CAFÉ SLAVIA
Von der Uferstrasse durch eine Geheimtür
aus so klarem Glas,
daß sie fast unsichtbar ist,
aaaaaaaaaaaaaaund deren Angeln
geschmiert sind mit Rosenöl,
pflegte Guillaume Apollinaire einst einzutreten.
Er trug noch den Kopfverband aus dem Krieg.
Er setzte sich zu uns
aaaaaaaaaaaaaaaund las brutal schöne Verse,
die Karel Teige sofort übersetzte.
Dem Dichter zu Ehren
aaaaaaaaaaaaaaawurde Absinth getrunken,
der grüner
aaaaaaaaaaaaaaaals alles Grüne ist,
und wenn wir von unserem Tisch aus dem Fenster blickten,
floß die Seine unter dem Kai.
aaaaaaaaaaaaaaaaAch ja, die Seine!
Breitbeinig, ganz in der Nähe
erhob sich der Eifelturm.
Einmal kam Nezval mit schwarzer Melone.
Damals ahnten wir nicht,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaebensowenig wie er,
daß Apollinaire die gleiche getragen hatte,
als er sich in die schöne
Louise de Coligny-Châtillon verliebte.
Er nannte sie Lou.
Übersetzt von Annemarie Bostroem
„Ich bin in Žižkov geboren, und dieses Prager Vorstadtviertel lebte und lebt in mir fort mit all seiner Farbigkeit, mit allen seinen Freuden, mit seinem Elend und seiner Trauer, bis auf den heutigen Tag“, schreibt der tschechische Dichter Jaroslav Seifert 1982 in seinen Erinnerungen. Hier an der Prager Peripherie, hinter deren rußiger Fassade sich ein pittoreskes, kleinstädtisch anmutendes Gemeinwesen verbarg, erblickte Seifert am 23. September 1901 das Licht der Welt, hier wuchs er auf, ging zur Schule und erlebte seine ersten Erfolge und Enttäuschungen, seine ersten Freundschaften und Liebeleien. Sein Vater, ein Schlosser, der neben der Arbeit einen kleinen Bilderhandel betrieb, um die Familie über Wasser zu halten, ermöglichte ihm den Besuch des Gymnasiums. Doch ermuntert durch den bescheidenen Erfolg, den er mit einigen Gedichten und Artikeln in linksgerichteten Blättern erzielen konnte, verließ Seifert noch vor dem Abitur die Schule, um jetzt, Anfang der zwanziger Jahre, als Redaktionsgehilfe beim Rudé právo, der Tageszeitung der 1921 gegründeten KPTsch, anzufangen. Gleich in seinen ersten journalistischen Arbeiten befaßte er sich mit Theater, Film, Literatur und bildender Kunst.
Das Jahr 1921 sollte für den jungen Jaroslav Seifert mehrfach an Bedeutung gewinnen. So veröffentlichte er in der Kommunistischen Verlagsbuchhandlung Rejman in Prag Die Stadt in Tränen, seine erste, von Haßliebe zur Stadt geprägte Gedichtsammlung: den „Aufruhr des Herzens“ proklamierende Verse, einen Hymnus auf die Revolution, die „das kommunistische Land aus einem Chaos, wie es am Beginn der Welt herrschte, hervorgehen“ lassen werde. Seifert war beileibe nicht der einzige Dichter, der in der soeben erst entstandenen Tschechoslowakei für einen gesellschaftlichen Umsturz plädierte. Junge Poeten wie Jiří Wolker, Vítězslav Nezval und Konstantin Biebl, die vom gleichen Ungestüm besessen waren wie er und zutiefst beeindruckt von den politischen Geschehnissen in Rußland, bekannten sich ebenfalls zu den Idealen der Oktoberrevolution. Als künstlerische Offenbarung empfanden sie die moderne französische Lyrik, die ihnen Karel Čapek unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg in vorzüglicher Übersetzung nahebrachte. Auf das Recht der Jugend pochend, forderten sie mit der gleichen Schroffheit, die sie alles Alte verdammen ließ, eine andere Welt, einen gesellschaftlichen Neubeginn. Und Seifert, empfindsamer als viele der jungen Rebellen, träumte von einem Paradies auf Erden, wo das Leben ein einziger Feiertag sein sollte „bis ans Weltenende“. Mit seinen Freunden teilte er die naive Vorstellung, daß es in erster Linie die Kunst sei, das formale Experiment, die eine soziale Umwälzung bewirke.
Im Februar 1921 stellt sich die revolutionäre Künstlervereinigung Devětsil (Neunkraft, d.i. Pestwurz), die Seifert zusammen mit den Schriftstellern Vladislav Vančura und Adolf Hoffmeister sowie dem Kunsttheoretiker Karel Teige im Dezember des Vorjahres gegründet hatte, zum erstenmal der Öffentlichkeit vor. Diese radikal linksorientierte Gruppe, zu der bald auch Theaterschaffende, Musiker, Maler, Bildhauer und Architekten stoßen, zeigt sich entschlossen, „in die vorderste Reihe derer zu treten, die blaue Blusen tragen und für ein neues Leben kämpfen wollen“. Das Vorwort, das Vančura unter Mitwirkung von F.C. Weiskopf zu Seiferts Band Die Stadt in Tränen schreibt, gilt zugleich als das Manifest von Devětsil:
Du wirst hier nicht vom Ruhm der Stadt lesen, sondern von ihrem Weinen. Denn dein ist das Tränental. Das revolutionäre Lied wird dich aufrufen, denn der Kampf ist dein Werkzeug… Neu, neu, neu ist der Stern des Kommunismus.
Mit seinen frühesten Gedichten schon der literarischen Avantgarde zugehörig, paßt sich Seifert dennoch nicht so ohne weiteres in die zeitgenössische Dichtung ein. So denkt er nicht daran, sich jener nahezu asketischen Zucht zu fügen, wie sie sein Freund Wolker von der Dichtung verlangt. Von Anfang an ist er ein Dichtet der Sinnenfreude, der in seiner zweiten Gedichtsammlung Lauter Liebe (1923) die „Muse der Großstadt und der Technik“ besingt und die Liebe in Gestalt der Frau und des Frühlings zum einzigen Gegenstand der Dichtung erhebt.
