XIII
Ich lieb dich, oh mein Gefängnis, wo ich sterbe ohne
aaaaazu altern.
Das Leben rinnt von mir, vom Tod umarmt.
Verkehrt herum tanzen sie ihren langsamen und
aaaaaschweren Walzer,
Beide entfalten ihre sublime Vernunft, im
aaaaaWiderspruch zueinander.
Ich habe noch zu viel Platz, das ist nicht mein Grab,
Zu groß ist meine Zelle und rein mein Fenster.
In der pränatalen Nacht warte ich auf die Wiedergeburt.
Ich lasse mich lebend durch ein höheres Zeichen
aaaaaVom Tod anerkennen.
Allem anderen außer dem Himmel verschließe ich für immer
Meine Tür, und ich gewähre eine Freundesminute
Nur den sehr jungen Dieben, auf deren Hilferuf an mich
– voll grausamer Hoffnung – in ihrem beendeten Lied
aaaaamein Ohr horcht.
Mein Gesang ist nicht gefälscht. Wenn ich oft zögere,
Dann weil ich tief in meinen Gründen forsche,
Und ich hole immer mit denselben Sonden
Die Stücke eines Schatzes, der lebend begraben
aaaaaSeit Weltenbeginn.
Wenn ihr mich über den Tisch gebeugt sehen könntet,
Das Antlitz mitgenommen von meinem Schreiben,
Wüßtest ihr, daß dieses Abenteuer mich auch anekelt,
Erschreckend ist es, das Gold, versteckt
aaaaaUnter so viel Fäulnis entdecken zu wollen.
Eine fröhliche Morgenröte erglänzt in meinem Auge,
gleich einem Teppich am hellen Morgen auf den Fliesen,
ausgelegt von deiner Schwelle zu den Pforten des Morgens,
um deinen Schritt durch das Labyrinth
aaaaader stickigen Gänge zu dämpfen.
Aus: Trauermarsch
sind die Gedichte Jean Genets versammelt. Alle Texte sind der Frühphase seiner dichterischen Produktion zuzurechnen, entstanden zwischen 1942 und 1948. Eine gewisse Ausnahme stellt lediglich LE FUNAMBULE / DER SEILTÄNZER dar, wobei es sich um eine lyrische Etüde in Prosa handelt, in der Genet am Ende sagt: „Mais je ne voulais pas autre chose: que’écrire à propos de cet art un poème dont la chaleur montera à tes joues.“ Dieser Seiltänzer war sein Geliebter Abdallah, dem das „Gedicht“ gewidmet ist.
Friedrich Fleming, Editorischer Bericht, 2004
– Werkausgabe, Band VII: In Jean Genets Gedichten wird der Gefangene zur erotischen Ikone erhoben. –
Gleichgültig an welcher Stelle man den Band aufschlägt, es beschleicht einen das Gefühl, die Gedichte Jean Genets passten nicht mehr in diese Zeit. Passten sie aber in seine Zeit? Sämtliche sieben Gedichte Genets, darunter ein poème en prose, werden jetzt in überarbeiteter Übertragung vom Merlin Verlag im Rahmen der Genet-Werkausgabe vorgelegt. In dem bekanntesten seiner Gedichte, dem langen Poem „Le Condamné à mort“ – „Der zum Tode Verurteilte“ – heißt es in der für Genet typischen Melange aus Pathos und Demut, aus preziösem und niederem Wortschatz: „Oh mein alter Marino, oh liebliches Cayenne! / Ich sehe die Körper von fünfzehn bis zwanzig Sträflingen / Um einen blonden Knaben gebeugt, der die Stummel raucht, / von den Wärtern in die Blumen und das Moos gespuckt.“
Maurice Pilorge ist jener zum Tode Verurteilte, um den die traumlogischen, lyrischen Bilder einer selbstbewussten Erniedrigung gestrickt werden: ein zwanzigjähriger Dieb und Mörder, von dem Genet behauptet, seine Schönheit habe sogar die Geschworenen verunsichert. „Im Geiste lebe ich mit ihm noch einmal die letzten vierzig Tage, die er, an den Füßen und bisweilen an den Handgelenken angekettet, in der Todeszelle des Gefängnisses von Saint-Brieuc verbrachte.“ Am 17. März 1939 wurde Maurice Pilorge hingerichtet, kommentiert ein trauriger, verliebter Genet, der sich grundsätzlich nicht für die Opfer seiner schönen Ganoven interessiert. Sein Blick gilt auch nicht dem Ganoven als Opfer, sondern dem Ganoven als Mann. Erotisierung war Prinzip.
