Google, ein Bewusstseinsmeer.
Das Meer wird kleiner, dehnt es sich aus.
Wie Oz: das klügste Wesen,
das nichts weiß. Information,
ursprünglich nichts als Differenz.
Surf’ eine Welle: Wissen läutert.
Über den Hyänenfisch – ein unter Fischkundlern nicht mehr bekanntes Geschöpf – sagte Älian im zweiten Jahrhundert: Trennst du seine rechte Flosse ab und legst sie unter dein Kopfkissen, wirst du furchterregende Visionen haben. Edgar Cayce, ein halbvergessener amerikanischer Hellseher aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, behauptete, den Inhalt eines Buches, das er unter sein Kissen lege, am nächsten Morgen durch Osmose vollständig absorbiert zu haben. Wie viele Nächte muss Jeffrey Yang mit Hummerscheren, Seesternarmen, Venusmuscheln, Tintenfisch- und Anemonententakeln, mit dem winzigen Kiefer eines Papageifischs und dem eingerollten Schwanz eines Seepferdchens unter dem Kissen geschlafen haben? Und hat er abwechselnd Ausgaben von Rousseau und Plinius, Chuang Tzu und Sor Juana, George Oppen und der Gita, unzählige anthropologische, historische und naturhistorische Bände, zweisprachige Wörterbücher und Zeitungsausschnitte daruntergelegt? Liest man dieses Aquarium von unerwarteten, tiefgründigen und musikalisch komplexen lyrischen Gedichten, so ist man versucht, Osmose für ihre Gelehrsamkeit und Zaubermittel für ihre Phantasie verantwortlich zu machen. Es ist das erste Buch eines jungen Dichters, doch es wirkt wie der Ertrag eines langen Lebens.
Trotz Tausender Küstenmeilen und langer Seefahrtstraditionen spielt das Meeresleben in der britischen und amerikanischen Lyrik so gut wie keine Rolle: Die letzten erinnerungswürdigen Gedichte schrieb D.H. Lawrence in den frühen 1920er Jahren. Matthew Arnold steht am Strand von Dover, watet aber nie ins Wasser, um dessen Paralleluniversen zu entdecken. Walt Whitman und Charles Olson blicken auf ewig über das Meer und gehen gelegentlich sogar angeln, interessieren sich dabei jedoch mehr für die menschliche Mühsal als für das Leben ihrer Beute. Thoreau taucht häufig tief ab unter die Oberfläche seines Selbst, nicht aber unter die des Waldensees. Emily Dickinson verwendet das Wort „Fisch“ nur ein einziges Mal, und zwar metaphorisch; bei Marianne Moore finden sich ein paar aquatische Abstraktionen; Hugh MacDiarmid befasst sich mehr mit der Geologie des Meeres als mit dessen Biologie. Der größte amerikanische Roman ist eine allegorische Enzyklopädie voller Fakten und Legenden über Wale, doch in der amerikanischen Dichtung gibt es wohl nur ein einziges berühmtes Meerestier: den Mondfisch, den Louis Agassiz, ein Naturalist aus dem 19. Jahrhundert, einem seiner Schüler gab. Ezra Pound erzählt die Geschichte – er hatte sie von einem Möchtegern-Guru, Yogi Ramacharaka, auch bekannt als Bill Atkinson aus Baltimore – zu Beginn seines ABC des Lesens, und viele Dichter haben sie aufgegriffen: Agassiz bittet den Schüler, den Fisch zu beschreiben, und der erstellt eine klassische Taxonomie nach Linné. Agassiz schickt ihn zurück zum Fisch, und er schreibt einen vierseitigen wissenschaftlichen Aufsatz. Agassiz ermahnt ihn abermals, zurückzugehen und sich den Fisch genau anzusehen.
Nach drei Wochen befand sich der Fisch im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, aber der Schüler wusste schließlich etwas über ihn.
Innerhalb der Dreiteilung der Dichtung in Bild, Klang und Vorstellung scheinen die im Meer lebenden Geschöpfe allein dem Bild zugehörig. Wir betrachten sie fasziniert, können sie jedoch – von Walen und Delfinen abgesehen – nicht hören. Traditionell haben nur wenige – Meeressäuger, der Hai, die Auster und ihre Perle – überhaupt Vorstellungen entstehen lassen. Es ist eines der Wunder von Yangs Aquarium, dass hier nicht einfach seltsame oder hübsche Wesen vorbeihuschen oder -treiben. Vielmehr präsentiert er eine ganze Geschichte der menschlichen Kultur aus der Unterwasserperspektive:
Eine andere
Geschichte unter der Geschichte, von uns
unwissend geschaffen.