Diese frühen zwanziger Jahre sind für Seifert eine stürmische Zeit. 1921 tritt er in die KPTsch ein. Ein Jahr darauf ist er vorübergehend in der Kulturrubrik der Zeitschrift Rovnost (Gleichheit) in Brno tätig, wo er den Dichter František Halas kennenlernt. mit dem ihn bis zu dessen Tod eine tiefe innere Freundschaft verbindet. Von 1923 bis 1927 arbeitet er in der Kommunistischen Verlagsbuchhandlung in Prag und redigiert nebenher die Zeitschrift Disk (Die Scheibe), das internationale Blatt von Devětsil, sowie die von der Partei herausgegebene satirische Zeitschrift Sršatec (Brausekopf). In dieser Zeit besucht er gemeinsam mit Teige, der ihm die Augen für die moderne Weltkultur öffnet, Italien und Frankreich (1923) und fährt mit einer Gruppe Kulturschaffender in die Sowjetunion (1925).
Im Devětsil setzt sich nach dem Ausscheiden Wolkers der Poetismus durch, eine künstlerische Methode, „die Welt so zu sehen, als wäre sie ein Gedicht“, wie sich der Dichter Nezval ausdrückte, der bedeutendste Verfechter dieser neuen, dem Spielerischen und der Sinnenfreude zugewandten Richtung. Sie ist wie geschaffen für Seifenrt, dessen Gedichte jetzt mehr und mehr zu spontanen Äußerungen einer dionysischen Lebenslust werden. Hat er schon mit dem Gedicht „Alle Schönheiten der Welt“ – abgedruckt in Lauter Liebe – so etwas wie ein poetisches Programm formuliert, so folgt er dieser Richtung noch konsequenter in seiner Sammlung Auf den Wellen der T(élégraphie) S(ans) F(il) (1925), die später den Titel Die Hochzeitsreise erhält. Hier experimentiert er, zweifellos unterstützt von Nezval und bezaubert von den symbolistischen Gedichten Apollinaires, mit verschiedenen lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten, also auch mit der sogenannten typographischen Poesie. Hier wie auch in dem folgenden Band Die Nachtigall singt schlecht (1926), in dem Seifert, nicht zuletzt unter dem Eindruck seiner Reise in die Sowjetunion. wieder gesellschaftliche Aspekte betont, stellen Telephon und Radioapparat, Automobil und Aeroplan die Requisiten seiner Begeisterung für den zivilisatorischen Fortschritt dar. Doch die „Freuden des elektrischen Zeitalters“, das „glühende Obst des Lüsters“, alles das verblaßt, wie an dem nächsten Gedichtband Die Brieftaube (1929) abzulesen ist, angesichts der sozialen und politischen Unrast, der sich der Dichter in zunehmendem Maße ausgesetzt fühlt. Von 1927 bis 1929 arbeitet Seifert noch als Redakteur bei der Zeitschrift Reflektor, verläßt aber, als er während heftiger Diskussionen über den weiteren Kurs der Partei neben anderen Schriftstellern wie St.K. Neumann, Marie Majerová, Ivan Olbracht und Vladislav Vančura aus der KPTsch ausgeschlossen wird, die Parteipresse, um zunächst als Gerichtsreporter und danach als Redakteur verschiedener Prager Tageszeitungen und Zeitschriften tätig zu sein.
In den Gedichten dieser Zeit erscheint Prag als wüstes Schlachtfeld, auf dem zu Jazz- und Tangomusik ein Totentanz zelebriert wird; frühe Erinnerungen an den Weltkrieg vermischen sich oft grotesk mit dem karnevalesken Lebensgefühl der „wilden“ zwanziger Jahre. Doch Seifert läßt den Leser nicht ohne Hoffnung: „Ewig kehren wir heim“, sagt er in seinem Gedicht „Lied“.
Zum Surrealismus, den der Dichter Vitězslav Nezval 1934 durch die Gründung einer Künstlergruppe in der Tschechoslowakei mit Nachdruck betreibt, fühlt Seifert sich nicht hingezogen. „Der Surrealismus lockte mich nicht“, stellt er später in seinen Erinnerungen lakonisch fest. Gewissermaßen im Alleingang, ledig aller Gruppenverpflichtungen, findet er in den dreißiger Jahren zu einer meditativen Natur- und Liebeslyrik, zum gelassenen Rhythmus der Volksdichtung und zur schlichten Melodik der geistlichen Gesänge. Prag wirkt von nun an in seinen Versen nicht mehr als laute Großstadt, sondern als mütterliches, harmonisches Gemeinwesen, das in dieser Zeit der zunehmenden Kriegsfurcht Sicherheit und menschlichen Zusammenhalt verheißt. Die Gedichte der folgenden drei Bände Der Apfel vom Schoß (1933), Die Arme der Venus (1936) und Frühling ade (1937), die heute schon zum Kern, zum Grundbestand von Seiferts Lyrik gerechnet werden, beschwören alles, was dem Dasein einen Sinn gibt, und weisen den Weg zur Geborgenheit des Elternhauses, der Heimat. „Uns umgaben nichts als Lieder“, erinnert sich der Dichter. „Die Worte, die mir der Wind durchs offene Fenster zuwehte, hielt ich mit beiden Händen fest, damit ihr Blütenstaub nicht versehrt werde.“ In diesen melodischen, an Jan Neruda, dem großen tschechischen Dichter des vorigen Jahrhunderts, geschulten Versen, die alles in greifbare Nähe, ins intime Lampenlicht rücken, wirkt das Leben jetzt so reizvoll und verletzlich zugleich, daß sich jeder zu seiner Bewahrung aufgerufen fühlt.
Gedichte wie diese könnten den Anschein erwecken, daß Seifert sich jetzt ganz ins Private zurückzieht, doch in Wirklichkeit ist er ein wacher Beobachter des Zeitgeschehens. Die im Nachbarland anwachsende faschistische Bedrohung läßt ihn nicht kalt, im Gegenteil. Er glossiert die aktuellen Ereignisse in dem Band In die Rotationspresse gesungen (1936) und setzt sich, gleich den bedeutendsten unter seinen tschechoslowakischen Dichterkollegen, in eindringlichen Versen für das um seine Freiheit ringende Spanien ein, den von Franco-Soldaten ermordeten spanischen Dichter García Lorca ehrend: „Im spanischen Gewand / sitzt einer bei mir…“ („Herbstlied“)
Seine Fähigkeit, mit einfühlsamen, schlichten Gedichten das nationale Bewußtsein seiner Landsleute zu stärken, indem er ihren Stolz auf die eigene Geschichte, die eigene Kultur weckt, seine moralische Kraft, mit der er den kollektiven Überlebenswillen, das wortlose Einverständnis zum Widerstand fördert, macht Seifert während des Krieges zu einem der populärsten Dichter seines Landes, wenn nicht gar zum meistgelesenen überhaupt. In „Löscht die Lichter“ (1938) geißelt er den Münchener Verrat und unterstützt jetzt jede Tat, jeden Gedanken, die das Leben und Überleben lohnenswert erscheinen lassen. So entsteht sein Zyklus „Božena Němcovás Fächer“ (1940), ein Preislied auf die Schönheit und die menschliche Standhaftigkeit. In dieser schweren Zeit, da die Existenz der Nation in Gefahr ist, wird die klassische tschechische Dichterin Němcová (1820-1862), Verfasserin des Werkes Die Großmutter, zum Symbol für den Entschluß, das fremde Joch um jeden Preis abzuwerfen.