Zigaretten, Spucke, Erektionen, hübsche kleine Fressen, Qual und Zärtlichkeit, die katholische Liturgie, Engel, Erzengel und Blumen, das Meer und die Himmel, die Kolonien und die Gefängnisse eines gnadenlosen Frankreich: Das sind die wesentlichen Ingredienzen dieser von unten nach oben drängenden Lyrik. Überhöhung und Wut, Verzweiflung und Erregung, Stilisierung und Revolte – all diese Elemente verschmelzen zu einem ästhetisch-psychischen Magma jenseits der Moral. Jenseits, also unabhängig von ihr. Genau das ist es, was heute so schwer zu rekonstruieren ist, heute, wo der Opferkult in jeder Ritze des Sozialen zu kleben scheint.
Genet klagt nicht an, er feiert. Zumal in deutscher Übersetzung klingt der von ihm angeschlagene Ton teilweise schwer süßlich. Bis hin zum Vorwurf des schwulen Pornokitsches könnte man die Aversionen steigern. Könnte man, sollte man aber nicht. Um die Ungeheuerlichkeit seiner Gesänge – Gesänge eher als Gedichte – angemessen zu würdigen, müssen die düstere Entstehungszeit und die schwierigen Entstehungsbedingungen berücksichtigt werden. Es waren harte Zeiten, als der Autodidakt Genet begann, sich mit Hilfe der Literatur irgendwohin zu hieven – wohin, ist die Frage –, und es kostet einige Mühe, sich des enormen Abstands bewusst zu werden.
Kleiner Dieb, ganz groß
1910 in Paris geboren, von seiner Mutter nach sechs Monaten zur Adoption freigegeben (ein immer wiederkehrendes Verzweiflungsmotiv), aufgewachsen im Morvan bei einer braven Handwerkerfamilie, leidenschaftlicher Messdiener, sieben Jahre Schulzeit, Soldat in den Kolonien, schließlich Landstreicher und Dieb, schrieb Genet seine Gedichte zwischen 1942 bis 1948. Es war seine erste Werkphase und eine Zeit, in der Schwarzfahrer und Bücherdiebe noch ins Gefängnis wanderten – kein Wunder also, dass Genet in jenen Jahren insgesamt zehn Mal verurteilt wurde und entsprechend viel Zeit in der Zelle verbrachte, schreibend zum Beispiel.
Das Gedicht „Der zum Tode Verurteilte“ erschien als Privatdruck zuerst 1942, teilt Friedrich Flemming mit, der wie schon in den vorhergehenden Bänden der Genet-Werkausgabe auch diesmal wieder einen vorzüglichen editorischen Bericht beigesteuert hat: „Genet war völlig unbekannt. Dank der Hilfe eines Mithäftlings, der Drucker war und der vor Genet aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist der Text dieses Gedichtes gedruckt worden, auf ‚organisierten‘ Papier von der Besatzungsarmee, wie kolportiert wird.“ Jean Cocteau bewunderte das Gedicht und schrieb unter dem 6. Februar 1943 in sein Tagebuch: Ich glaube, dass es nur noch vier Exemplare gibt. Den Rest hat er (Genet) zerrissen.“
Eine Ausnahme stellt in diesem Band das Prosagedicht „Le Funambule“ („Der Seiltänzer“) dar; es entstand Mitte der fünfziger Jahre, als Genet längst berühmt war und zu seinem jüngeren Geliebten Abdallah in einem sonderbaren Abhängigkeitsverhältnis stand. „Der Seiltänzer“ gehört gewiss nicht zu Genets literarischen Glanzleistungen. Doch wäre die Paradoxie aus abgöttischer Verehrung und drohendem Liebesentzug – und der stilistische Qualitätsabfall im Vergleich mit den Gedichten „Trauermarsch“, „Die Galeere“, „Die Parade“ und „Der Fischer von Le Suquet“ – eine eigene Betrachtung wert.
