Wir laufen meine Schwester und ich
am Fluss entlang der von Figuren
markiert ist. Sie geben eine
Richtung an. Die einer Post-
karte die den Fluss
verlängert. Und auf deren Rückseite
laufen zwei Kinder
an einer Legende entlang.
und einem Paket, in dem eine störende Schwester, ein stummer Vater, eine entfernte Mutter auf die Post gebracht und verschickt werden, um vom Adressaten – einem Leser – Stück für Stück einverleibt zu werden. W, ein gezahnter Buchstabe, ist sein Biß. Er richtet sich gegen alles, was W sonst noch ist oder andeutet: das Weiß, auf das es geschrieben ist, Wien als den Ort einer bestimmten, Psychoanalyse genannten Hör- und Sprechpraxis, das Weh, das mit der Sprache und mit ihrem Fehlen verbunden ist – er richtet sich gegen sie, um sie (vor sich selbst) zu bewahren. W, das Gedicht, ein paranalytischer Parcours, eine Übung in gehemmter Dissoziation, eine stenographische Erzählung von einem, der sich zur Sprache zu bringen versucht und, da er viele ist, nur zu verschiedenen, geteilten und widersprüchlichen Sprachen kommen kann.
Jean Daive, geboren 1941, gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren Frankreichs. Lyriker und Romancier, ist er zugleich einer der ersten französischen Übersetzer der Gedichte von Paul Celan gewesen, der seinerseits Daives ersten Gedichtband „Décimale blanche“ ins Deutsche übertragen hat. Die Übersetzung von W durch Werner Hamacher ist die zweite deutsche Übersetzung eines Gedichtbandes von Jean Daive.
Urs Engeler Editor, Ankündigung, 2006
W ist kein Drama, es ist ein Gedicht. Wenn es etwas zur Schau stellt, dann das Verschwinden dessen, was sichtbar und auf einem Theater vorzeigbar ist; und wenn an ihm etwas dramatisch ist, dann nicht, weil es in Rede und Gegenrede eine Handlung in Szene setzt, sondern mehrstimmig und mehr als mehrstimmig eine Passion, ein Erleidnis und eine Leidenschaft darbietet. Und wiederum nicht eine unter mehreren möglichen, sondern die eine und einzige Passion eines Sprechens, das weder einen Sprechenden noch ein Gesprochenes kennt und sich deshalb als durch keinen Begriff kontrollierbares Sagen abspielt. „Sagen und nicht wissen“ – mit dieser programmatischen Erklärung beginnt das Gedicht, und fährt fort: „Die Dogen / sind gegangen“ – ein Sagen ohne Führer und Wortführer, ohne Dichter, Richter und Täter, überlässt W seinem Vergehen und Kommen. Es sagt nur noch, dass es jetzt schon nicht mehr und jetzt noch nicht da ist. Es ist ein Gedicht, in dem die Zeit zur Sprache kommt und in dem deshalb die Sprache vergeht. Als Gedicht am Rand des Gedichts zeichnet W und alles, was in ihm zur Sprache kommt, sein Verschwinden.
„Zeichnet sein Verschwinden“, so heißt es immer wieder im Text des Gedichts, und noch von diesem Gedicht selbst. Die Zeichnung, von der es spricht und als die es spricht, die Zeichnung einer verschwindenden Zeichnung, hält ihrem eigenen Verschwinden die Waage. Jean Daive, der W 1985 als vierten Text in einer Werkreihe veröffentlicht hat, die unter dem Titel Erzählung des Gleichgewichts steht, hat darin die Erzählung vom Verschwinden der Erzählung, die Zeichnung vom Verschwinden der Zeichnung unter das Emblem der Waage gestellt, nicht weil darin eine solide Balance zwischen entgegengesetzten Motiven oder widerstrebigen Lebenstendenzen erreicht wäre, sondern weil die Sprache sich darin im heiklen Gleichgewicht mit ihrer eigenen Abwesenheit, mit ihren Ausfällen, Lücken und Stummheiten in der Schwebe hält. Wenn alles seiner Abwesenheit die Waage hält; wenn alles sein Maß nur an sich selbst hat, dann ist nichts mehr schwer, nichts mehr leicht: alles in der Schwebe. Dann steht alles, und auch noch die Rede von allem, auf der Grenze zwischen sich und dem, was es nicht ist. Es beugt sich über das, was es nicht ist (il se penche, womit auch gesagt sein kann: il se pense, es denkt sich), beugt sich dorthin, wo es nicht ist, ist selbst diese Beugung, dieser Fall in Anderes und das Auffangen des Falls, es fällt und es fängt sich: Es geht. Und bewegt sich auf keinem Boden, den es nicht schon verlassen hätte, berührt ihn nur, um zu einem anderen überzugehen: Es tanzt. Das Gedicht ist eine Choreographie. Es verteilt seine Lasten und gibt ihnen durch Verteilung die Ausdehnung, die wir Raum und Zeit nennen. Indem es sich dem überlässt, was keine Bedeutung hat, sondern als Körper oder Markierung Bedeutungen nur trägt, überträgt und fortträgt, bewegt es sich nie anders als in Verkörperungen. (Der Körper, der Sprachkörper ist kein Massenpunkt in einem irgendwie schon vorgegebenen Zeitraum, er ist auch nicht selbst räumlich oder zeitlich, sondern erspricht, erräumt und zeitigt – eine immer andere Zeit, einen immer anderen Raum, einen immer wieder anderen Sprachkörper.)