In Seiferts Dichtung dieser Zeit tritt das Goldene Prag in den Mittelpunkt, die Stadt wird nun zur „Lichtbekleideten“ – so der Titel eines Gedichtzyklus von 1940 –, zur Geliebten und Mutter: „Prag war schöner als Rom.“ Wieviel Variationen Seifert diesem lyrischen Thema in staunenswerter Qualität und Fülle abzugewinnen weiß, belegen u.a. seine Poesiesammlungen Hand und Flamme (1943) und Die Brücke aus Stein (1944). Der Band Der Lehmhelm schließlich, der unmittelbar nach der Befreiung erscheint und in einen Hymnus auf das befreite Prag ausklingt, verdeutlicht noch einmal die sittliche Kraft, die das tschechische Volk den Faschismus ohne Verlust der eigenen Identität überstehen ließ.
Seifert, der im sogenannten Protektorat als Redakteur der Zeitung Národní práce tätig ist, leidet schwer unter dem Krieg und unter der faschistischen deutschen Besetzung. Er verliert gute Freunde, wie den Zeichner Bidlo, der an den Folgen seiner Haft in Theresienstadt stirbt, und – was Seifert besonders hart trifft – den Schriftsteller und Gefährten aus der stürmischen Devětsil-Zeit Vančura, der nach dem Attentat auf Reichsprotektor Heydrich mit vielen anderen, oft wahllos herausgegriffenen Landsleuten auf einem Schießplatz am Prager Stadtrand sein Leben lassen muß. Der Dichter selbst hat sich nie als Kämpfer gefühlt:
Nie im Leben habe ich eine Waffe besitzen wollen. Das Soldatenhandwerk war mir fremd… Auch gehöre ich nicht zu denen, die diese Art Heldentum schätzen. Dennoch habe ich Augenblicke gekannt, in denen ich Landsleute, die rechtzeitig entkommen konnten und eine Waffe in der Hand hielten, aufrichtig beneidete… Sie war Hoffnung und Gewißheit. Sie war ein Fittich der Freiheit in dieser schlimmen Zeit, da uns das verzweifelte Gefühl der Hilflosigkeit übermannte.
Dieses Gefühl war dem Dichter wahrlich nicht fremd: Nur ums Haar entging er dem Tod, als SS-Soldaten ihn und weitere unbewaffnete Männer im Mai 1945 aus der Redaktion im Prager Volkshaus zur Hinrichtung auf den nahen Masaryk-Bahnhof trieben. Diese Demütigung, die er als kollektive Schmach seines ganzen Volkes empfindet, hat Seifert nie verwinden können.
Nach der Befreiung wird Seifert Redakteur der Tageszeitung Práce und der literarischen Monatsschrift Kytice (Blumenstrauß), in der vorwiegend junge Autoren zu Wort kommen. Ab 1949 wirkt er als freischaffender Schriftsteller. In dieser Zeit verfaßt er anrührende Gedichte für Kinder. Immer wieder bemüht er, wie in der Sammlung Ging ein Maler arm in die Welt (1949), die eigene Erinnerung, läßt das Proletarierviertel Žižkov, dem er entstammt, noch einmal aufleben und große Persönlichkeiten der tschechischen Kultur, so die Maler Mikoláš Aleš und Josef Lada oder den Fotografen Josef Sudek, Revue passieren. Doch sein sehnsuchtsvoller Rückblick auf Vergangenes ist nicht vom Bedauern über unwiederbringlich Verlorenes getrübt, sondern erhellt von dem glückhaften Gedanken an die Unvergänglichkeit dessen, was sein Volk zur Weltkultur beigesteuert hat. Immer wieder gerät der Dichter ins Licht der Öffentlichkeit. So ruft sein Zyklus „Das Lied von Viktorka“ (1950) wegen des Vorwurfs, pessimistisch zu sein, eine lebhafte Diskussion wach. Ein halbes Jahrzehnt später erhält er für den Gedichtband Maminka (1954) den Klement-Gottwald-Staatspreis.
Daß Seifert danach für mehrere Jahre verstummt, mag wohl auch auf seine Ablehnung der simplifizierenden und dogmatisierenden Tendenzen im Kulturleben der fünfziger Jahre zurückzuführen sein, doch vor allem ist es ein schweres Herzleiden, das ihn am Arbeiten hindert. „Schon lange habe ich keine Verse mehr geschrieben“, kommentiert er selbst jene Zeit.
Vor Jahren legte ich die Feder beiseite und bekam ein Fieberthermometer in die Hand gedrückt. Wie weit inzwischen die Poesie gediehen ist!… Um so schwerer die Arbeit für mich.
Die wichtigsten Stationen seiner neuen, Mitte der sechziger Jahre einsetzenden Schaffensperiode, die ihn ganz zu den schlichten Formen zurückfinden und „auf das dichterische Gerümpel der Metaphern und Reime“ verzichten läßt, sind die Gedichtbände Das Konzert auf der Insel (1965), Der Halleysche Komet (1967) und Glockenguß (1967) – fast schon eine geschlossene Trilogie, in der Erinnerungen an die Kindheit, an die revolutionäre Arbeiterbewegung der frühen zwanziger Jahre, an die Apokalypse der Okkupation durch die deutschen Faschisten und an die Befreiung durch die Rote Armee wachwerden. 1966 erhält Seifert für sein literarisches Schaffen den Titel Nationalkünstler, eine der höchsten tschechoslowakischen Auszeichnungen.
Nachdem Seifert sich Ende der sechziger Jahre politisch exponiert hatte, indem er im August 1968 den Vorsitz des Schriftstellerverbandes bis zu dessen Auflösung 1970 übernahm, zieht er sich vom öffentlichen Leben zurück. Er gibt Nachauflagen mehrerer Gedichtsammlungen sowie einige Auswahlbände heraus, denen er 1979 den Band Der Regenschirm vom Piccadilly, 1981 Die Pestsäule und 1984 Dichter zu sein, sein vorerst letztes Buch, folgen läßt. Alle drei Werke sind Beispiele eines abgeklärten, monumentalen Spätwerks, dessen sinnliche Lebenslust dem immer häufiger aufkommenden Gedanken an Leiden und Tod die Waage hält. Allzuoft sind jetzt seine Worte von der „Bitterkeit des Wermuts“ durchtränkt. Wie weit entfernt ist Seifert jetzt von jenem souverän gehandhabten „süßen Stil“ des melodischen Verses, von der beschwingten Liedhaftigkeit und der lyrischen Metapher! Konsequent einfach in der Form, jedem Schnörkel abhold, gedanklich auf das Wesentliche konzentriert und nicht ohne Ironie sind die Verse des greisen Dichters, der, von Alter und Krankheit gezeichnet, mit bitterem Witz „die schreckliche Schöne, genannt Leben“ preist.