Erfreulicherweise hat der Verlag sich entschieden, diesen Band der Werkausgabe zweisprachig zu gestalten. Gerhard Edler, der die Langgedichte ins Deutsche brachte, hat sich um eine nahezu interlineare Übertragung bemüht. Das hat den Vorteil der Nüchternheit und den Nachteil einer dem Original fremden Melodik. Genet reimte die meist vierversigen Strophen, die deutsche Übertragung ist reimlos. Das Ergebnis kann bei allem Respekt für die Mühe eigentlich nur unbefriedigt bleiben, und deshalb ist der stets mögliche Vergleich mit dem nebenstehenden Original die richtige Lösung. Eine geniale Zeile wie „Le vent qui roule un coeur sur le pavé des cours“ klingt im Deutschen grob: „Der Wind, der ein Herz über das Pflaster der Höfe rollt“.
Als Genet 1986 starb, hatte er schon seit Ewigkeiten keine Gedichte mehr geschrieben; sein lyrisches Werk blieb schmal. Unbedeutend ist es nicht. Vor allem enthält es bereits in nuce all jene Obsessionen, die durch seine Romane und sein Theater Weltruhm erlangten.
die ebenfalls alle im Merlin Verlag erschienen sind.
Elegie auf einen toten Freund
– Diesem Gedicht verdankt Jean Genet seine Entdeckung. –
„Ich habe dieses Gedicht dem Andenken an meinen Freund Maurice Pilorge gewidmet, dessen strahlender Körper und dessen strahlendes Antlitz meine schlaflosen Nächte heimsuchen“, beginnt Jean Genets kurzes Nachwort, und es endet mit dem Satz: „Er wurde am 17. März 1939 in Saint-Brieuc hingerichtet.“
Mit diesen beiden Sätzen sind Anlaß und Thema des Gedichtes „Der zum Tode Verurteilte“ umrissen: die homosexuelle Freundschaft, in einer Hymne aus Obszönität und Schönheit gepriesen, die Stellung im abseits von Norm und Gesellschaft, die Bedrohung und Verklärung durch die Nähe des Todes. Alle diese Motive, die Genets gesamte literarische Arbeit durchziehen, werden hier vehement und glanzvoll angeschlagen. Diese Elegie auf einen toten Freund gehört nämlich zu den frühesten Gedichten Genets und führte zur literarischen Entdeckung des damaligen Zuchthäuslers durch Jean Cocteau.
Die jetzt erschienene deutsche Ausgabe – komplett übersetzt und eigenwillig illustriert – wirkt heute wie eine Reminiszenz an die Anfänge eines inzwischen literarisch längst (wenn auch mit Unbehagen, immer noch) Etablierten. Genets Talent, das die Welt immer wieder auf einen Punkt – Homosexualität, Verrat, Tod – zusammenzieht, um auf ihm ein dunkles Paradies zu bauen, hat vor nunmehr dreißig Jahren schon das gleiche irritierende, verbohrte, monogame Pathos gehabt, das seitdem immer wieder bestaunt, gedeutet und verflucht worden ist.
M.C.K., Berliner Morgenpost, 21.6.1970
Ein neuer Genet
Im Hamburger Merlin-Verlag ist das seit langem erwartete Poem Jean Genets „Der Fischer von Suquet“ erschienen in der deutschen Übersetzung von Gerhard Edler und mit Illustrationen von Johannes Vennekamp. Ist die schöne bibliophile Ausgabe schon als solche eine kleine Kostbarkeit, so sind die Verse in ihrer reinen Poesie ein wahres Labsal angesichts mancher Versuche, unser Leben und Lieben darzustellen. Wie in „Notre dame des fleurs“ stehen hier harte Realitäten des Sexuellen als Gleichnis des wunderbaren Mysteriums, das sich in der Bindung an den schönen Fischer manifestiert. Wohl keinem ist es bisher gelungen die Vielfalt der Liebesäußerungen so in die Sprache einzubetten und umzusetzen wie Genet. Freilich muß man dazu Augen und Ohr für diese geheimnisvollen und doch so beziehungsreichen Metaphern öffnen können.
Eine Probe:
Was ist das – dich lieben? Ich fürchte mich davor dieses Wasser zwischen meinen armen Fingern rinnen zu sehen. Ich wage nicht, dich hinunterzuschlucken.
Mein Mund modelliert noch eine eitle Säule. Leicht läßt er sich hinab in herbstlichen Nebel.