Nur selten vermenschlicht er: Er ist weder Äsop noch einer der Gebrüder Grimm. Doch in der spätmodernistischen Obsession, dem Anderen die Hand zu reichen, hat er die ultimativ Anderen entdeckt – Schwämme, Aale, Abalonen –, die wir selbst sind.
Yang führt – womöglich als einziger der amerikanischen Dichter seiner Generation, die eher zu Ironie, Live Performance oder anekdotischen Lebenserinnerungen neigen – die Dichtung wieder auf ihre epischen und lyrischen Funktionen zurück. Episch: als ein Warenlager voller Information, gefüllt mit all dem, was eine Kultur von sich und der Natur, von den Göttern und anderen Menschen weiß. Lyrisch: als Feier und vernichtende Kritik zugleich, als Bewunderung der Welt und Empörung darüber, wie sie häufig ist.
Überdies dient lyrische Dichtung – jenes kleine Haus, in dem die ferne Geliebte lebt – häufig als genau die Form der Wunscherfüllung, die Freud den Träumen zuschrieb. In Zeiten massiver Zerstörung von Lebensräumen, der Ausrottung ganzer Arten und der Entvölkerung der Ozeane durch Umweltverschmutzung und Industriefischerei ist es kein Wunder, dass sich ein Dichter, und führt er ein noch so urbanes Leben, in eine Art idyllische Elegie flüchtet – nicht auf den Wiesen, sondern unter den Wellen. Das Lyrische war immer ein Versuch, die Zeit anzuhalten; die Großen altern nie; von den Geschöpfen zu singen, die dieses Buch bevölkern, heißt, ihren Rückzug einen Moment lang, wenn auch ohne jede Hoffnung, aufzuhalten, sie an irgendeinem Ort am Leben zu erhalten, und sei es nur in einem Buch. Hinweise finden sich überall in diesem ABC, doch wenn wir bei „Z“ anlangen, wird die ganze Verzweiflung, die sich unter all dem Scharfsinn und der Gelehrtheit verbirgt, offensichtlich: Das perfekte, ewige, sich selbst erhaltende Ökosystem der Korallenriffe im Südpazifik geht als Symbol für das Ende der Erde in die menschliche Geschichte ein.
Thoreau, der am Waldensee Konfuzius liest, notiert sich eine Passage, welche die Welt als „einen Ozean feinster Intelligenzen“ beschreibt. Es ist die Welt von Ein Aquarium und es ist, gewissermaßen, Ein Aquarium selbst.
Eliot Weinberger, Vorwort
und auch die Grenzen der Dichtung sind nicht auszumachen in diesem betörenden Debüt. Vom Meer aus betrachtet Jeffrey Yang die Welt, den Menschen und seine Kulturen, Wissenschaften, Geschichte(n), Poesien, Philosophien und Religionen. Sein Blick reicht weit über die Gegenwart und die Grenzen der USA hinaus: von Hawaii über das alte Ägypten, von den Olmeken über Jules Verne bis Vishnu, Google, Aristoteles, Borges – all dies und viel mehr findet in diesem maritimen Alphabet Platz zwischen Flunder, Seetang, Mondfisch und Hummer. Wann hat man zuletzt Gedichte gelesen, die so geistreich wie humorvoll, so musikalisch wie welthaltig, so originell wie elegant wären?
Berenberg Verlag, Klappentext, 2012
Wo die Grenze zwischen belebter und unbelebter Natur verläuft, steht nur für die Biologie unverbrüchlich fest. Die Poesie hat immer wieder an ihr gerüttelt. Sie hat Wasser und Stein besungen und beseelt – und die vitalistische Linie, die über Blume, Baum und Tier zum Menschen führt, nicht unbedingt als ermutigend empfunden. Schon der Kiesel, schreibt Zbigniew Herbert in einem berühmten Gedicht,
ist als geschöpf
vollkommen
sich selber gleich
auf seine grenzen bedacht
genau erfüllt
vom steinernen sinn
mit einem geruch der an nichts erinnert
nichts verscheucht keinen wunsch erweckt
Wenn Fische der Dichtung unter allen Daseinsformen am fremdesten geblieben sind, dann weil sie in ihrem Fürsichsein einerseits nicht mehr vollkommen und andererseits der psychologischen Einfühlung noch nicht zugänglich sind.
Unter der Vielzahl bekannter Tiergedichte gilt nur ein Bruchteil den Fischen, und keines ist so ikonisch wie Blakes „Tyger“ oder Rilkes „Panther“.