W ist eine helle, eine witzige und obszöne, eine blutige Ballade von ihrem Nicht: nicht nur über dies Nicht und von ihm weg, sondern auch von ihm her und deshalb immer mit ihm, dem Nichtmehr-da und dem Nochnicht-da der Sprache, ihres Körpers und ihrer Musik: ein Sprachtanz mit einem „Kadaver“ und mit einem „Kind“, einem infans, das noch nicht spricht, aber schon greint oder kreischt und kratzt. Man kann seine stockenden oder turbulenten Sprachkörper-Drehungen als danse macabre empfinden, der nur im hochartifiziellen Raum der Theater-, Tanz- und Opernbühnen zu finden ist. Aber dieser Kindertotentanz gibt nur demjenigen schärfere Kontur, den jeder tanzt, der spricht. Man kann seine Beugungen, Zuckungen und Pausen, seine grellen Akzente und Stummheiten als eine pathologisch gewordene Sprach- und Lebenswelt betrachten, aber es wäre redlicher einzusehen, dass es eine andere Welt nicht gibt. Was sich im Gedicht, in diesem W von Jean Daive, nur krasser als anderswo ausspricht, die Verrückung und das Aussetzen der Sprachnormen im Sprechen, das ist die Form – wenn sie noch Form heißen kann – der Körper gewordenen, der unbewussten Ironie, die jedes Wort bestimmt, das wir sagen können. Es die Form, in der die Sprache ihrer Abwesenheit die Balance hält: das Gleichgewicht mit dem, was keine Form, keine Kunst und kein Leben kennt. Res severum verum gaudium.
– Werner Hamacher und Franz Kaltenbeck über die Gedichte von Jean Daive und Reinhard Priessnitz. –
„Vergessen wir nicht den Klassenkampf“, sagte Mao. „Vergessen wir nicht die Psychoanalyse“, sagte Derrida. „Vergessen wir nicht Lacan“, sagen eine Aufsatzsammlung und ein Essay, die gerade erschienen sind. Die eine, von Franz Kaltenbeck, sagt es, indem sie die Gedichte von Reinhard Priessnitz mit Jacques Lacan untersucht. Der andere, von Werner Hamacher, sagt es, indem er in seinen Anmerkungen zu Jean Daives Zyklus „W“ den Namen des Analytikers so vernehmlich verschweigt, dass er in den Ohren gellt.
„Er stellte einen Spiegel / zwischen seinen Vater und seine Kindheit.“ Lacan ist bei Daive mitunter so nah, dass der Leser seinen Atem im Nacken spürt. Antwortet „barre / la source“, „sperrt / die Quelle“, auf „l’arbre / entre nous“, „der Baum / zwischen uns“, wie einst „barre“ auf „arbre“ in Lacans „L’instance de la lettre“? Hamacher lässt, vielleicht weil er selbst eine ganz eigenständige und scharfsinnige sprachphilosophische Auslegung der Psychoanalyse bietet, den Analytiker schweigen, wie dieser bei seinen Sitzungen zu schweigen pflegte.
Kaltenbeck wiederum, der selbst beim alten Lacan eine Lehranalyse durchlaufen hat, glaubt Zuflucht zu dem Hinweis nehmen zu müssen, Priessnitz sei bei einer Psychoanalytikerin ein und aus gegangen. Doch während die „Besserwisser-Wissenschaft“ (Hamacher) Psychoanalyse in dessen „postexperimenteller“ Dichtung keine markanten Spuren hinterlassen hat, ist sie bei Daive auf jeder Seite gegenwärtig. Das „Hawelka“ und das „Trzesniewski“, die versal aus seinem Zyklus ragen, mögen lediglich bekannte Lokale in Wien sein, Dorotheagasse, Fleischmarkt, Wollzeile sind vielleicht nur die Straßen, über die Lisi Misera, eine Wiener Künstlerin, die ebenfalls durch die Gedichte geistert, oft gelaufen ist. Aber mit der Berggasse, in der Sigmund Freud seine Praxis führte mit der „Sphinx“, die in seinem Behandlungszimmer gleich zweimal vertreten war, ist das Universum doch bezeichnet, vor welchem die „rote Couch“, die „Sitzungen“ erst begreiflich und Daives Urszenen kenntlich werden.
Doch ist das „W“ im Französischen nicht umsonst ein „double V“, als dass es nur Wien bedeuten sollte, es verdoppelt, es vervielfacht sich wie Lisi Misera, die in ihrem Verschwinden erst eine, bald eine zweite Kopie ihrer selbst zeugt. Das „W“ ist proteisch wie ein Buchstabe, doch nicht flach wie ein solcher, es spannt einen Raum auf, es steckt in manchen Namen ebenso wie in den Paketen, die in diesen Gedichten unablässig aufgegeben und empfangen werden, und zwar stets um Viertel vor acht, kurz nach dem Aufstehen und noch von schweren Träumen beladen. Es sind diese Träume, die die „Erzählung des Gleichgewichts“ immer wieder aus dem Gleichgewicht bringen.