R.L., du + ich, Nr. 3/31
Eine Entdeckung
Dieses rhapsodische Gedicht Genets, erstmals in Deutsch veröffentlicht, ist seine Paraphrase des „Hohen Lied Salomos“. Es ist Klage und Hymne zugleich, ein Liebesgedicht, das die Erkenntnis der Vergeblichkeit eingeschmolzen hat, ein sehnsüchtiger Worttanz, das Flüchtige einzufangen. Die wenigen Strophen – deren Spannung zwischen Kampf und Erliegen, Verharren und Entfernen die Zeichnungen von Arno Waldschmidt grandios interpretieren – bergen den ganzen Kosmos des Genetschen Weltbildes: Zärtlichkeit in der Brutalität, Verlangen im Vernichten, Bitterkeit im Glück. Genets zeremoniösen Worte (und Gefühle) schleifen auch stets im Dreck, Begattung ist immer (Selbst-)Besudelung; er trägt jene Hautverkleidung, die Horst Janssen ihm als lächerlich-tristes Blumenkind malte; während die Lippen streicheln, hält die Hand das Messer: „Handelt es sich darum, bei Tagesanbruch zu lieben? Die Gesänge schlafen noch in der Kehle des Hirten. Beiseite mit unseren Vorhängen über diesem marmornen Bild; dein Gesicht ist verdutzt und eingestreut mit Schlaf.“
Die Zeit, 15./16.4.1983
Sehnsucht nach der Schönheit
Vor einigen Wochen war an dieser Stelle von einem Band mit zwei theoretischen Texten Jean Genets die Rede („Kein Gedicht von Jean Genet“, Basler Magazin vom 26. März). Der Autor zum Zweck der zwei „Fragmente“: „Die folgenden Zeilen sind nicht einem Gedicht entnommen: sie sollten dazu führen.“ Wie das Produkt der theoretischen Vorarbeit aussehen könnte, kann jetzt überprüft werden. Der Merlin-Verlag (ein deutsches Kleinunternehmen, das dieses Jahr seinen 25. Geburtstag feierte und in seiner Jubiläumsreihe auch Genets Briefe an Reger Blin neu aufgelegt hat) präsentiert in einem schmalen Heft Genets Huldigung in Versform an einen jungen Mann. Ein „Liebesgesang“, ein atheistisches Gebet in Strophen an die Schönheit und auch an die Unerreichbarkeit der Jugend. In wuchtiger, bilderreicher Sprache singt Genet ein beinahe alttestamentlich anmutendes Hohelied an den Jungen aus den Strassen Marseilles oder Paris. Und gleichzeitig wird da vor allem eines heraufbeschworen: Die eigene Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, die eigenen Träume in langen Nächten: „Oh du, mein klarer Halt, der Nächte zerbrechlichster Stern“, heisst es am Schluss – der Leser nicht und vielleicht auch nicht der Autor wissen genau, wo die Grenze zwischen Realität und sehnsuchtsvoller Phantasie sich befindet.
Aber eines macht Genet deutlich, schon allein durch die ans Äusserste poetischer Formen und altertümlicher Formulierungen gehende Diktion: ob Traum, ob Realität – auch die Realität hat mit Träumen nach der Ästhetik im Alltäglichen, im Heruntergekommenen und im Strassendreck kaum etwas zu tun. Vielleicht mutet Genets Gedicht deshalb vor allem wie eine Beschwörung dieses Traums an, eine Beschwörung, in der einfachste Begebenheiten und Gegenstände immer dadurch geadelt werden, das sie mit uralten ästhetischen Motiven in Verbindung gebracht werden.
Die Verbindung auf alle Fälle, die der deutsche Zeichner Waldschmidt in seinen Illustrationen darzustellen sucht – Hände umfassen sich in immer wieder anderen Variationen – ist in Genets Text weit in eine idealistische Ferne gerückt. Es sind nicht einfach die Phantasien eines alternden Mannes, die da zum Ausdruck kommen, es ist auch nicht der sexuelle Traum, der sich darstellt und der erfüllt werden könnte, es ist vielmehr der ewig-alte Traum nach körperlicher Schönheit und Vollkommenheit der ganzen Welt, der den Autor drängt. Das macht den Text gerade wegen seiner Schönheit unendlich melancholisch.