Seifert hat sich stets als Großstadtmensch empfunden, als Kind der Prager Peripherie, die ihn zeitlebens faszinierte. „Ich stamme aus Žižkov“, erklärte er schon im Jahre 1929 in „Sterne über dem Paradiesgarten“, einer feuilletonistischen, vom Poetismus inspirierten Lebensbetrachtung. Er liebt zutiefst seine Heimat, die neben der sinnlichen Liebe das immer wiederkehrende Motiv seiner Dichtung ist. Die Stadt Prag, in der er bis heute lebt, ist für ihn die Krone der böhmischen Landschaft. Seifert ist Tscheche aus tiefster Seele, ein Dichter, der wie kaum ein anderer die Quellen der nationalen Kultur in sein Werk einfließen ließ und trotzdem ein Weltbürger ist.
Ein erstaunliches Lebenswerk bietet sich dem Betrachter dar: über dreißig Gedichtbände, mehrere Übersetzungen, darunter Die Zwölf von Block, „Der ermordete Dichter“ und „Die Brüste des Tiresias“ von Apollinaire sowie das Hohelied Salomos, dazu zwei Erinnerungsbände, deren letzter, Alle Schönheiten der Welt, 1982 in Prag erschien, und zahlreiche publizistische Schriften. Und schon stellt der Autor einen neuen Gedichtband in Aussicht, der den Titel Vielleicht bringe ich dir Rosen tragen soll.
Am 11.10.1984 erhielt Jaroslav Seifert „für seine Dichtung, die mit frischer Sinnlichkeit und reicher Erfindungsgabe ein befreiendes Bild menschlicher Unbeugsamkeit und Vielfalt gibt“, den Nobelpreis für Literatur.
Karl-Heinz Jähn, Nachwort, März 1985
„Alle Schönheiten der Welt“ in Versen einfangen wollte der tschechische Dichter Jaroslav Seifert, als er, beeinflußt von den Gedichten Guillaume Apollinaires, seine poetische Laufbahn begann – ein ästhetisches Bekenntnis, das ihm den Blick für die Wirklichkeit keineswegs verschloß. Denn sein kritischer Sinn, der in der kargen Umgebung seines Prager Heimatbezirkes Žižkov früh erwachte, machte ihn hellhörig für alles Unechte und Unharmonische im menschlichen Leben. Ein Dichter, so wußte er, muß „mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt, will er den Frost zwingen, uns Schauer über den Rücken zu jagen“.
Von der beschwingten Liedhaltigkeit seiner frühen Gedichte bis zu der schmucklosen, gedankentiefen Alterslyrik, die sich mit der Unerbittlichkeit des Geschicks und der Unausweichlichkeit des Todes auseinandersetzt , führt der wechselvolle Weg von mehr als sechzig Schaffensjahren.
Jaroslav Seifert, der mit vielen Auszeichnungen, darunter mit dem Titel „Nationalkünstler“, geehrt wurde, erhielt am 11.10.1984 den Nobelpreis für Literatur.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1985
– Jahrzehntelang hat sich kein deutscher Verlag um Seiferts Werk gekümmert. Jetzt droht ein Ausverkauf in schlechten Übersetzungen. –
Einem im Westen nicht bekannten Lyriker, dazu noch slawischer Muttersprache, kann – ironisch übertrieben – nichts Schlimmeres passieren, als daß er den Nobelpreis für Literatur bekommt. Seit dem Augenblick, da die ehrwürdige Jury in Stockholm ihre Entscheidung verkündet, ist so ein Lyriker, bisher tief, sicher glücklich in den slawischen Sprachräumen verwurzelt, westlichen Reportern, Kulturjournalisten, Verlegern und Übersetzern ausgeliefert.
Das ist der Fall des ersten tschechischen Nobelpreisträgers Jaroslav Seifert. Als bekannt wurde, der dreiundachtzigjährige Mann habe den Nobelpreis erhalten, riefen mich sechs bundesdeutsche Verleger an, die unbedingt Seiferts Anschrift in Prag wissen wollten und nebenbei auch „ganz schnell einige Titel seiner Bücher, die Ihnen im Moment einfallen“. Dann meldete sich ein Dutzend bundesdeutscher Kulturjournalisten am Telephon. Ihre Wünsche waren im Vergleich mit jenen der Verleger bescheidener. „Herr Filip, wie schreibt man eigentlich den Namen Seifert?“ fragten sie und waren manchmal sogar ein bißchen enttäuscht, als ich antwortete: „Genau wie deutsch.“ Doch ist Jaroslav Seifert ein Prager und ein Tscheche, wie man in Böhmen zu sagen pflegt, „wie aus Holz geschnitten“.
Dann hörte ich den ganzen letzten Donnerstagnachmittag bis spät in die Nacht alles, was in Rundfunk und Fernsehen über Jaroslav Seifert, den großen Unbekannten, zu hören war, und am nächsten Tag las ich fast alles, was über ihn geschrieben und gedruckt wurde. Die Meinungen, die über den großartigsten tschechischen Lyriker hier verbreitet wurden, entsprachen ziemlich genau dem Zustand von Unkenntnis, den bundesdeutsche Kulturjournalisten gelegentlich auch sonst verraten, wenn von osteuropäischer Literatur die Rede ist.
Ich sage es ungern, denn ich habe viele Gründe dafür, diese Tatsache zu verschweigen: Die sachlichste, wenn auch ziemlich unterkühlte und versteckte Information über den Nobelpreisträger aus Prag veröffentlichten am Donnerstag und am Freitag die tschechoslowakischen Massenmedien. Sie erwähnten die Tatsache, daß der erste tschechische Dichter den Nobelpreis erhielt, mit einigen Zeilen, und die offizielle Presseagentur CTK brachte in ihrem ausländischen Dienst einen zensierten Lebenslauf des Dichters. Trotzdem ein Fortschritt, denn von 1970 bis 1980 durfte Jaroslav Seifert in seinem Heimatland nicht publizieren, nicht einmal erwähnt werden. Er zählte zu den verdammten und verbotenen Menschen.