Schauplatz scheint Wien indessen auch bei Reinhard Priessnitz zu sein, der bis zu seinem Tod die Stadt nur selten verlassen hat. Den Auswärtigen verblüfft Kaltenbecks ortskundige Anmerkung zu der Reihung „hutsalon eisrevue“ aus Priessnitzens „kleiner genesis“: „In Wien verwandelten sich mit der warmen Jahreszeit auf magische Art und Weise manche Pelzwarengeschäfte, in denen man ja auch von Zeit zu Zeit Hüte verkaufte, in Eissalons. Dort kaufte man sich zumindest am Sonntag einen Becher oder eine Tüte Eis. Die geheimnisvolle Metamorphose des Pelzfetischs oder der Hüte, unter denen ja auch die Frauenhaare hervorquellen, zum phallischen Eis könnte die Brücke zwischen ,hutsalon‘ und ,eisrevue‘ geschlagen haben, um den oralen Genuss der Eistüte zu chiffrieren.“
Dass ich über diese Brücke gerne ginge, kann ich nicht behaupten. Aber es gibt auch Brücken, die einer vorsichtshalber nicht betritt, sondern nur ob ihrer architektonischen Kühnheit bewundert. Kaltenbeck sieht seinen Dienst am Dichter vor allem in der Entschlüsselung.
Mit seiner intimen Kenntnis von Leben und Werk Priessnitzens kann er immer wieder hilfreiche Winke geben. Dankbar bin ich ihm etwa für den Nachweis, dass in dem Gedicht „+++“ ein Kindsmord dargestellt wird. Das wäre mir nicht aufgefallen; zu sehr schlug mich die Sprache in Bann, als dass ich angenommen hätte, „sei / ne wei / ch / eeeee / keh / le“ meine eine andere als die weiche Kehle des Dichters selbst.
Auf die Kehle, die Artikulation oder vielmehr ihr Misslingen, hat der Entschlüsseler andererseits zu wenig Acht. Die häufigen Interjektionen, das logorrhöetische Stottern in Floskeln und Stereotypien, das der Vortrag des Dichters noch auffälliger machte, erwähnt er, ohne sie länger zu bedenken. Wie kommt es aber zu dieser sonderbaren Annäherung von Dichtung und Sprachstörung? Das kann wiederum Hamacher an Daive erläutern, dessen immer neu ansetzende („anataktische“), immer wieder abbrechende Syntax an die des Broca-Aphasikers erinnert. „Nicht nur Demosthenes trägt im Mund einen Kiesel, der ihm das Stottern abnehmen soll“, schreibt Hamacher, „Sprache ist immer zunächst eine Sprache für den, der noch keine hat, sie ist Sprache für den, der erst zur Sprache kommt, und also die Sprache nur dieses Kommens zur Sprache.“ Sprache tritt erst bei denen ins Bewusstsein, die nach Worten ringen, bei den Dichtern und den Stotterern, sie gewinnt existenziellen Wert erst als verfehlte, abwesende, ankommende.
Hamacher wählt das Kaltenbecks genau entgegengesetzte Verfahren. Wo dieser eine hinter dem Sprachexperiment verborgene Erzählung freilegt, zeigt jener die sprachlichen Verschiebungen hinter der „Erzählung des Gleichgewichts“: „Erst wo (die Sprache) ihr Nicht als das Andere ihrer selbst in ihr zur Sprache kommen läßt, tritt sie aus ihrem Autismus heraus, wird sich ein Anderes und anders als ein bloß sprachlich verfasstes Anderes und kann, in der Entfernung zu sich, sprechen.“ Diesen Satz hätte ich gern in Kaltenbecks ansonsten sehr sorgfältiger und lohnender Exegese von Priessnitzens „blauem wunsch“ wiedergefunden. „dass das zu schreibende ein anderes wäre, / so wie das andere das zu schreibende ist, / wie es auch beginne, dem gleichenden zu / lauten; laufen, dass das zu schreibende / / dieses sei, anders als dieses“.
Kaltenbeck aber will in „dem zu schreibenden“ ein Gesetz des Über-Ichs erkennen. Warum darf sich in diesem fieberhaften Haschen nach dem, was geschrieben und „gelautet“ werden wird, nicht einfach ein „blauer wunsch“ des Sprechenden, der Sprache artikulieren? Sie läuft auf das Nicht ihrer selbst, das Andere zu, obwohl sie nicht ankommen, dem „Gleichenden nicht lauten“ und dem Lautenden nicht gleichen wird.