Jeffrey Yang, 1974 in Kalifornien geboren, füllt mit seinem alphabetisch geordneten Unterwasser-Bestiarium Ein Aquarium, das zusammen mit einem Band des Argentiniers Sergio Raimondi eine neue Lyrikreihe des Berenberg Verlags eröffnet, also eine Lücke. In seiner Taxonomie berücksichtigt er auch Stachelhäuter wie den Seestern, Kopffüßler wie den Octopus oder Säuger wie den Delfin:
Delfine waren einmal Menschen,
so die Griechen. Der Flussdelfin –
in China eine Göttin.
Nur ein paar Gene neu sortiert
und schon, laut Forschung
würden wir Delfine. Ein
wahrer Fortschritt wäre das!
Die genetische Nähe verleitet Yang allerdings nicht zu anthropomorphen Beschreibungen. Seine Gedichte sind ganz und gar unpersönlich. Sie beerben Objektivisten wie George Oppen und Dingdichter wie den von Yang mehrfach zitierten Francis Ponge: jeder Text ein aus Lautmaterial, zoologischer Terminologie, philosophischem Gedankengut geborener und schillernd in sich verschlosser Mikrokosmos. Yang, schreibt Eliot Weinberger in seinem Vorwort, führt die US-Dichtung jenseits aller Ironie
auf ihre lyrischen und epischen Funktionen zurück. Episch: als ein Warenlager voller Informationen, gefüllt mit all dem, was eine Kultur von sich und der Natur, von den Göttern und anderen Menschen weiß. Lyrisch: als Feier und vernichtende Kritik zugleich, als Bewunderung der Welt und Empörung darüber, wie sie häufig ist.
Yangs Bewusstseinsmeer wird durchkreuzt vom hinduistischen Vishnu und daoistischen Zhuangzi, aber auch von völlig unerwarteten Bewohnern wie Google, Intelligent Design oder den U.S. – letztere
ein kleiner Fisch
mit falschem Kopf, oder ein großer Fisch
mit falschen Schuppen; oder ein Traum
vom perfekten Fisch,
der zum Alptraum wird
– Surf’ eine Welle: Der Berenberg-Verlag eröffnet seine Lyrikreihe mit Jeffrey Yang und Sergio Raimondi. –
Für den australischen Dichter Les Murray ist das Schreiben ein Zustand der Trance. Eine andere Art der Wahrnehmung, ganzheitlicher, euphorischer, vergleichbar dem Traum. So geht es dem Dichter wie jener Qualle, die Murray einmal besingt. In der gleitenden Welt des Wassers ist sie in ihrem Element, durchsichtig, frei und stets in Bewegung. „Globe globe globe“ macht sie im Englischen und bringt so nicht nur ihre Ähnlichkeit mit einem Globus in Erinnerung, sondern lässt auch gleich das Gluckergeräusch von Wasser anklingen. Aber sobald sie an Land gespült wird, scheint ihre Zeit vorbei zu sein. Sie verliert an Beweglichkeit und sieht irgendwann aus wie „umgekehrte weiche Glasschalen / über ulkigen Euter- und Zitzenportionen“.
Bei dem Amerikaner Jeffrey Yang indes gleicht die Qualle einem pulsierenden Schirm. Er „treibt und treibt / im Rhythmus gegnerischer Kräfte“. Doch obwohl Yang in seinen Versen unverkennbar mit Wissen spielt, ja sogar auf Erkenntnis abzielt, ist auch ihm der Geist des Gedichts etwas Traumartiges, jener strömenden Bewegung ähnlich, die Paul Valéry einmal als „Schlafwandler zwischen den dunklen imaginären Wanden und unterseeischen Theatern des Aquariums“ beschrieben hat. Zu einem solchen Aquarium hat Jeffrey Yang die Gedichte seines ersten Bandes formiert. Ein Sammelsurium von Wasserwesen, das nicht nur die Qualle, den Delfin oder den Tintenfisch kennt, sondern auch unbekannte Tiere in die Sprache holt, den Glassalmler etwa oder den Hawaiianischen Drückerfisch.
Doch was heißt schon „in die Sprache holen“? Yang setzt die Bewohner seines Aquariums in Bewegung, ja, er erweckt sie mit Bildern und Lautverwandlungen beinahe zum Leben. Oft hebt er mit einer kurzen Beschreibung der äußeren Erscheinung an, um schnell einzutauchen in eine Drift von Vergleichen aus unterschiedlichen Wissensspeichern, die Beatrice Faßbender in ein gut lesbares Deutsch verwandelt hat. Über die Seepocke heißt es da etwa, sie „siedelt auf ewig / kopfüber in ihrem kleinen Vulkan“. Anemonen sind für Yang Krieger, weil sie „truppenweise“ Felsen und Riffe kolonisieren. Aus ihrer Perspektive wird die Conditio humana ironisch gespiegelt:
Die Geschichte
der Welt wird erzählt aus der Sicht
des Siedlers, der seinen Finger zum Vergnügen
in den Mund einer Anemone
steckt, bis sie verhungert.