Von den heute in Prag zugelassenen Autoren eilte als erster der Dichter Jan Pilar (Direktor des Prager Verlags) an Seiferts Krankenbett. Er war einer der wenigen Genossen, die den Mut hatten, nach einer zehnjährigen Verbannung aus der tschechischen Literatur wieder Werke von Jaroslav Seifert (immerhin Mit-Unterzeichner der Charta 77) zu publizieren. Die Genossen Schriftsteller vom Präsidium des Verbandes aber blieben bisher Seiferts Krankenbett fern. Vielleicht schämen sie sich, wahrscheinlich sind sie jetzt verunsichert. Meine Vermutung: Klusaks Kulturministerium und vielleicht auch einige Genossen in der Abteilung für Kultur des ZK der KP möchten wohl still und vorsichtig neben Jaroslav Seifert oder Jan Skácel auch einige der anderen seit 1970 verdammten Dichter rehabilitieren. Aber in den führenden Ämtern des Schriftstellerverbandes und der staatlichen Verlage sitzen heute die Gegner einer solchen Rehabilitierung. Sie, die sich seit Jahren gegenseitig mit Titeln wie „Verdienter und Nationaler Künstler der ČSSR“ auszeichnen, fürchten zu Recht jedes neue Buch von Jaroslav Seifert oder Jan Skácel, denn die Unterschiede zwischen den parteiergebenen Autoren und wahren Dichtern werden immer offensichtlicher.
Wie immer, wenn ein Slawe den Nobelpreis für Literatur erhält, versuchte man hierzulande den großen Lyriker in die Ecke zu drängen, wo es von talentierten und auch menschlich hochgeschätzten Dissidenten nur so wimmelt. Jaroslav Seiferts bürgerliche Tapferkeit, seine wahren Heldentaten, wurden genau und zu Recht aufgezählt; aber als es zum heiklen Punkt kam, nämlich zum Nobelpreis, ersparte sich so mancher bundesdeutsche Kulturjournalist nicht den Seufzer: Naja, man wollte endlich einmal auch die Tschechoslowakei berücksichtigen – denn nie zuvor hat ein Bürger jenes Landes den Nobelpreis für Literatur erhalten. Der Nobelpreis für Literatur an Jaroslav Seifert aus Mitleid mit den geplagten Tschechen und der Ausgewogenheit wegen. Ich habe stets das deutsche Wort „Ausgewogenheit“ gemieden, jetzt beginne ich, es zu hassen.
Es stimmt, Jaroslav Seifert ist ein tapferer Mensch, der stets auch mit seinem Werk an der Seite derer stand, die unterdrückt, ausgebeutet und im Getriebe der gesellschaftspolitischen Mechanismen zerrieben wurden, ob sie sich nach links oder nach rechts drehten, war ihm egal. Natürlich war er, der Proletarier aus dem Prager Armenviertel Veitsberg, in den zwanziger Jahren Kommunist und in seinen Gedichten aus jener Zeit von der großen russischen Lyrik eines Alexander Blok, Wladimir Majakowskij, einer Anna Achmatowa, von Ossip Mandelstam, Velimir Chlebnikow – keine schlechte Gesellschaft! – beeinflußt. Als 1929 Stalin der „Zeit der goldenen Stimmen“ (ich zitiere den sowjetischen Literaturprofessor Efim Etkin) ein jähes und tödliches Ende setzte, war Jaroslav Seifert, damals 28 Jahre alt, einer von den sieben kommunistischen Schriftstellern, die gegen die Bolschewisierung der Kommunistischen Partei (KP) und gegen den totalen Machtanspruch der Apparatschiks, über die Literatur zu entscheiden, heftig und öffentlich protestierten. Die Folge war der Ausschluß der sieben aus der KP.
Natürlich war es wieder Jaroslav Seifert, der 1956 auf dem Schriftstellerkongreß Verfolgung und Vertreibung, ja sogar Hinrichtungen von tschechischen Autoren anprangerte, die nach der kommunistischen Machtübernahme von 1948 der KP ungeheuer und gefährlich waren. Seinen leidenschaftlichen Protest gegen Terror in der Kunst und in der Literatur schloß Seifert damals mit der Frage: „Wo seid ihr, Meister der Kultur, gewesen, als unsere tschechische Literatur liquidiert und vernichtet wurde?“ Die Antwort: „Wir haben den Sozialismus aufgebaut, Herr Seifert!“ schrie ein junger, der KP damals ergebener Dichter Jaroslav Seifert nieder. Jemanden als „Herr“, nicht als „Genosse“ anzusprechen, das glich damals einer Verdammung.
Vergessen ist an dem Tag, an dem Seifert den Nobelpreis erhielt, der hysterische Zwischenruf und die Folgen, die der große Dichter nach dem Kongreß zu tragen hatte. Die Zeiten ändern sich, Menschen werden klüger. Jaroslav Seifert blieb stets derselbe. Es war für mich ein wenig peinlich, nach dem 11. Oktober in den bundesdeutschen Medien immer wieder zu lesen und zu hören, Jaroslav Seifert hätte sich stets bewußt mutig und tapfer verhalten. Ich meine, der Nobelpreisträger hat sich nie bewußt politisch oder anders tapfer gegeben, er hat nur seine Ehrlichkeit, für die er in seiner Muttersprache einen so überzeugenden poetischen Ausdruck gefunden hat, ohne Pathos und ohne großes Gerede über sechzig Jahre konsequent durchgehalten. In Prag, einer Stadt, die seit eh und je von zahlreichen ideologischen Pferdekuren heimgesucht wird, ist dies die überzeugendste Art von Mut und Tapferkeit.
Am Donnerstagnachmittag riefen mich auch tschechische Emigranten in der Bundesrepublik an. Einige waren ganz hysterisch: „Unverschämt, einem einstigen Kommunisten den Nobelpreis zu geben!“ Ich habe schnell aufgehängt.
Vor Jaroslav Seifert hätte 1938 Karl Ćapek, der große tschechische Romancier und Theaterautor, den Nobelpreis erhalten sollen; er stand ganz oben auf der Kandidatenliste. Aber die ehrwürdige Jury in Stockholm wollte wohl im Herbst, die Sudetenkrise war vollendet und Hitler marschierte in Karlsbad ein, den „Führer“ mit einer Verleihung des Nobelpreises an einen Autor, der in seinem Buch Krakatit und in seinen Theaterstücken Die Mutter und R.U.R. vor Hitlers Faschismus warnte, nicht reizen. Zwei Monate, nachdem Karel Ćapek den Nobelpreis nicht bekommen hatte, starb er. Jaroslav Seifert war schon fünf Jahre Kandidat für den Nobelpreis; diesmal war das Schicksal, von den Juroren in Stockholm in Sachen Literatur verwaltet, gnädig zu dem dreiundachtzigjährigen Grandseigneur der tschechischen Lyrik.