Doch obwohl er so viel Sinn für die Umwege von Kommunikation und das Andere der Übertragung beweist, sieht Hamacher Daives Pakete, die abgesandt und empfangen werden und „strahlend vom Traum zurückprallen“, die dröhnen und explodieren, in denen das Fleisch von Schwester und Bruder stecken kann, aber auch die Asche des Vaters, in „den Krieg und den Tod“ gehen. Doch könnte, wie er an anderer Stelle eingesteht, auf jedem einzelnen dieser Pakete die Adresse des Lesers stehen und, wie mit Priessnitz hinzuzufügen wäre, in einem jeden ein blauer Wunsch eingewickelt sein. Es ist nicht die geringste Stärke der brillanten Essays von Hamacher und Kaltenbeck, den Leser gelegentlich zum Widerspruch zu reizen und ihn so ins Werk von Jean Daive und Reinhard Priessnitz zu führen, denen, bei all ihrer offenkundigen Unterschiedlichkeit, doch dies gemeinsam ist, dass sie vom Widerspruch leben.
Jean Daives aus neun Teilen bestehende „Erzählung des Gleichgewichts“, deren vierter Teil bereits vor zwanzig Jahren bei P.O.L in Paris erschienen ist, ist keine „narration“ im herkömmlichen Sinn. Die „narration d’équilibre“ ist überhaupt kein Text im herkömmlichen Sinn. Beim Herumblättern wird dem Leser wohl als erstes das Wort Gedicht einfallen. „W“ besteht aus ca. 60 Absätzen unterschiedlicher Länge, zwischen 3 und 12 Zeilen, die ebenfalls verschieden lang sind.
Abbreviatur könnte ein Schlüssel für „W“ sein, nicht des Verständnisses, sondern zunächst des Bauprinzips. Der abgeschlossene Satz ist nicht die Regel in diesem Text. Aber der Eindruck würde trügen, dass es hier um Satzzertrümmerung im Sinne der Absurden ginge. Man steht, ohne dass man es bewusst merkt, von Anfang an auf der anderen Seite, der eines irgendwie zu erwartenden Aufbaus eines Komplexes, dessen Logik der Leser zu erraten suchen wird. Daive macht es dem Leser leicht und schwer, Namen, Orte, Objekte werden immer wieder genannt, bieten Orientierungshilfen an, aber nur scheinbar, denn es geht hier nicht um einen Fortgang des Texts, und wenn, dann in einem sehr wörtlichen Sinn von Fortgehen. „W“ ist ein anfangsloser Text in dem Sinn, dass keine Ausgangssituation präsentiert wird, um die herum konstruiert würde. Kein Sog zieht den Leser in etwas hinein. Der kompakt scheinende Absatz birgt unterschiedlichstes Material. So als ob die verschiedenen ihn ausmachenden Teile unterschiedliche Sprunggelenke hätten und / oder ihre Artikulationskapazität nur selten zureichend zum Ausdruck bringen könnten. An manchen Stellen steht ein bloßer Teilungsartikel oder ein Personalpronomen. Dann hat man den Eindruck, dass Versuche gemacht werden, Erinnerungen an Träume festzuhalten. Diese Versuche wird der Leser im Lauf des Texts vermutlich an einer konkreten Situation festmachen, derjenige, der da spricht, liegt vielleicht auf einer Couch, und ein anderer hört ihm zu. „W“ ist aber kein Protokoll einer Analyse beim Psychoanalytiker, auch wenn die Wiener Richtung durchaus eingeschlagen ist (der Buchstabe W für Wien, die Berggasse wird öfter genannt, die Straße also, wo Freud seine Patienten empfing, es wird von erster, zweiter usw. Sitzung gesprochen, von „Korrekturen“). Dieses Syndrom ließe sich weiter verfolgen, das familiale Muster ist angelegt, Vater, Mutter, eine Schwester, die einem etwa siebenjährigen Knaben Konkurrenz in Sachen Aufmerksamkeitsvergabe macht. Daive ist aber an keiner Stelle daran interessiert, die brüchige „bottom-up“-Situation des Texts durch Bojen welcher Art auch immer zu entschärfen. Das Motto des Textes, das dramatisch, vielleicht auch nostalgisch zu lesen man eingeladen wird, steht gleich am Anfang von „W“: „Sagen und nicht wissen.“ Steckt in diesem kleinen, lapidaren Satz nicht schon die ganze menschliche Tragödie? Daives Text bestätigt diesen Anfangssatz. Er weiß es nicht besser. Aber was ist denn dieses „es“? Wahrscheinlich der nie voll entwickelbare Bezug auf das, was Sprache im besten Fall nennen kann, ohne dass diese sicher sein kann, in diesem Nennen in einer stabilen Ordnung zu stehen. In diesem Sinn wäre „W“ ein konsequenterer Versuch als zum Beispiel Hofmannsthals so genannter „Chandos-Brief“, von diesem brüchigen Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit als dem nie habhaft zu machenden Referenten nicht nur zu sprechen, sondern sich in dieser von Haus aus schwer angeschlagenen Intentionalität einzurichten. Wie wohnt es sich „wirklich“ im „Haus der Sprache“? Mit jedem weiteren Abschnitt bestätigt sich die Anfangsvermutung, was alles an Annehmlichkeiten des Sagenkönnens Daive hinter sich gelassen hat. Prousts Madelaine gebiert hier eher Schluckauf und Stottern, der „élan vital“ scheint wie abgeschnitten, die Stempelkissen des Gedächtnisses unterschiedlich ausgetrocknet. Die Abbreviatur und Reduktion von „W“, die in dem fünften Teil von „Erzählung des Gleichgewichts“, „America domino“, noch gesteigert wird, ist aber nicht das letzte Wort von Jean Daive, der auch andere Formate „beherrscht“, was er zum Beispiel in der ebenfalls aus verschiedenen, relativ unabhängig voneinander zu lesenden Partien seiner Arbeit „La Condition de l’infini“ vorführt, deren fünfter Teil, „Sous la coupole“, von seiner Freundschaft mit Paul Celan berichtet. Das ist ganz flüssig geschrieben, aber die syntaktischen Seltsamkeiten von „W“ scheinen hier nur auf ein anderes Niveau transponiert, um anzuzeigen, dass die Substanz zweier Dichter nicht die der (schnöden) Welt sind, und schon gar nicht die von Philippe Sollers. „W“ „ist“ kein Abenteuer, aber man kann es dazu machen. Davon zeugt auch Werner Hamachers ganz langer Essay im Anschluss von „W“.