Dominik Hunger, Basler Zeitung
Das Sternengewand der Liebe ist ein Narrrenkleid
Nach den Bänden „Der zum Tode Verurteilte“ und „Der Fischer von Suquet“ nun abermals eine exquisite Genet-Publikation des Merlin Verlags: zweisprachig, illustriert und kostbar gebunden das Gedicht „Die Galeere“ – allein durch die bibliophile Aufmachung und die assoziationsreichen Lithographien von Johannes Vennekamp ein Genuß. Der schmale Text von 1969 faßt im Gestus eines hymnischen Katarakts alle Elemente von Genets Kosmos zusammen: Erlesenheit und Schmutz, Lust an der Qual und Feier des homosexuellen Eros; Erlesenheit im Doppelsinne des Wortes – es wäre eines genauen Vergleichs wert, Parallelen, Abweichungen, Widerspruch und Paraphrasen zu Verlaines „Hombres“ aufzuspüren. Fraglos gibt es da ähnliche Entsprechungen wie im Prosawerk Genets zu dem von Marcel Proust. Das Kunstvolle dieser (übrigens hervorragend übersetzten) Verse liegt in ihrer Struktur des Gegenläufigen; wie sich brechende Wellen einander gleichsam widersprechen, so fängt Genet die Sekunde ab, da er ins zierliche leitet, um sich und den Leser so hart wie brutal zu verletzten. Der Genet-Kenner weiß, daß es stets der Versuch ist, den Tod zu narren, wissend das Sternengewand der Liebe ist ein Narrenkleid:
Ein von der Großen Strapaze eingeschlafenes Kind
kehrte nackt und von dem ausgespienen Sperma befleckt zurück.
Und der herzzerreißendste Seufzer, von dem Segel
gepflückt wie ein Sternenzweig, brach auf und
setzte auf meinen Hals Herz und Lippen eines Jungen,
legte einen Kranz um ihn, vollendete die Verwüstungen.
Meine Mühen, euer Land wiederzufinden, waren nichtig.
Mein Haupt versank stinkend und einsam
tief in dem Meer des Bettes, des Traumes, der Düfte,
bis ich weiß nicht in welche absurde Tiefe.
Fritz J. Raddatz, Die Zeit, 6.3.1992
Dieses Buch ist ein Manifest, ein Langgedicht, eine Parabel,
und das alles auf 48 Seiten, zweifarbig und mit Vignetten von Alexander Camoro.
Wer immer freischaffend sein will, muß dieses Buch gelesen haben. Den Künstler zurechtzuweisen, das ist die Intention von „Der Seiltänzer“. Dabei ist es ganz gleich, um welche Gattung der schönen Künste es sich dreht, deshalb „Der Seiltänzer“, über uns allen, damit man sich den Hals verdreht, um ihn zu sehen, aufzuschauen und zu verstehen. So verdeutlicht der Balanceakt den Prozeß der Entstehung, das Bild und die Rezeption des Kunstwerks. Unter dem Baldachin des Zirkuszeltes bleibt uns dann nichts mehr, als mit verrenktem Halse dasitzen zu bleiben, während Genet uns sagt, daß es nur einen Weg gibt, in der Kunst zu bestehen: Ein Sterben in die Kunst, um damit eins zu sein und ohne alle anderen zu sein. Und zahllos sind die Belege dieser These, über Jahrhunderte kann man sie verfolgen.
Also, ihr jungen Dichter, fröhlichen Maler und Laiendarsteller, schreibt euch den „Seiltänzer“ hinter die Ohren, ehe ihr das Maul aufreißt, denn sonst fallt ihr in einen Abgrund ohne Netz und doppelten Boden.
Fabian Reimann, Krach Kultur, 1996
Der Seiltänzer
ist ein Gedicht von Jean Genet. Dieses Gedicht ist, in einem kleinen Bändchen veröffentlicht, vom Merlin Verlag herausgegeben worden, übersetzt von Manon Grisebach mit Vignetten von Alexander Camaro. Das schmucke Bändchen hat 48 Seiten und kostet 28 DM.