Auf Verständnis und Gnade wird der Nobelpreisträger aus Prag seitens der bundesdeutschen und westlichen Verleger und seiner Übersetzer wohl nur hoffen dürfen. Das wenige, das ich von Jaroslav Seifert ins Deutsche übersetzt oder hilflos umgedichtet gelesen habe, verstärkt meinen Verdacht und rechtfertigt eigentlich fast auch die bisher so demonstrativ vorgeführte bundesdeutsche Interessenlosigkeit an seinem Werk. Ich muß mich jetzt bei den deutschen Kulturjournalisten und Verlegern, die ich vorher angegriffen habe, entschuldigen: Wenn sie die meistens miserablen Übersetzungen von Jaroslav Seiferts Gedichten gelesen haben, dann verstehe ich, weshalb sie das Interesse an diesem Dichter verloren haben.
Vor mir liegen die tschechischen Originalausgabe von Seiferts Gedicht „Die Pestsäule“, in einem Exilverlag 1977 erschienen, und zwei deutsche Übersetzungen desselben Werkes; die eine von Peter Demetz, die andere von einem Österreicher, der bis heute fest davon überzeugt ist, ein großer Übersetzer aus dem Tschechischen zu sein. (Ich will seinen Namen aus zwei Gründen verschweigen: Ein Blick auf mein Konto warnt mich, mir jetzt eine Anklage wegen übler Nachrede einzuhandeln, und ich habe auch nicht die Absicht, einen begeisterten Amateur von seinem Hobby abzubringen…)
Als Beispiel einige Zeilen aus Seiferts Gedicht „Die Pestsäule“. Peter Demetz übersetzt – meiner Ansicht nach – genau und Seiferts Ausdruck gerecht:
Das Schlimmste hab ich hinter mir,
– so tröst ich mich – ich bin schon alt.
Das Schlimmste hab ich noch vor mir,
ich lebe.
Doch daß ihr’s wißt,
ich war auch glücklich.
Einen Tag, ganze Stunden,
oder nur wenige Minuten.
Das genügt.
Nie hab ich die Liebe verraten,
und wenn zarte Frauenarme
wie Vogelschwingen berühren –
wie trifft uns der Druck ihrer Schenkel.
Ich habe freudig ihre Kraft erprobt,
die zärtlich ist, wenn sie dich umschließen.
Und mögen sie mein Haupt zermalmen –
Ich will es!
Der literarisch begeisterte Amateur aus Österreich sieht Seiferts Bild so:
Das Schlimmste habe ich hinter mir,
sage ich mir, ich bin schon alt.
Das Schlimmste habe ich vor mir,
ich lebe noch.
Aber wenn ihr es unbedingt wissen möchtet,
ich war glücklich.
Manchmal den ganzen Tag, zuweilen ganze
Stunden,
auch nur einige Minuten.
Mein Leben lang war ich treu der Liebe.
Und seien Frauenhände mehr als Flügel,
was sind ihre Beine?
So gern erprobte ich ihre Kraft.
Sie ist sanft, wenn sie zusammendrücken.
Sollen also die Knie zerschmettern
mein Haupt!
Ich sehe jetzt auf Jaroslav Seifert, den Nobelpreisträger, den keiner hier kennt, eine unausweichliche Gefahr zukommen, der er, ein kranker Mann, der kein Deutsch spricht, seitens der bundesdeutschen Verleger und ihren oberflächlichen Übersetzern ausgeliefert sein wird. Man wird jetzt wohl Seifert wahllos, daß die Fetzen seiner wunderschönen Gedichte nur so fliegen werden, übersetzen, denn schließlich wird ihn der Markt eine Zeitlang verdauen wollen. Ich fühle jetzt meine Ohnmacht, meine Sprachlosigkeit, meine Unbeholfenheit: Die Gesetzmäßigkeiten des Buchmarktes, die noch vor einigen Tagen von Jaroslav Seifert nichts wußten und nichts wissen wollten, werden sich jetzt die Mühe geben und keine Anstrengung scheuen, um diesen Dichter, in deutscher Sprache erbarmungslos und übel zugerichtet, schnell zu verkaufen.
Wie jeder Slawe werde ich in Situationen, in denen ich meine Ohnmacht deutlich zu spüren bekomme, pathetisch: Ich bitte, ja ich flehe alle Verleger an, die sich jetzt gierig auf Jaroslav Seifert stürzen werden: Tut dem großartigsten tschechischen Lyriker des zwanzigsten Jahrhunderts nichts Böses an, laßt ihn nicht in die sprachlichen Krallen von unbeholfenen Übersetzern fallen!
Bis zum 11. Oktober 1984 habt ihr doch Seifert nicht gekannt! Der Mann lebte bescheiden und schrieb, tief mit seinem ganzen Wesen und mit seiner Sprache in Prag verwurzelt. Er hatte auch nie die Sehnsucht danach, unbedingt in fremde Sprachen übersetzt – und mißverstanden zu werden. Wenn Sie jetzt Seifert herausgeben wollen, lassen Sie sich bitte Zeit und wählen Sie Ihre Übersetzer mit größter Sorgfalt. Einige schlechte Übersetzungen – und Jaroslav Seiferts sanft nostalgische Poesie voll von bezaubernder Sinnlichkeit ginge für die westliche und für die deutschsprachige Welt für immer verloren. Einen zweiten Nobelpreis bekommt Jaroslav Seifert nicht mehr.
– Vor dreißig Jahren erhielt Jaroslav Seifert den Literaturnobelpreis. –
Der tschechische Dichter Jaroslav Seifert (1901–1986) wurde 1984, also vor dreißig Jahren, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. In einem seiner frühen Gedichte hatte er die Sehnsüchte des Proletariers zum Ausdruck gebracht, darunter auch dessen Verlangen, die von der Not diktierte Askese zu beendigen, um sich, den Bürgern gleich, an kulinarischen Genüssen zu delektieren, womit er die von Heinrich Heine ausgegebene Parole „Zuckererbsen für jedermann“ erneuerte:
Wir wollen eine neue Welt nach unsern Maßen.
Wie schön das Leben ist! Vom Maienlicht erhellt,
schöpft neu die Erde voller stiller Freude Atem.
Wir Proletarier sehnen uns nach unsrer Welt.