Jean Daives Gedicht Erzählung des Gleichgewichts 4 W
Sagen und nicht wissen.
Hemd. Dieser geschlossene Mund.
Des. Die Dogen
sind gegangen.
Mit diesen vier Zeilen beginnt Jean Daives großes Gedicht, das schon in der ersten Zeile „Sagen und nicht wissen.“, den Sprechmodus für die nun folgenden 116 Strophen vorgibt: Hier wird nicht in dem Sinne gesprochen, daß auch ein Gegenstand jenseits des Sprechens in den Blick rückte, die Sprache des Gedichts benennt sich vielmehr mit dem ersten Wort selbst schon als ein Sagen, das noch kein Wissen kennt, geschweige denn über Wissen verfügt oder ein solches zum Ausdruck bringen könnte.
So unbestimmt dieses Sagen auch anhebt, so fern von Bestimmungen zeitlicher, lokaler oder personaler Art, so überraschend schnell gelingt es ihm, Wortverbindungen aufzurufen – nennen wir sie Verszeilen oder Strophen -, die einen vorstellbaren Raum entstehen lassen, der von diesem Sagen eingerichtet wird.
Steine gäben die
Erinnerung wieder. Blöcke
an den Buchstaben entlang die’s
braucht. Auf einer Couch
rot. Entlang an.
Noch.
Ja, noch. Noch haben wir nicht begriffen, was es mit dem Hemd und den Dogen auf sich hat, da sind wir auch schon in der zweiten Strophe und bei den im Medium des Gedichts gewichtigen Aussagen, „Steine gäben die / Erinnerung wieder. Blöcke / an den Buchstaben entlang die’s / braucht.“ Also werden wir auf Grabsteine oder Denkmäler als Orte der Erinnerung verwiesen, aber auch auf die Schrift, auf in der Schrift und an der Schrift entlang zu entziffernde Blöcke. Von der Schrift verflüssigte Blöcke. Staut Erinnerung, klumpt sie und bildet Blöcke? Blockaden gar, so daß die rote Couch – etwa des Analytikers – ins Spiel kommt?
Noch bewegt sich etwas an etwas anderem, an Buchstaben entlang. An einer Erinnerungsspur, der Ahnung von einem Zusammenhang, an den ersten Fäden eines Gewebes möglicherweise, das mit jeder weiteren Zeile engmaschiger zu werden scheint: mit dem in Versalien geschriebenen Namen TRZESNIEWSKI; der Name des Wiener Spezialgeschäfts für belegte und bestrichene Brotschnitten, mag sich die Vermutung beglaubigen, daß mit der Couch tatsächlich die des Psychoanalytikers gemeint ist: wir sind in Wien, nein, das Sagen hat einen Wienbezug hergestellt, und wir folgen dem Gedicht in seine Zeile für Zeile dichter werdende Textur. Und wir folgen dabei jenem durch die Lektüre in uns selbst entstehenden Text in die Unterstellung, wir hätten es hier mit dem Bericht einer, oder der Erinnerung an eine Analyse zu tun oder mit einer Fallgeschichte, wie Werner Hamacher sie in seinem Essay skizziert:
„Im Alter von sieben, vielleicht siebendreiviertel Jahren muß der Sohn eines Musikerpaares die schmerzhafte Erfahrung machen, daß eine Schwester geboren wird. Der Familienzuwachs wird für ihn zu einem Trauma, weil fast gleichzeitig sein Vater ‚stirbt’. Die Schwester in der Wiege und die Klaviatur des Pianos seines Vaters bilden für ihn seither einen phobischen Komplex und assoziieren sich mit ängstigenden Erfahrungen aus dem jüngst vergangenen Krieg, Bombenabwürfen, fallenden Soldaten, Bränden. Die mörderischen Impulse gegen die Schwester wie gegen den Vater, begleitet von der Angst vor ihrem Verlust, führen zu schweren Identifizierungswirren, Artikulationsblockaden, Schlafstörungen und einer Reihe von obsessiven Phantasien und Passionen …“