Genet richtet sich voller Bewunderung in seinem Gedicht an den Seiltänzer in einem Zirkus, indem er ihm vorschlägt, was er zu denken und empfinden habe, wie er sich bewegen, wie er sich kleiden und schminken soll. Aus dem Zusammenhang:
„Manche Tierbändiger wenden Gewalt an. Du kannst versuchen, Dein Seil zu bändigen. Aber nimm Dich in acht. Das Eisenteil liebt Blut wie der Panther und wie das Volk, von dem man es saugt. Versuche also eher, es zu zähmen.
Ein Schmied – aber nur ein Schmied mit grauem Schnurbart und breiten Schultern kann sich ein derartiges Zartgefühl erlauben – grüßt jeden Morgen seine Geliebte, einen Amboß: Na, meine Schöne!
Am Abend, nach beendeter Tagesarbeit liebkoste ihn seine männliche Pranke. Der Amboß war dafür empfänglich, und der Schmied kannte seine Gefühle.“ (S. 7)
Er schreibt, dass der Seiltänzer ein Toter ist, wenn er das Seil betritt. Noch eine Kostprobe?
„Wie Du geschminkt sein sollst? Maßlos. Übertrieben. Die Augen bis zu den Haaren verlängert. Deine Fingernägel farbig lackiert. Wer, wenn er normal und bei Verstand ist, geht schon auf einem Seil oder drückt sich in Versen aus? Das ist zu verrückt. Mann oder Frau? Auf alle Fälle Ungeheuer. Eher soll man das Absonderliche eines derartigen Geschehens vertiefen, die Schminke wird es wieder mildern; es ist tatsächlich weit verständlicher, daß ein vergoldetes, bemaltes, kurz ein außergewöhnliches Wesen dort ohne Gleichgewichtsstange einhergeht, während die Flickschuster oder die Notare nie auf die Idee kämen, da hinaufzusteigen.“ (S. 21)
Noch eine Probe? „Und Dein Kostüm? Keusch und aufreizend zugleich. Das im Zirkus üblich enganliegende Trikot aus rotem Jersey, blutig rot. Es lässt genau Deine Muskulatur sehen, es paßt sich Dir eng an wie ein Handschuh, aber vom Kragen – die Öffnung ist rund, ganz genau ausgeschnitten, so als ob der Henker Dich diesen Abend enthaupten sollte – vom Kragen hinunter zu Deiner Hüfte hängt eine Schärpe, der Gürtel, der Kragenrand, die Bänder unterhalb der Knie sind mit Goldpailetten bestickt. Ohne Zweifel damit Du funkelst, aber vor alle, damit Du in den Sägespänen auf dem Wege von Deiner Garderobe zur Manege einige schlecht angenähte Pailetten verlierst, diese anmutigen Zeichen des Zirkus. Untertags, wenn Du zum Kaufmann gehst, fällt eine davon aus Deinem Haar. Vom Schweiß bleibt eine auf Deiner Schulter haften. Die Wölbung, die sich reliefartig auf dem Trikot abzeichnet, dort wo Deine Hoden sind, wird mit einem goldenen Drachen bestickt.“ (S. 25)
Der Tod, schrieb ich, durchzieht das Gedicht: „Wenn Du stürzt, wird man Dir eine ganz gewöhnliche Trauerrede halten. Eine Lache aus Gold und Blut, eine Pfütze, in der untergehenden Sonne … Du mußt nichts anderes erwarten. Der Zirkus besteht aus Gewöhnlichem.“ (S. 27)
Das Gedicht endet dann mit folgender Strophe: „All diese Ratschläge, die ich Dir gebe, sind vergeblich und töricht. Niemand wird sie befolgen können. Aber ich wollte nichts anderes als: Bei Gelegenheit Deiner Kunst ein Gedicht schreiben, dessen Inhalt Dir in die Wangen steigt. Es handelt sich darum, Dich zu entflammen, nicht Dich zu lehren.“ (S. 47)
Konnte ich Euch, lieber LeserInnen der LUST, auf dieses Büchlein neugierig machen? Wenns noch nicht reicht, dann kann das vielleicht der Klappentext des Verlages: „Jean Genet (1910-1986), der wahrscheinlich bedeutendste Dichter Frankreichs, verdankt seinen Ruhm nicht zuletzt der Unbedingtheit seines ethischen Anspruchs. Seine in diesem Prosagedicht an den Seiltänzer gegebenen Ratschläge gelten der Verpflichtung des Künstlers, sich selbst das Äußerste abzuverlangen, um in der Kunst verwirklichen, was in der Realität des Lebens nicht zu erreichen ist.“