(…)
Und jener, der sein Leben lang nur fastet,
will endlich auch von Sorgen unbelastet,
am speisenüberladnen Tische sitzen
und will den schönen Geigenklängen lauschen,
als höre er der Engel Flügel rauschen.
(…)
Auch uns gelüstet’s, Schweinefleisch mit Kraut zu essen
und Kalbsgebratenes, gefüllt mit Paprika.
(…)
Auch uns gelüstet es, Burgunderwein zu trinken…
Seifert berichtet in seinem 600 Seiten umfassenden autobiographischen Werk Alle Schönheiten der Welt, nach dem Druck dieser Verse sei in der Öffentlichkeit ein gewaltiger Sturm losgebrochen. Die Kritik kam nicht bloß von seiten der Bürgerlichen:
Bohumir Šmeral, ein Führer der Kommunistischen Partei und Redakteur des Rudé Právo bestellte mich zu sich in die Redaktion und ließ mich mit freundlicher Entschiedenheit wissen, die Verse seien dumm und schadeten der Sache der Arbeiterklasse.
Andere Mitstreiter urteilten anders.
Die Avantgarde-Strömung, mit der Seiferts Name in der Literaturgeschichte regelmäßig in Verbindung gebracht wird, ist der Poetismus. Über ihn kann man aus der deutschsprachigen Literaturhistoriographie sowie aus Nachschlagewerken nicht eben viel erfahren. Das mag daran liegen, daß es sich um eine Richtung der literarischen Moderne im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts handelt, die ihre Wirkung ausschließlich in einem einzigen Land entfaltete: in der Tschechoslowakischen Republik, einem der kleineren Staaten Europas. Die Poetisten waren ein Zusammenschluß tschechischer Autoren seit 1920, zeitlich eine Parallele zum französischen Surrealismus, mit dem sie manche Motive und künstlerische Methoden verbinden. Auch andere experimentelle Kunstströmungen der Epoche beeinflußten ihn, so der von Deutschland ausstrahlende Expressionismus. Das organisierende Zentrum des Poetismus bildete die Künstlergruppe Devetsil (übersetzt etwa „Neunkraft“, zugleich das tschechische Wort für Pestwurz), die am 5.10.1920 in Prag von marxistisch jungen Künstlern gegründet worden war. In den ersten Jahren stand sie der Proletkult-Bewegung nahe. Die Manifeste des Poetismus stammten von Seiferts Altersgenossen Karel Teige (1900–1951), Julius Fucik (1903–1943, in NS-Haft ermordet), Vitezslav Nezval (1900–1958) und Seifert selbst. Das Ende des Poetismus – nicht zugleich des poetischen Schaffens der Autoren, die erst am Anfang ihrer Entwicklung standen – kam mit dem Übergang Teiges und Nezvals zum Surrealismus und ihrer Gründung einer Prager surrealistischen Gruppe.
In einem Bericht von 1924 über den aktuellen Poetismus verknüpfte der Literaturkritiker Josef Hora (1891–1945) dessen Entstehung mit den umstrittenen Versen Seiferts, um den Übergang dieses Dichters von einem – wie er wertete – allzu einfachen Revolutionsbegriff zum Poetismus zu erhellen:
Jaroslav Seifert hat früher einmal reichlich primitiv in seinen Versen die Hoffnung ausgesprochen, daß auch wir, die Proletarier, uns einmal an vollen Tischen mit Fleisch, Fischen, Käse, Wein und Branntwein niedersetzen werden, und wenn wir das alles zusammenrechnen, sind wir bei dem, was wir beweisen wollten: Diese jüngste Poesie, die nicht proletarisch sein will, was die Tendenz angeht, ist nicht nur Widerhall und gelegentlich auch Nachhall fremder Vorbilder, irgendeiner L’art-pour-l’art-Kunst, sondern auch die primitive Volksauffassung der Revolution, des psychischen Massenklimas, in dem wir leben.
Hora versuchte, den Poetismus auf der Folie der tschechischen Geschichte in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg zu würdigen. Er vermerkte:
Jaroslav Seifert, der ein Büchlein revolutionärer Gedichte geschrieben hat, in denen er sich vom häuslichen Glück mit der Geliebten lossagt, um auf die Barrikaden sterben gehen zu können, fängt auf einmal an, Verse über alle Schönheiten der Welt zu schreiben, Verse, die den Arbeitern von Grund auf unverständlich sind, aber in höchstem Grad seiner künstlerischen Ehrlichkeit und seinem Glauben entsprechen. Er will nicht Revolution machen, er will nicht in Versen denken, er will nicht in der Poesie Elend und Fluch des Kapitals aufdecken, er will die lachende Schönheit, das Spiel lieblicher Worte, keine Poesie vom Lebensmangel, sondern eine Poesie des Überflusses und des Überschäumens, die Poesie der Sonntagnachmittage, der Ausflüge, Cafés, der belebten Boulevards, der Stille, der Nacht, der Ruhe und des Friedens, wie es Karel Teige für den Devetsil formuliert hat.
Hora sprach dem Poetismus seine soziale Funktion zwar nicht ab, erhob jedoch einen gravierenden Vorwurf gegen ihn: daß er im Kern „eine enge Kunst“ sei, „die nur das im Leben Erträumte und die Passivität ausdrückt, aber nicht die Lebensaktivität“.
Seifert betrachtete den Poetismus als erfolgreich, als eine „Generation der Avantgarde, von der manche jungen Leute heute wie von etwas Legendärem sprechen“. Auf vielen Gebieten kam der Erfolg: in der Lyrik, der bildenden Kunst, der Musik, der Architektur. Der Poetismus existierte gerade einmal zwölf Jahre – immerhin zwölf Jahre, könnte es auch heißen. Als er gegründet wurde, war die 1918 entstandene neue Tschechoslowakische Republik zwei Jahre alt. Als er endete, hatte diese eben noch vier bis fünf Jahre vor sich (das Münchner völkerrechtswidrige „Abkommen“: September 1938, Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Rest-Tschechoslowakei: März 1939). Seifert verzeichnet, in der Zeit kurz vor dem 2. Weltkrieg sei den meisten Künstlern seines Landes klargeworden, daß es notwendig sein würde, sich der fatalen Entwicklung entgegenzustemmen, die eine Gefährdung ebenso sämtlicher kulturellen Errungenschaften bedeutete wie überhaupt des Lebens aller Menschen in der Tschechoslowakei. „Mit raschen Schlägen näherte sich dieser neue Krieg. Immer häufiger mußten die Schriftsteller zusammenkommen, um ihren leidenschaftlichen und entschiedenen Widerstand gegen den Faschismus und ihre Treue zur Demokratie, die nach dem Einmarsch der Nazis in Österreich gefährlich bedroht war, zu bekunden.“ Seifert besteht darauf:
Wir wußten genau, es ging nicht um das Regime und die Republik, es ging um alles: Es ging um unsere Sprache, unsere Kultur und all das, was man als Tschechentum bezeichnen kann, und es wäre für Hitler kein Problem, unser Volk auf der Weltkarte auszuradieren.