Einigermaßen vertraut mit der psychoanalytischen Lektüre eines literarischen Textes, kann der Leser sich die Fallgeschichte aus den Strophen dieser Dichtung ableiten. Das W aus dem Titel wird somit als Wien identifiziert, und die Berggasse, die mehrfach im Gedicht genannt wird, als Freuds Wiener Adresse. Die Dichtung selbst wäre somit ein Bericht, die nachträglich verfaßte Reportage einer stattgefundenen Analyse. Womit wir nicht beim Sagen sondern beim Sprechen über etwas wären und damit diesseits der Möglichkeiten dieser Dichtung, der die skizzierte Fallgeschichte lediglich Subtext ist, narrativer Faden, an dem sich weitere Verklumpungen und Eskalationen anlagern und die Analysesituation ausweiten, sie sprachphilosophisch sprengen und öffnen für poetologische und erkenntnistheoretische Fragen, die zwar geprägt sind von der psychoanalytischen Erfahrung, aber weit darüber hinweg ausgreifen und in einen Dialog treten mit jener Poesie der klassischen Moderne, die sich stets im Augenblick des Sagens ihrer Bedingungen und Voraussetzungen zu vergewissern trachtete. Werner Hamacher nennt Gertrude Stein, Stéphane Mallarmé und Paul Celan, mit dem Jean Daive befreundet war, und zitiert aus Paul Celans Gedicht „Nächtlich geschürzt“ die Zeilen: „Ein Wort – du weißt: / eine Leiche. // Laß uns sie waschen …“ Das Wort, der erste komplexere Korpus des Sprechens und Schreibens, ist, wir wissen es, eine Leiche, eine arbiträr zustande gekommene Folge von Buchstaben und Lauten, die das, was sie zu sein vorgeben, nicht sind. Platzhalter vielmehr für etwas, das mit der Fixierung im Sprechen oder Schreiben aufgehört hat, zu sein. Die Leiche zu waschen, ist eine soziale Tat, geeignet, dem Wort wie dem nahen Toten eine Würde zurückzugeben, die beide ohne diese „Handlung“ nicht mehr bekämen.
Oskar Pastior, der Anfang Oktober dieses Jahres gestorbene deutsche Dichter, hat diese Verbindung von Wort und Leichnam in seinem Gedicht „Willentlich gebrochen“, 1980 im Band „Wechselbalg“ erschienen, schier diskursiv dargestellt:
An dieser Stelle fehlt ein weißer Fleck. „Ich
hasse einen weißen Fleck, der es mir nicht erlaubt,
in die Nähe eines geliebten Toten zu treten.“
Was an dieser Stelle fehlt, ist unübersehbar
– weiß und mittelgroß. „Ich hasse die Allmacht
des Flecks, die es mir verwehrt, ein letztes
Wort mit ihm zu wechseln.“ (Selbst diese Stelle
ist am Rand zum weißen Fleck, der fehlt, fast
weiß. „Ich hasse diesen unübersehbaren Fleck, der
es mir nicht erlaubt, den Toten selbst zu waschen
und zu kleiden.“ Er ist so mittelgroß und so weiß,
weil er an einer so unübersehbaren Stelle fehlt.)
Bei Jean Daive ist das Weiß ein Teil der Klaviatur, des väterlichen Instruments, es ist das Weiß des Schnees, der Muttermilch, der unbefleckten Schwesterliebe und der unbeschriebenen Seite – und es ist das Weiß jenes Flecks, vom dem Oskar Pastior spricht, dessen Gedicht mit der Zeile endet: „Was fehlt, das ist ein mittelgroßer Fleck zum Fehlen dieser Stelle.“
Jean Daives Gedicht unternimmt nicht mehr und nicht weniger als den Versuch, das „Fehlen dieser Stelle“ im Sprechen und Denken präsent zu halten. Und es sagt dabei reflektiert, analytisch, verwegen und obszön das, was sich um dieses Fehlen herum angelagert und an dem Fehlen aufgeladen hat. Man kann es lesen und wiederlesen. Und man kann ihm in die unterschiedlichsten Auffächerungen dessen folgen, was es wie einen „Stoff“ mit sich führt.
Die letzte Strophe des Gedichts schließt die Sprechbewegung, die mit dem Nicht-Wissen der ersten Strophe begonnen hatte, nunmehr mit einem Wissen ab:
Aufwachen bei einem Kopf. Er korrigiert.
Wacht auf in einem Kopf. Er weiß.
Wer durch ihn hindurchsieht. Dessen
Namen er nicht sagen wird.
Auch dieses Wissen scheint kein erkennendes Wissen zu sein, es weiß nur, wer „durch ihn hindurchsieht“, es ist – das Original „à travers“ sagt das noch deutlicher –, ein Hindurchsehen, Durchgang oder Vorübergang. Nichts Identifizierendes, kein Erkennen, das definieren oder einen Namen aussprechen könnte.