JS , Lust, Heft 65
Lyrische Meditationen über den artistischen Gegenstand
Die Herausgabe bibliophiler oder illustrierter Bücher scheint etwas Fragwürdiges geworden zu sein. Taschenbücher und Paperback-Bände in hohen Auflagen wenden sich an einen Abnehmerkreis, dem es auf den Inhalt eines Buches mehr ankommt, als auf die Ausstattung. Zudem wird als die Kunst unserer Zeit die gegenstandslose Kunst empfunden, die die einstweilen gegenstandsgebundene Literatur unserer Epoche kaum sinnvoll wird illustrieren können. Dennoch gibt es Texte, die nicht optimal zur Geltung kommen, wenn sie in der äußeren Aufmachung der Gebrauchsliteratur erscheinen. Zu ihnen gehört „Der Seiltänzer“ von Jean Genet, obwohl man gerade ihn nicht eben einen Dichter nennen kann, der zum Bibliophilen drängt. Es sind lyrische Meditationen über den artistischen Gegenstand – und natürlich weit darüber hinaus – im Genet-Stil, etwa so: „Die Liebe – obschon hoffnungslos, so doch voller Zärtlichkeit – die Du Deinem Seil entgegenbringen mußt, wird ebensoviel Kraft haben wie das Eisenseil, das Dich trägt. Ich kenne die Dinge, ihre Tücke, ihre Grausamkeit und auch ihre Dankbarkeit. Das Seil war tot – oder wenn Du willst, stumm, blind, – Du erscheinst: es wird lebendig, es spricht. Du wirst es lieben mit beinahe fleischlicher Liebe. Jeden Morgen, bevor Du Dein Training beginnst, geh, wenn es aufgespannt ist und zittert, und gib ihm einen Kuß. Bitte es, Dich zu tragen und Dir Eleganz und fiebernde Erregung zu gewähren. Am Ende jeder Vorstellung grüße es und danke ihm. Und nachts, während es zusammengerollt in seinem Kasten ruht, besuche und liebkose es. Und lege sanft Deine Wange an seine.“
Alexander Camarons Einband und Illustrationen mögen dem Thema einigermaßen gerecht werden. Halb gegenständlich, halb abstrakt, überzeugen sie vom Graphischen her wenig. Dagegen ist der im Merlin-Verlag, Hamburg vorliegende Band nobel gesetzt, gedruckt und ausgestattete. Er liegt in 500 numerierten Exemplaren großformatig, auf starkem Bütten vor.
Schwäbische Donauzeitung, Freitag, 29.11.1963
Ohne Kult geht es nicht. Die Liebe zur Literatur ist in der französischen Bourgeoisie schwer von der Frömmelei zu unterscheiden. Heilige und Märtyrer werden verehrt, unter der Bedingung, daß sie stilistisch mit Racine und dem göttlichen Marquis de Sade wetteifern und Plutarch ebenso wie Montaigne zitieren können. Seine Interpreten erklärten, das sei bei Jean Genet zweifellos der Fall.
Alle Kriterien, die man von der Biographie eines idealen outcasts verlangen kann, waren erfüllt: Vater unbekannt, Mutter lieblos, Fürsorgezögling, homosexuell, rebellisches Wunderkind in der Schule. Seine Diebstähle, Fluchten, Unterschlagungen, Gerichtsverfahren, Söldnerzeiten und Fahnenfluchten, Abschiebungen, Gefängnisaufenthalte, Entlassungen und Begnadigungen sind zu zahlreich, als daß man sie aufzählen könnte. Dafür gibt es Spezialisten, die sie minutiös datiert und beschrieben haben.
1942 ließ Genet auf eigene Kosten seine erste Veröffentlichung drucken. Dieses Gedicht, das von einem jungen Mörder handelt, der zum Tod verurteilt und hingerichtet wird, ist Ende 1943 in 30 Exemplaren für Liebhaber erschienen. Ein paar Jahre danach wurde es erneut publiziert. Jean Cocteau fiel zufällig ein Exemplar in die Hände. Er war begeistert und trat fortan als Beschützer Genets auf Jean-Paul Sartre folgte 1946; er verkündete:
Wir haben derzeit in Frankreich ein absolutes literarisches Genie: es heißt Jean Genet, und sein Stil, das ist der von Descartes.