(Was der NS dann in seinem „Generalplan Ost“ in der Tat vorsah.)
Woher konnte Rettung kommen, woran sollten sich die Künstler in den Zeiten der größten Not halten? Seifert forschte kaum nach auswärtigen Mächten, deren Waffen vielleicht hätten Hilfe bringen können und schließlich (1945) auch brachten. Nach dem Desaster von München 1938 fühlten sich allzu viele Tschechen „verraten und verkauft“, zu Recht. In seiner Autobiographie beschreibt Seifert all das, was ihm unter den Begriff der „Schönheiten“ dieser Welt gehörte: die Stadt Prag und den Stadtteil seiner Herkunft, die Natur, die Frauen und Mädchen – wie er sich denn auch als Feminist bekennt –, den künstlerischen Avantgardismus, die Stätten des Lebensgenusses: die Tanzlokale, die Oper, den Jazz. Unter diesen Schönheiten erschien ihm als die wichtigste, rettende in der Notzeit die erste. Dazu die Menge der schöpferischen Gestalten aus seinem Volke. Er resümierte, wie das tschechische Volk sich in den Gefahren der Zeit vor dem 2. Weltkrieg und in diesem verhielt. In seiner Autobiographie heißt es:
Ein zahlenmäßig so kleines Volk wie das unsere schart sich in der Stunde der Gefahr eng um das Andenken und die Werke seiner großen Menschen. Diese lebendigen Schatten sind nicht loszureißen von den Mauern unserer Hauptstadt, wo die meisten von ihnen gelebt und gewirkt haben. (…) in schlimmen Zeiten führen alle Wege in diese Stadt, und durch die Stadt führt dann der einzige Weg zur Hoffnung. Wie zitterten wir um ihr Schicksal und zugleich um das Schicksal unseres Volkes, als die Sirenen auf den Dächern heulten.
In der Gegenwart ist der Nobelpreis in den unterschiedlichen Sparten auf dem Wege, in Verruf zu geraten, bedingt durch mehrfache Mißgriffe bei seiner Verleihung. Dabei gehört es zu den begrüßenswerten Auswirkungen des Literaturnobelpreises, den Blick des literarischen Publikums in aller Welt verstärkt auch auf Autorinnen und Autoren kleinerer Nationen zu lenken. Mit der Ehrung Jaroslav Seiferts rückte zugleich noch einmal die tschechische Dichtung seiner Epoche ins Licht, der Poetismus samt seinen literarischen Leistungen. Soll die Ehrung nicht als Augenblickseinfall des preisverleihenden Komitees rasch verklingen, sollte das Lesepublikum sie als Aufforderung nehmen, Seiferts Bücher fortan mitzudenken, wenn von der Literatur des 20. Jahrhunderts die Rede ist, wie ebenso die Bücher seiner Weggefährten und diejenigen vieler Autorinnen und Autoren aus anderen kleineren Ländern.
Ein fast ebenso vielseitiger und rätselhafter Dichter wie Nezval ist der 1901 geborene Jaroslav Seifert, der es ebenfalls verstand, bis heute zu überleben. Ja, Seifert war es sogar, der den Startschuß für die große Abrechnung der tschechischen Dichter mit dem Stalinismus gab. Auf dem zweiten tschechischen Schriftstellerkongreß von 1956 zitierte Seifert den Voltaire-Satz:
Ich werde bekämpfen, was sie sagen, aber ich werde bis zu meinem Tode dafür kämpfen, daß sie es sagen können.
Obwohl auch Seifert zu den vom Stalinismus befeindeten Lyrikern gehörte, war er doch stets – auch als er sich dem Poetismus verschrieben hatte – ein bewußt proletarischer Dichter gewesen, was sich besonders eindrucksvoll aus seinen Spanien-Gedichten demonstriert, so aus seinem „Gruß an den von Franco ermordeten Dichter Garcia Lorca“, in dem sich die Strophe findet:
Ueber die Alpengletscher, Pyrenäengipfel
spricht mit dem toten Dichter einer, der noch lebt,
schickt mit der Faust zum Grab hin einen Kuß –:
so küssen sich bisweilen Dichter unsrer Tage.
Seiferts wichtigste Versbände sind Nichts als Liebe (1923), Der Apfel des Sitzenden (1933), der erste surrealistische Band Die Hände der Venus (1936), Löscht die Lichter (1939), Mit Licht bekleidet (1940) und schließlich der bekannteste und beliebteste Gedichtband, mit dem Seifert wieder ganz zur Folklore zurückkehrte und in dem er die Erinnerungen an seine Jugend in der Prager Vorstadt beschwor: Mama (1954).
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
MÜTTER NACH DEM KRIEGE
Für Jaroslav Seifert
Es gibt viele, die sich Gott ergeben.
Es gibt viele, die fluchen.
Es gibt viele, die nicht verzeihen.
Es gibt viele, die sich mit dem Schicksal
behelfen, auch wenn sie, es nicht näher
erkannt… Es gibt viele,
die irrsinnig geworden… Doch gibt es
keine einzige, die wieder
in ihr Leben eingegangen wäre…
Da sie ihren Tauben Körner streute,
sagte dir eine von ihnen hart:
„Ich weiss, der Junge
ist schon lange tot, doch immerfort
beantwortet er meine Briefe nicht…“
Vladimir Holan
Aus dem Tschechischen von Otto F. Babler
JAROSLAV SEIFERTS BEGRÄBNIS
Die letzten Menschen warfen noch
eine Handvoll Lehmgrund in sein Grab
damit ihm die Heimaterde schwerer sei
Die Autos draußen vor der Mauer sprangen an
es schien als fielen ein paar Tropfen
Der Friedhof leerte sich
und es war so still
als hätte jemand den Hund
losgebunden im Hof
Wenn es ganz dunkel geworden ist
wird Viktorka1 vom vereisten Schleusentor herüberkommen
mit einer Seerose im Haar
Jan Skácel
Übersetzung Felix Philipp Ingold
A. W. M.: Jaroslav Seifert zum 70. Geburtstag am 23. September
Die Tat, 25.9.1971
Corinna Anton: Mutiger Lautmaler
Prager Zeitung, 13.1.2016
Jaroslav Seifert – Wie der Rauch von Marihuana sind die Verse der Dichter.
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