Es ist ein alter Kunstgriff, den der 1974 geborene Dichter mit sichtlichem Vergnügen von antiken Autoren übernommen hat. Nicht von ungefähr zitiert er immer wieder Herodot oder Aristoteles.
Das Vergnügen ist nicht nur auf Seiten des Dichters. Jeffrey Yangs Aquarium ist einer von zwei Bänden, mit denen der kleine Berliner Berenberg-Verlag eine neue Lyrikreihe eröffnet. Wer in Yangs Bändchen und in dem Kommentierten Wörterbuch des Argentiniers Sergio Raimondi blättert, der mag sich an den Unfall der „MSC Napoli“ erinnert fühlen. Der Superfrachter havarierte Anfang 2007 vor der Küste Südenglands. Dutzende von Containern wurden damals an den umliegenden Stränden angeschwemmt. Die Sand- und Kiesbänke glichen einer Schaumeile von Strandgut: Schuhe, Kameras, Kosmetikartikel, ja sogar Motorräder lagen im Sand. Endlich einmal wurde sichtbar, was in den standardisierten Kisten transportiert wird. Und endlich einmal waren Container und Frachtschiff nicht mehr Sinnbilder für den weltweiten Handel, als hätte sie ein Dämon ihrer Funktion enthoben und in einem neuen Licht ausgestellt.
Es könnte aber auch ein Dichter gewesen sein. (…)
Das Debüt des 1974 geborenen Amerikaners ist ein lyrisches Unterwasser-Abenteuer des 21. Jahrhunderts. Man kann mit Jeffrey Yang durch den Seetang-Wald schwimmen, im Gezeitentümpel fischen und im Bewusstseinsmeer Google baden. Anders als der legendäre „SeaGarden“, in dem sich Hilda Doolittle vor fast 100 Jahren auf die Suche nach Unterwasserspuren einer zerfetzten Seele begab, entwirft Yang ein universelles poetisches Aquarium, das von tatsächlich in Weltmeeren existierenden Arten und überprüfbaren Fakten ausgeht. Je mehr Yang sich Krabbe und Qualle, Delfin, Hai oder Seepferdchen nähert, umso mehr verknüpft er ihre Erscheinungen mit anthropologischen, natur- und kulturhistorischen Gedankenblitzen entlang einer alphabetischen Kette von A wie Abalone bis Z wie Zi-Fisch. Die Absicht des Autors ähnelt der der Dänin Inger Christensen in ihrem berühmten Alphabet: das Verschwinden der Geschöpfe aufzuhalten – und sei es nur für den Moment des Benennens im Buch.
Yang verbindet westliche und fernöstliche Welten, führt Naturwissenschaften, Mythen, Religionen, Philosophien und Sprachen aus Vergangenheit und Gegenwart ins Feld. Das Gedicht als Ort der Verknüpfung. Hier werden Bilder aufgerufen, Episoden erzählt, Pointen und Sinnsprüche in Wellen durch den Text gejagt – und dennoch bleibt alles ein wunderbares Rätsel. „In unsichtbaren Tiefen / hebt fügsames Leben an / wie leise / celophonische Musik“, heißt es in „Nautilus“. Die Feier mündet in Kritik des Autors am zerstörerischen Umgang mit allen Naturwesen, einschließlich der eigenen Spezies. Yang fordert Wahrheit ein und erinnert an Aufrichtigkeit, Geduld und Respekt.
Nicht alle Tage finden die Dichter einen neuen Stoff für die Poesie. Der achtunddreißigjährige aus Kalifornien stammende Lektor und Lyriker Jeffrey Yang kann dieses Verdienst für sich in Anspruch nehmen: Sein in Amerika preisgekröntes Lyrikdebut, dessen zweisprachige Version Ein Aquarium bei Berenberg erschien, ist ein Abecedarium der Meereslebewesen von Abalone bis Zooxanthelle. Der Kritiker Eliot Weinberger streicht in seinem Vorwort den thematischen Zugewinn imponierend heraus. Von Walt Whitman bis Charles Olson hatten die Dichter zwar aufs Meer geblickt, sich aber allenfalls für die Mühsal des Fangs als für das Leben der Beute interessiert. Und die wunderbare Emily Dickinson – so Weinberger – verwendete das Wort „Fisch“ nur einmal – und das metaphorisch.