1952 veröffentlichte Sartre einen 600 Seiten langen, etwas zähen Essay, „Saint Genet comédien et martyr“, in dem es heißt:
Von den schwarzen Magiern Villon, Sade, Rimbaud und Lautréamont ist Jean Genet der letzte und vielleicht der größte.
Die Heiligsprechung bezog sich auf Nôtre-Dame-des-Fleurs, einen Roman, den Genet mitten im Krieg im Gefängnis geschrieben hatte, der aber erst 1948 in einer Liebhaberausgabe gedruckt werden konnte. Der Titelheld, die Madonna der Blumen, ist ein 16jähriger Mörder, dessen Lächeln „so voll von Azur ist, daß selbst die Gefangenenwärter das Dasein Gottes und der großen Prinzipien der Geometrie spüren“. Genet sieht in dem Delinquenten einen Heiligen und einen Märtyrer. Dieser männlichen Maria gesellt sich Divine bei, ein Strichjunge, dem die Rolle der Magdalena zugedacht ist.
Eine der bizarrsten Schriften Genets ist der Roman Pompes funèbres, zu deutsch Das Totenfest, in dem er das Massaker der SS an allen Einwohnern von Oradour als poetisches Ereignis feiert, Verrat und Mord preist, ebenso wie die „Schönheit“ von Besatzern und Kollaborateuren. Hitler würdigt er als Homosexuellen. Auch dieses Buch konnte damals natürlich nur als Privatdruck „auf Kosten eines Liebhabers“ erscheinen.
Im Paris der fünfziger Jahre war Genet bereits so berühmt und verrufen, daß er mit Picasso, Giacometti und Prévert in Saint-Germain-des-Prés von gleich zu gleich verkehren konnte. Dazu trugen vor allem seine Theaterstücke bei, Die Zofen, Der Balkon, Die Neger und Die Wände. Erfolge, Preise und eine Neuausgabe seiner Werke trösteten den Dichter nicht.
Er litt unter Depressionen und versuchte ein paarmal, sich das Leben zu nehmen. Cocteau, seinem Beschützer, versicherte er, er habe viele seiner Arbeiten verbrannt. Als einer seiner Liebhaber sich umbrachte, gelobte er, nie wieder etwas zu schreiben, ein Versprechen, das zu halten ihm unmöglich war.
Seine Bücher waren international erfolgreich, und immer mehr Bühnen spielten seine Stücke. Die Wände waren eine Kampfansage an den Krieg, den Frankreich in Algerien führte. Die Aufführung dauerte fünf Stunden und führte zu gewaltsamen Angriffen von rechtsextremen Gruppen. Genet wurde zusehends zum politischen Aktivisten, trat für die Black Panthers ein, lernte Arafat kennen und nahm Partei für die Palästinenser. Darüber kam es zum Bruch mit Sartre, den er fortan mit Verachtung strafte.
1977 solidarisierte er sich mit der Baader-Meinhof-Gruppe, der sogenannten Roten Armee Fraktion, deren Anschläge er lauthals bewunderte. Zu dieser Intervention hatte ihn ein Anwalt namens Croissant bewogen. Daraufhin sah Genet sich in der Pariser intellektuellen Szene isoliert. Dazu kam, daß er von einem Kehlkopfkrebs geschwächt war. Außerdem plagten ihn Zahn- und Prostataprobleme. Trotzdem raffte er sich noch zu einer Reise nach Beirut auf, um seinen Palästinensern beizustehen. Allerdings war es nicht die israelischen Armee, die das Massaker in den Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila verübte, sondern die Miliz der christlichen Phalangisten.
Sein letztes Buch, Ein verliebter Gefangener, vollendete er 1985. Er hauste am Ende in einem kleinen, ziemlich armseligen Hotel. Auf dem Weg ins Bad stürzte er, schlug mit dem Hinterkopf auf und starb.
In der Pléiade, dem Sarkophag der französischen Literatur, wurde 2001 sein Werk einbalsamiert.
Hans Magnus Enzensberger, aus Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert, Suhrkamp Verlag, 2018
Künstlervideoalisierung eines BBC-Interviews von Jean Genet 1985.
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