Wer es als freien Versroman bezeichnet, irrt genauso wenig wie derjenige, der von hermetischer Dichtung spricht. Schließlich handelt es sich um einen Text, der zu den Ausnahmefällen gegenwärtigen Dichtens gerechnet werden muß; jenen, die nicht schon mit dem ersten Wort wissen, was sie wie auszumalen, wie sie den Leser dort abzuholen gedenken, wo sie ihn träge und rezeptionsschwach vorzufinden meinen. Poesie als eine transparente Erkenntnisweise – auch wenn das Erkannte unterhalb der Schwelle von Aussprechbarkeit verbleibt.
– Jean Daives Textblöcke „W“ vereinen Poesie und Psychoanalyse. –
„Meist haben sich Dichter zu Anfang, oder zu Ende einer Weltperiode gebildet“, schrieb Hölderlin als Widmung auf ein Exemplar des Hyperion: „Mit Gesang steigen die Völker aus dem Himmel ihrer Kindheit ins thätige Leben (…). Mit Gesang kehren sie von da zurück ins ursprüngliche Leben.“Das war um 1800. Der Gesang, den die Dichtung zum Ende unserer Weltperiode anstimmt, scheint selbst vom Endzeitlichen heimgesucht. Beckett, Celan, Artaud oder Blanchot, die Dichter der Endmoderne, sind auch Dichter der Endmoräne der Wörter, die sich zu verlieren drohen im Steinmeer des Schweigens.
Zu ihnen zählt auch der französische Lyriker Jean Daive, dessen frühes Gedicht „Décimale blanche“auf deutsch zuerst durch eine Übersetzung Paul Celans vernehmbar wurde, die 1977 als Faksimileedition erschien. Daive hat seinerseits Celan übersetzt, wie überhaupt die moderne Dichtung ein Sprechen vieler Völker über Grenzen hinweg ist, ein internationaler Gesang oder eine internationale Heimsuchung der Sprache durch die Gefahr des Verstummens. Jean Daive ist ein prominenter Mann im Leben der Poesie, er ist Leiter des Centre international de poésie Marseille, er betreut seit vielen Jahren mehrstündige Literatursendungen bei France Culture. Aber dort leitet er zurzeit auch ein wöchentliches Magazin zur aktuellen Kunst Peinture fraîche.
Das Leben der Worte
Als Dichter gibt er dem Leser Rätsel auf, ein Roman trägt den Titel La Condition d’infini, ein Lyrikband heißt Le Cri-cerveau. Zwischen 1982 und 1990 kam in vier Bänden und neun Teilen der lyrische Zyklus Narration de l’équilibre / Erzählung des Gleichgewichts heraus, dessen vierter Teil mit dem unübertragbaren Untertitel W nun zweisprachig erschienen ist – genau übersetzt und ausgiebig kommentiert von Werner Hamacher. „Gleichgewicht“ wäre vielleicht ein Wort für das Leben der Worte zwischen ihrem Verschwinden und fernen Wiedererscheinen.
Die Erzählung des Gleichgewichts ist weder Narration noch Gedicht, sondern eine Folge von drei bis dreizehnzeiligen Textblöcken, die sich auf dem Papier mit so viel Weiß umgeben, wie es Gedichte so gerne tun. Dem Leser erschließt sich aus dieser Sequenz von knapp 120 syntaktisch und thematisch gebrochenen Textstücken, dass hier ein Sprechen, das niemandem zuzuordnen ist, Ereignisse einer Biographie aufruft. Eine Reihe von wiederkehrenden Begriffen, Zeit- und Raumangaben folgen offenbar der Absicht, die Ereignisse genau zu bezeichnen, aber der Wille zur Präzision scheint von der Not des Sprechens selbst bedrängt.
Schemenhaft zeichnet sich in der Erzählung, die von einer Couch, von Sitzungen spricht und von Szenen, in denen Vater, Mutter, Schwester, aber auch andere zum Teil gespaltene Figuren auftreten, eine Psychoanalyse ab. Wien und seine Gassen (darunter die Berggasse) stehen als Ort für die Erinnerungsfragmente. Das W des Titels lässt sich deutsch als Weh lesen, das darin zur Sprache kommt, aber auch als Spur von Zähnen, die dem Sprechen wehren.
Kunst am Abgrund
Die Erzählung des Gleichgewichts bietet in ihrer protokollartigen lyrischen Folge auch (erfundene, erlebte?) autobiographische Elemente, aber diese Bruchstücke dienen nicht im Sinne der Freudschen Theorie der „Trockenlegung der Zuydersee“, dem Gewinn eines sicheren Terrains, sondern beleben den Prozess eines allmählichen Worterwerbs, den Tod, Verlust und Schweigen säumen. Das Lebensdrama, das sich in diesen lyrischen Blöcken artikuliert, spielt als poetologisches Drama, das zwischen dem von Hölderlin angesprochenen Aufstieg und Niedergang schwankt. Mehrfach ist von einem „Alles Sagen“die Rede, dem Gesetz der Psychoanalyse, aber diesem Allessagen, steht ja ein anderes Gesetz entgegen, das Gesetz der modernen Poesie, das gerade sein Verdikt über das Allessprechen verhängt hat.