Massenhaft dagegen und eher unmetaphorisch läßt Yang sein lyrisches Aquarium von Fischen und anderen Meerestieren wimmeln – vom Clownfisch bis zum Tintenfisch, von Krabbe und Qualle bis zu Seestern und Schwamm. Alle diese Lebewesen werden in ihrer jeweiligen Besonderheit erfaßt, zugleich aber in den Kontext weiträumiger geistiger Bezüge gestellt. Denn Yang ist ein Poeta doctus, nicht nur fit in Meereskunde, sondern auch in Historie und Philosophie, Kulturkritik und Ökologie.
Gleich der erste Text „Abalone“ meint nicht bloß eine Meeresschneckenart, er spielt auf Aristoteles und Brueghel an sowie auf einen sehr fernen Kaiser Ingyo. Auch sonst fährt das Weberschiffchen der Bezüge durch Zeiten und Kulturen, von Herodot über Sor Juana zum Meister Zhuang und schafft eine Fülle von Referenzen, die an den Anspielungsreichtum Ezra Pounds erinnert.
Auch etwas anderes hat Yang mit Pound gemeinsam: nämlich eine kulturkritische Attitüde, die eine Kritik an den USA einschließt. Nur geht es bei ihm nicht gegen Wucher und USURA, sondern gegen die Vernutzung und Verschmutzung der Meere, vor allem gegen die ökologischen Folgen der US-amerikanischen Atomexplosionen im Pazifik.
Yang stellt der üblichen historischen, der gewissermaßen oberirdischen Historie eine Kulturgeschichte aus der Unterwasserperspektive entgegen:
Eine andere
Geschichte unter der Geschichte, von uns
unwissend geschaffen.
Zu ihren negativen Triebkräften gehört der „Traum / vom perfekten Fisch, der zum Alptraum wird“ – es ist nichts anderes als der pervertierte American dream. So endet Ein Aquarium mit einem langen Text, der vom Gedicht nach und nach in einen kritischen Traktat übergeht. Unter dem Buchstaben Z erscheint der Begriff „Zooxanthellae“. Dies ist eine Alge, die symbiotisch mit der Koralle lebt, sie mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt und daher für das Leben der Korallenriffe wichtig ist. Diese Symbiose ist gegenwärtig bedroht. Nach 67 Atomtests sieht der Dichter die USA als den „Fisch, der alle Meere verschlingt“. Jeffrey Yang, der uns scheinbar bloß ein buntes Meeresaquarium vorführte, erweist sich als ein engagierter Poet. Seine Botschaft lugt gleich zu Anfang aus dem kleinen Gedicht „Barnacle“ (Seepocke) hervor:
Never be ashamed of evolution.
Beatrice Faßbender übersetzt etwas blass:
Nur nicht für die Evolution schämen.
Man könnte entschiedener sagen:
Schäm dich nie für die Evolution!
Harald Hartung, als: Fisch der Träume, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.1.2013
– Der Berliner Berenberg Verlag startet eine neue Lyrikreihe. Den Auftakt bilden zwei Bände mit Gedichten des US-Amerikaners Jeffrey Yang und des Argentiniers Sergio Raimondi. Beide beackern das weite Feld der Natur. –
Beim Berenberg Verlag in Berlin gibt es die Maxime, ein Buch soll um die hundert Seiten haben. Für Titel mit essayistischer Prosa ist das ein praktisches Maß, und solche Bücher prägen bisher das Gesicht des unabhängigen Kleinverlags. Berenberg hat ein klares Konzept und navigiert beweglich in der großen Welt der internationalen Literatur, und jetzt wendet er das auch auf eine kleine Lyrikreihe an. Die ersten beiden Titel liegen vor. Ein Aquarium, das Debüt des US-Amerikaners Jeffrey Yang sowie Für ein kommentiertes Wörterbuch des Argentiniers Sergio Raimondi. Und es gibt schon weitere Pläne:
Ja, habe ich. Ich habe schon Projekte, es gibt einen weiteren US-Amerikaner, den ich eines Tages machen will. Ich werde demnächst einen Vertrag über einen Lyrikband des Chilenen Nicaro Para unterschreiben und dann schauen wir weiter. Es wird wie auch der Verlag ganz vorsichtig sich weiterentwickeln.
