspielt das Vermögen, die Mutter stirbt an Tuberkulose, Ritsos’ Schwester wird wahnsinnig – Tod und Krankheit prägen seine Jugend und sein Werk. Er beginnt früh zu schreiben, lebt von Gelegenheitsarbeiten.
Am 9. Mai 1936 wird ein Aufstand griechischer Arbeiter blutig niedergeschlagen – wie im Rausch schreibt Ritsos den Gedicht-Zyklus „Epitaphios“, die Totenklage einer Mutter über ihren getöteten Sohn. Der Autor wird quasi über Nacht bekannt.
Doch in diesen Jahren kommt Griechenland nicht zur Ruhe. Im Krieg marschieren die Nazis ein, danach herrscht Bürgerkrieg, gefolgt von einer Diktatur. 1948 wird Ritsos als Kommunist verhaftet und interniert, später steht er unter Hausarrest. Erst 1974, als eine Demokratie errichtet wird, ist er wieder ganz frei. Er kehrt in seine Heimatstadt Monovassiá zurück und schreibt den gleichnamigen Gedichtzyklus, der jetzt auf deutsch erschien.
DER URSPRUNG
Hier sind unsere Wurzeln. Von diesem Balkon betrachtetest
du zum ersten Mal das Meer
zwischen zwei Sonnen am Morgen – die eine rosig, die andere schwarz −
du hattest ein Spiegelchen in der Tasche, einen Kamm, ein Taschentuch,
im Rücken die Schroffheit des Felsbergs, die den brennenden
Maßstab von Größe entfaltete;
es roch der Thymian und der Rost an den Riegeln der Quarantänestation.
Monovassiá, das auf einem hohen Felsen liegt, bedeutet wörtlich „einziger Zugang“. Im byzantinischen Reich war der Ort eine wichtige Festung, Jahrhunderte lang versuchten feindliche Truppen, sie einzunehmen. So wurde der Ort zu einem griechischen Symbol für Standhaftigkeit, Überstehen – ein Mythos. Dort aufzuwachsen, in Ákra Minóa, wie der antike Name der Stadt heißt, prägte Ritsos tief.
Datum meiner Geburt: möglicherweise 903 vor Christus −
gleichermaßen möglich
903 nach Christus. Ich studierte Geschichte der Vergangenheit und der Zukunft an
der zeitgenössischen Hochschule des Befreiungskampfes.
Mein Beruf: Worte, Worte – mir blieb nichts anderes übrig.
Auf dem Standesamt gaben sie mir in den letzten Jahren
das unwahrscheinlichste Datum meiner Geburt: 1909.
Ich habe mich damit eingerichtet und lasse es so. Schließlich,
im Jahr 3909, setzte ich mich auf meinen Hocker, wollte eine Zigarette rauchen.
Nun waren plötzlich die Schmeichler da, verneigten sich tief,
steckten an meine Finger glänzende Ringe.
Die Ahnungslosen wußten nicht, dass ich selbst sie gefertigt hatte aus ihren leeren Patronenhülsen,
die noch im Bergland lagen.
Jedenfalls das einzig gewisse: Ort meiner Geburt: Ákra Minóa.
Jannis Ritsos ist einer der großen Neuerer der griechischen Lyrik. In der Nachfolge von Kavafis verabschiedete er den „hohen Ton“ aus der Dichtung, verband Tradition und Moderne, Volkslied und Mythos. Und: Ritsos ist ein „Dichter der Dinge“, die er respektvoll beschreibt, deren Freundschaft er preist. Sie lehren, anwesend zu sein, sind Zeugen auch unseres Lebens. Im folgenden Gedicht geht es um nichts weiter als einen Morgenrock. Jannis Ritsos liest es selbst – es ist eine der wenigen Aufnahmen seiner Stimme in deutschen Radioarchiven:
ERINNERUNG
Ein warmer Duft war in den Achseln ihres Morgenrocks haften geblieben.
Der Morgenrock am Haken des Korridors wie ein geschlossener Vorhang.
Was jetzt noch geschah, war in einer anderen Zeit.
Das Licht wechselte die Gesichter, alle unbekannt.
Und wenn jemand ins Haus wollte,
hob jener leere Morgenrock langsam, verbittert die Arme
und schloß stumm wieder die Tür.
Asteris Kutulas: Begegnungen mit Ritsos
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Asteris Kutulas: Jannis Ritsos – Die Maske und der Kommunismus
Asteris Kutulas: Interview mit Elli Alexiou über Jannis Ritsos
Ein Dialog zwischen Asteris Kutulas und Peter Wawerzinek über die fabelhafte Welt des Jannis Ritsos
Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer: Jannis Ritsos
Jürgen Werner: Gedichte als Waffen und Lobpreisung der Liebe
Neues Deutschland, 2.5.1984
Erasmus Schöfer: In allen Adern der Erde
die horen, Heft 134, 2. Quartal 1984
Asteris Kutulas / Uwe Goessler: Weg eines Dichters
Neue Deutsche Literatur, Heft 4, April 1984
Gerd Prokot: Jannis Ritsos – Künstler, Kommunist und Freund der DDR
Neues Deutschland, 27.5.1989
Gisela Steineckert: Gruß an Genossen Ritsos
Neues Deutschland, 27.5.1989
Armin Kerker: „Hast du dein Brot gegessen, konntest du sprechen?…“
die horen, Heft 153, 1. Quartal 1989
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 1/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios. Ein Dokumentarfilm über die Entstehung, Teil 2/2.
Jannis Ritsos: Epitaphios in der Version von Grigoris Bithikotsis und Keti Thimi.
Jannis Ritsos liest, Mikis Theodorakis dirigiert und Maria Farantourie singt aus dem Epitaphios.
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