Da die moderne Poesie dem Allessprechen des zeitgenössischen Medienbetriebs weichen musste, steht ihr auch nicht mehr der Sinn danach, über die Welt zu reden. Alles Repräsentative ist aus dieser Dichtung verschwunden, sie ist zunehmend reine Schöpfung, reine Tat des Wortes, und hat damit nur noch sich selbst zum Gegenstand.
Diese Kunst am Abgrund, diese Literatur, die sich ins Rätsel zurückgezogen hat, ist auf den Kommentar angewiesen. Der Leser dieser liebevoll gestalteten Übertragung aus dem französischen Equilibre ins deutsche Gleichgewicht greift daher dankbar auf den ausführlichen Kommentar Werner Hamachers zurück, der dem Buch beigegeben wurde. Ihm scheint es gelungen, ein Allessagen aus der Tiefe des Textes vernehmbar zu machen. Man darf sehr gespannt darauf sein, wie sich die Inszenierung dieses labyrinthischen Textes demnächst auf der Bühne des Frankfurter Schauspiels ausnehmen wird.
– Musik-Theater von Wanda Golonka am Schauspiel Frankfurt am Main. –
Musik-Theater von Wanda Golonka; Uraufführung
Text: Jean Daive, Übersetzung von Werner Hamacher
Die Produktion wurde am 23. Mai 2007 im Kleinen Haus uraufgeführt
Dauer 2 h
Regie: Wanda Golonka; Musik: Laura Konjetzky, Galina Ustwolskaja; Darsteller: Martin Butzke,
Laura Konjetzky
Ein Mann begibt sich auf die Reise zu sich selbst. Die Sprache ist sein Instrument. Die Musik seine Obsession. Es ist eine Reise durch Gedanken, Empfindungen, analytische Erkenntnisse, auch eine aphoristische Reise durch das Wien des Sigmund Freud – widersprüchlich, verträumt, erstaunt, morbid, liebenswürdig, skurril, um in seinem Kopf aufzuwachen. Ein poetisches Stück über Sprache, Tod und Sexualität.
Pressestimmen
„… Wanda Golonka bietet ein Tableau, ein hermetisches, zumeist im Halbdunkel zelebriertes Endspiel voller deutungsresistenter Chiffren. Ein Traumtheater. Beklemmend, poetisch, mit Präzision.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. Mai 2007)
„Die Musik tut es der Sprache gleich. Der Text ist in stetem Fluss, mal reißend, mal gemächlich, mal holpernd, mal emporschießend wie ein Katarakt. Bevor man das in der Sprache nachvollzieht, hört man es am Klavier. Am Flügel sitzt Laura Konjetzky. Oder besser: Die meiste Zeit hängt sie vor baumelndem Flügel, auf einer Schaukel an Stahlseilen. Das Schwanken merkt man ihrem Spiel nicht an. Denn sie hat, was man eine Pranke nennt. Mit gezielter Wucht hämmert sie auf die Tastatur ein. Sie intoniert die Partitur eines fremden Lebens. Sie komponiert ihm schwere Akkorde, schwelende Generalpausen, metallisches Zirpen an den Saiten oder auch leichthin plätschernde Läufe; selbst die Pedale spielen mit. Sie agiert mit dem gesamten Körper …“ (Süddeutsche Zeitung, 25. Mai 2007)
„… Die Theaterdenkerin Wanda Golonka, eine Regisseurin, die kontinuierlich am Frankfurter Schauspiel arbeitet und einen nachvollziehbaren, interessanten Weg geht, hat jetzt die vierte Erzählung über das Gleichgewicht des französischen Autors Jean Daive inszeniert, ein eher lyrischer als narrativer Text, in dem verschiedene Leitmotive und changierende Situationen eine Art psychoanalytischer Atmosphäre heraufbeschwören … Der Schauspieler Martin Butzke spricht diesen von Werner Hamacher übersetzten Text entsprechend hochgetuned, wobei er sich durch Phasen der Stille und Konzentration, durch charmante Kontaktaufnahmen mit dem Publikum und durch vielfältige stilisierte Gänge und die Gliedmaßen herausschleudernde Bewegungen unterbricht. Außerdem gibt es ein kleines Spielchen mit roten Luftballons, die zu blutfarbenen Brüsten werden, und weißen Hemden, die zur vielfachen Haut werden. Butzke stellt die Sätze dazwischen überzeugend aus, er unterstreicht sie in ihrem aufgeladenen Zustand, spielt die verschiedenen Ebenen andererseits aber sehr formal und präzise. In der Sprache und den Bewegungen dieses Schauspielers ist die Aufführung tatsächlich in einem schönen Gleichgewicht…“ (Frankfurter Rundschau, 25. Mai 2007)
„… Martin Butzke deklamiert den Text nicht, er spricht ihn einfach, aber grandios … Ein spärliches und doch reiches, höchst flüchtiges Tableau, das sich dort über eine Stunde abspielt, abstrakt und intensiv, bei dem Texte zu Musik gemacht werden und die Musik zum Text …“
(Nachtkritik, 24. Mai 2007)
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