Entsprechend der bewährten Maxime haben die ersten beiden Bände um die hundert Seiten. Sie sollen im Lauf der Zeit um weitere moderne Titel ergänzt werden, in lockerer Folge und so, wie sie dem Verleger oder seinen Übersetzern ins Auge fallen. Eine feste Orientierung bleibt auch für die Lyrik die ausgesprochen internationale Ausrichtung des Verlagsprogramms:
Deswegen gefällt es mir ganz besonders, dass wir anfangen mit einem US-Amerikaner und einem Argentinier und dass es beides zweisprachige Ausgaben sind. Das ist auch immer unser Wunsch gewesen, das ist Beatrices Wunsch gewesen und auch mein Wunsch gewesen. Dass man auf jeden Fall das Glück haben kann, dass man – selbst wenn man die Sprache nicht spricht – sich die geschriebene Musik ansehen kann.
Beatrice, das ist Beatrice Faßbender, die das Buch von Jeffrey Yang in New York entdeckt und es auch übersetzt hat. Mit ihren Fragen hat sich der Dichter intensiv auseinandergesetzt, und er gibt zu, leichte Kost ist dieses Debüt nicht:
Beatrice Faßbender hat das Buch übersetzt. Ich war überrascht, als sie angefangen hat und mir dann verschiedene Fragen geschickt hat. Aber sie hat für alles Lösungen gefunden. Und dieses erste Buch ist schwierig zu übersetzen, da klingen viele verschiedene Sprachen durch, manche der Stücke sind sehr knapp, manche sind sehr kompliziert konstruiert.
Das Buch heißt Ein Aquarium, und es geht tatsächlich um Fische und andere Tiere im Wasser. Sie werden zwar alphabetisch geordnet, aber damit ist die naturwissenschaftliche Anmutung fast schon erschöpft. Wesentlicher ist für diesen Dichter die Unerschöpflichkeit der Beziehungen zwischen Tier und Mensch, und zwar Menschen vieler Kulturen. Der Quastenflosser trifft hier auf Aborigines:
Seit jeher gingen Aborigines auf
Quastenflosser-Jagd. Wissenschaftler
taten’s ihnen gleich und machten
den Quastenflosser weltbekannt,
wenn nicht -berühmt. Das ist die Natur
des Ruhms: Auch tief in einer Meeres-
höhle kannst du ihm nicht entkommen. Nach ihm
zu streben macht’s nur noch schlimmer:
Dein Name oder dein Leben: / Was ist teurer?
Dein Name ist dein Leben, nind owiawina.
Ruhm ist hohl, wie das Rückgrat des Quastenflossers.
Nind owiawina – der Name der Ur-Australier für dieses Tier? Da fand sich die Übersetzerin nicht zum ersten Mal angeregt, genauer zu recherchieren. Hin und wieder eine Recherche kann auch dem Leser dieser Lyrik empfohlen werden, zumal es keinerlei Anmerkungen in dem Band gibt. Formal erscheinen die Gedichte zwar geschlossen, aber in reiner Innerlichkeit erschöpft sich diese Lyrik nicht. Im Gegenteil, subtile Wortgeschöpfe mit viel Referenz in der Außenwelt sind ein Hauptspaß in Yangs Aquarium. Der Dichter angelt im Chinesischen und Sanskrit, im Lateinischen und Griechischen und in ein paar europäischen sowie insularen Sprachen. Und so trägt Jeffrey Yang vor:
The Chinese call orcas „tiger
whales“; Pliny likened them to
warships; a Yuukara song of the Saru
Ainu goes, „Killer whale, god of the ocean,
please bring more than one and a half
whales every year. Then, I’ll
be pleased to give my sweet daughter as a bride.“
High on the Nazca Desert is the orca’s image.
Es geht weiter in der deutschen Übersetzung mit Beatrice Faßbender:
Chinesen nennen Orcas „Tiger-
wale“; Plinius verglich sie mit
Kriegsschiffen; in einem Yuukara Lied der Saru
Ainu heißt es: „Mörderwal, Gott des Meeres,
bitte bring mir mehr als eineinhalb
Wale jedes Jahr. Dann gebe ich
dir gern meine liebliche Tochter zur Braut.“
Das Orcabild hoch in der Nazca-Wüste.
Was ist das? Einfache Naturlyrik sicher nicht. Es erinnert an die naturpoetische Tradition von Gary Snyder, auch an Eliot Weinbergers transkulturelle Poetik. Inhaltlich ist es absolut originell, auch wenn es schon andere poetische Bestiarien in der Literatur gibt. Was die kulturpoetische Haltung angeht, so erinnert dieses Aquarium besonders an eine aktuelle New Yorker Praxis von Global Writing, ein Schreiben jenseits kultureller Grenzen, das gerade die Gruppenbildung im nationalen Aquarium vermeidet. Yangs höchst poetisch klingende Tiefseearchäologie ist in Wahrheit ein neues Experiment mondialer, grenzüberschreitender Literaturbewegung:
Es ist eines der wenigen Dinge, die wirklich unsere politischen Grenzen überschreiten, das ist die Umwelt, es ist ja offensichtlich, was geschieht. Ich bin sicher, dass es in den Vereinigten Staaten noch mehr von dem geben wird, was wir im Moment als Eco-Poetics oder Eco-Writing oder Eco-Criticism bezeichnen.
Eliot Weinberger, der ein erhellendes Vorwort beigetragen hat, fiel zu Jeffrey Yangs Debüt Folgendes ein:
Ein Seestern ist aufgegangen.
Man könnte auch sagen, eine kleine New Yorker Poetenschule tut sich hier auf. Es ist sicher keine Schule für brave Musterschüler. Eher – in Anlehnung an eines der Gedichte – eine dynamisch verspielte Schule von poetischen Delfinen, die sowohl tief tauchen als auch hoch springen können.
Jürgen Brôcan: Von Abalone bis Zi-Fisch
fixpoetry.com, 4.9.2012
Eric Giebel: It’s not a Sea World
vitabuvingi.de, 31.10.2016
Clair Lüdenbach spricht mit Jeffrey Yang: Musik in den Worten
Jorid Engler spricht mit Jeffrey Yang: Under the surface
– „Such a small volume on such a grand topic“, beschreibt Moderator Frank Kelleter begeistert das schmale Lyrikbändchen Ein Aquarium. Die Besonderheit dieses Aquariums: Es enthält alphabetisch sortierte Gedichte von A wie Abalone bis Z wie Zooxanthelle. Beim „Hausbesuch XIV“ des Literarischen Zentrums in Göttingen kommt der Dichter Jeffrey Yang der Aufforderung von Kelleter nach: „Let’s talk about fish and other sea creatures!“. –
Hausbesuch in der Bunsenstraße: Der amerikanische Dichter Jeffrey Yang ist nach Göttingen gekommen, um seinen Gedichtband Ein Aquarium vorzustellen, der gerade ins Deutsche übersetzt wurde und als zweisprachige Ausgabe im Berenberg Verlag erschienen ist. Yang scheint in dem ausladenden Sofa zu versinken, wie er da zwischen Frank Kelleter, der den Abend moderiert, und seiner Übersetzerin Beatrice Faßbender eingeklemmt sitzt.
Auch die Zuhörer sitzen gedrängt im großen Wohnzimmer, Weingläser in der Hand auf Klappstühlen. Nichtsdestotrotz herrscht eine entspannte Atmosphäre. Über dem Sofa hängen maritime Bilder. Doch als Yang anfängt die englischen Gedichte zu lesen, gefolgt von Faßbender, die die deutsche Übersetzung mit ihrer melodischen Stimme vorträgt, merkt man schnell, dass die Gedichte nichts mit den reifberockten, bootfahrenden Damen auf den Wandgemälden gemeinsam haben. Würden die Damen ins Wasser springen, dann könnten sie einen Blick darauf erhaschen, wovon Jeffrey Yang in seinen Gedichten erzählt.
Mikrokosmos Aquarium
Die Zuhörer im Wohnzimmer lauschen gebannt, wie Jeffrey Yang in seinen Gedichten eine Unterwasserwelt nach eigenen Regeln erschafft. Doch ist es wirklich eine Unterwasserwelt oder spiegelt diese bloß unsere eigene Wirklichkeit, unsere Kultur, die Geschichte, die Gesellschaft, die Umweltzerstörung? Einzutauchen in dieses lyrische Aquarium, das bedeutet, sich auf eine tiefgründige Entdeckungstour zu begeben. Nicht nur bekannte Meeresbewohner wie Hai und Hummer wird man dort finden, auch weniger plakative Vertreter wie Foraminiferen und Dinoflagellate, bis hin zu Aristoteles und Google, „Wesen“, die normalerweise nicht mit dem Meer in Verbindung gebracht werden.
Anders als im Buch, das keine Erklärungen oder Anmerkungen enthält, beschreibt Yang für sein Publikum das Aussehen der Fische, bevor er ein Gedicht vorträgt. Im Gespräch knüpft Kelleter daran an:
The Aquarium is without notes, but more important in 2013 without links. You can’t go immediately to an explanation. I think this medium – the bound book – preserves a certain sense of original strangeness.
Fußnoten hätten mehr Arbeit für ihn bedeutet, witzelt Yang. Doch eigentlich steckt mehr dahinter. Die Gedichte stehen für sich und verweisen den Interessierten auf andere Werke. Viele Wissensgebiete zu verknüpfen, macht für Yang und den Leser den großen Reiz dieser Art von Dichtung aus.
Die USA, eine Garnele?
Das kürzeste Gedicht Garnele besteht lediglich aus zwei Wörtern: „Siehe U.S.“. Das Gedicht U.S. wiederum erstreckt sich über eine Seite und ist eine Aufzählung von „Fischen“, die die USA repräsentieren könnten. „A fish with a circulatory system of black gold“ („Ein Fisch mit einem Kreislaufsystem aus schwarzem Gold“) oder doch „a Shiite Muslim fish with a Protestant upbringing“ („ein schiitisch muslimischer Fisch mit protestantischer Erziehung“)? Das Gedicht endet mit der Mutmaßung, dass es sich bei den USA vielleicht doch gar nicht um einen Fisch, sondern um eine Garnele handele. Während Faßbender und Yang abwechselnd Zeile um Zeile im Kanon vorlesen, Deutsch und Englisch ineinander übergehen und geradezu ergänzend scheinen, ertappt man so manch einen im Publikum, dem, wie erschlagen von der Assoziationsdichte, der Mund offen steht. Doch als er gefragt wird, wieso die USA auch eine Garnele sein könnten, lächelt Jeffrey Yang nur ein bisschen und sagt: „because of the shape!“
Seahorse, Shark, Sponge, Squid, Starfish – in Jeffrey Yangs maritimem Alphabet finden sich unter S fünf Meeresbewohner, darunter ein fünfarmiger (und zehnzeiliger) Seestern. Auch die merkwürdigen „Fische“ unter X, Y und Z, verbunden durch eine Eingangsformel, kommen zu fünft daher. Und das ist noch nicht alles. Immer wieder trifft man in diesem „Aquarium“ auf die Zahl Fünf: ein magisches Quadrat, in dessen Zentrum eine Fünf steht, ein Quincunx aus Quallen – fünf Punkte angeordnet wie auf einem Würfel – auf dem amerikanischen Buchcover und insgesamt 55 Gedichte (plus eines, das jedoch „abseits des Quincunx“ steht). Spielerei? So wenig es für Inger Christensen Spielerei war, in Alphabet die Fibonacci-Reihe zu spiegeln oder dem Langgedicht Das die Zahl Acht als Ordnungsprinzip zugrunde zu legen.
In Yangs Debüt An Aquarium gibt die Fünf keine strenge Ordnung vor, vielmehr stellt sie eines von vielen wiederkehrenden Motiven dar, durch das dieser Band zu weitaus mehr wird als die Summe seiner Teile. Der Arzt und Philosoph Thomas Browne wagte 1658 mit The Garden of Cyrus den Versuch eines biologisch-mystischen Gottesbeweises anhand des Quincunx-Musters in der Natur, und wenn Jeffrey Yang sich in einem Gedicht explizit auf dieses Werk bezieht und seiner Sammlung ein Epitaph Brownes nachstellt („Folglich ist in uns etwas, das ohne uns sein kann und nach uns sein wird, hat es auch keine Geschichte dessen, wo es vor uns war, kann es auch nicht erzählen, wie es in uns kam.“), legt er damit auch seine eigene Blickrichtung fest: weit über das Wissenschaftlich-Erfahrbare, weit über die Gegenwart hinaus.
Schon die wenigen hier ausgewählten Gedichte geben einen Eindruck davon, wie weit der Horizont Jeffrey Yangs ist, wenn er vom Meer au die Welt, den Menschen und seine Kulturen, Wissenschaften, Geschichten, Poesien, Philosophien und Religionen betrachtet: von Hawaii über das präkolumbische Mississippi-Delta, von fossilen Funden in China über Jules Verne bis zu Meerestieren aus einem mittelalterlichen chinesischen Bestiarium. Andere Gedichte streifen Garibaldi, den CIA, Vishnu, den Ogaden-Krieg, Rousseau, Aristoteles, Borges oder die USA, um nu wenige Beispiele zu nennen.
All das zusammen ergibt einen wahren Glücksfall nicht nur in der amerikanischen Lyrik, sondern hoffentlich auch weit über die Grenzen der USA hinaus. Wann hat man zuletzt Gedichte gelesen, die so klug wie humorvoll, so musikalisch wie welthaltig, so durchdacht wie elegant, so originell wie weitsichtig wären?
Beatrice Faßbender, Akzente, Heft 3, Juni 2011
Jeffrey Yang: On Poetics, University of Chicago, 5.5.2011.
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