„DIE EWIGKEIT RUFT“
Am Meer. Sonett
Hier wird mich alles überleben,
Sogar die altersschwachen Starkästen
Und diese Luft, die Luft des Frühlings
Nach einem langen Meeresflug.
Die Ewigkeit ruft mit einer Stimme
Voll überirdischem Verlangen,
Und über dem erblühten Kirschbaum
Verströmt der leichte Mond sein Licht.
Und er ist nun nicht mehr beschwerlich,
Der im smaragdnen Dickicht weiße Weg
ich sage nicht, wohin…
Es ist noch heller dort zwischen den Stämmen,
Und alles gleicht der Allee
Am Teich von Zarskoje Selo.
Komarowo 1958
Die Gattung Biographie fordert, daß im Leben eines Menschen wichtige Ereignisse hervorgehoben werden, die es in einzelne Abschnitte teilen und den Bericht zu einer dramatischen Handlung steigern. Und man ist versucht, dann und wann den Vorhang fallen zu lassen und einen Dekorationswechsel vorzunehmen. Und doch sind die Übergänge fließend, und es ist nahezu unmöglich, die Grenze zu ziehen, an der der nächste Akt beginnt.
Dieses letzte Kapitel ist Achmatowas Alter gewidmet. Die fünfziger und sechziger Jahre brachten Ereignisse mit sich, von denen jedes den Höhepunkt des zu berichtenden Zeitraums oder aber den Beginn einer neuen Phase bedeuten könnte: Stalins Tod 1953 und die Rückkehr ihres Sohnes aus dem Lager, das Erscheinen von drei neuen Büchern und der internationale Literaturpreis in Italien, die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Oxford, der Tod Pasternaks und die Freundschaft mit dem jungen, von ihr als Dichter stets akzeptierten Jossif Brodsky. Das alles waren Ereignisse, die der „Handlung“ neue Impulse gaben. Jedoch ist das Alter, selbst ein aktives Alter, weniger ein Prozeß als vielmehr ein Zustand, und wenn es naht, ist es gleich stark von der Vergangenheit wie von der Gegenwart bedingt.
So wie im Vergangenen das Künftige reift,
Verwest im Künftigen das Vergangene.
Wenn man Achmatowas Fotografien vom Anfang der fünfziger Jahre betrachtet, sieht man auf den ersten Blick, wie sehr sie sich verändert hat. Nun ist sie eine alte Frau.
So ist es also: Kummer, Jahre, Krankheit. Sie hat sich sehr verändert, ist massig geworden, in die Breite gegangen. Ein volles Gesicht, der Mund zwischen den vollen Wangen erscheint kleiner als zuvor. Das ganze Gesicht hat die scharfen Konturen eingebüßt. Sogar der Höcker auf der Nase ist verschwunden, als wäre selbst die Nase kleiner und unscheinbarer geworden, als sie es einst war. Selbst ihre Hände haben sich verändert. Sie sind plump und aufgedunsen. Dabei sind sie eigentlich leicht und kindlich. Zehn Jahre! Nur der Blick ist geblieben. Und die Stimme. (Lydia Tschukowskaja)
So blieb Achmatowa bis in ihre letzten Lebenstage.
Anna Andrejewna sieht schlecht aus und bewegt sich sehr schwerfällig: Sie ist zu dick. Solange sie sitzt – Schultern, Profil, Silberhaar und die Hand an der Wange – ist sie wunderschön und auf Jugend nicht angewiesen. Aber wenn sie sich erhebt, wirkt sie greisenhaft und kann sich nur mühsam zwischen Tisch und Sofa hindurchzwängen, so groß, so breit ist sie geworden. (Lydia Tschukowskaja)
Aber auch die neue Erscheinung bewahrte das Wesentliche, was zum Bild Achmatowas „außerhalb von Zeit, Krankheiten und Kummer“ gehörte.
Sonderbar, während ich ihr zuhörte, erkannte ich sie wieder. Ich sah ihre frühere Gestalt. Nicht bloß die Intonation oder die empörte Schulterbewegung oder ein charakteristisches Wort. Ich habe gar nicht gemerkt, in welchem Augenblick mir ihr vertrautes früheres Aussehen wiedergeschenkt wurde. Die zehn Jahre waren wie verflogen, und es stellte sich heraus, daß sie sich überhaupt nicht verändert hatte. Sie war die gleiche geblieben, vielmehr dieselbe. (Lydia Tschukowskaja)
Die gelassene und natürliche Majestät, das schon früher an Achmatowa beobachtete Königliche, war von der Zeit nur noch unterstrichen worden. Und obwohl die alternde Anna Andrejewna sich immer einfacher gab, stellte sich nun diese Einfachheit als das wahrhaft Königliche dar.
Ohne von Geburt zur Aristokratie zu gehören, war sie aristokratisch einfach und natürlich im Umgang mit Menschen, ein wenig zeremoniell, aber keineswegs steif oder hochmütig. Es war das Aristokratische der menschlichen Würde, Klugheit und Begabung. (Wladimir Maximow)
Wahrscheinlich trifft das Wort „aristokratisch“ Achmatowas Wesen am besten. Dennoch taucht in sämtlichen Memoiren das Wort „königlich“ auf, selbst wenn sie schwach und krank war.
Durch Komarowo1 wandelt Anna Andrejewna imperatrix, gekrönt von ihrem Silberhaar, und verwandelt, sobald sie auf einem der Wege erscheint, Komarowo in Zarskoje Selo. (N. Berkowski)
Lydia Tschukowskaja meinte nichts anderes, als sie schrieb:
Es gibt eine einzige Stimme auf der Welt, deren Klang und selbst flehentliches Bitten herrisch klingen.
Diese Worte gelten ebenso für Achmatowa im Alter wie auch für ihre Lyrik
Allzu heftige Gefühle eines Dichters gehen dem heutigen Leser auf die Nerven. Der Leser möchte selbst… fühlen, und außerdem denkt er ununterbrochen an alles, was er im Leben ausgestanden hat, deshalb empfindet er das Bestreben des Dichters, dem Leser seine persönlichen Leiden vorzusetzen, als ausgesprochen enervierend.
Auch im Leben klagte sie nie. Sie war häufig krank – der erste Herzinfarkt 1951 – und mußte Monate in Mehrbettzimmern keineswegs komfortabler Krankenhäuser verbringen. Trotzdem sagte sie ganz schlicht:
Das Krankenhaus hat einen gewissen klösterlichen Reiz.
Eines Tages sagte ich zu Anna Achmatowa: „Sie sind – König Lear.“ Erstaunt, aber beherrscht kam die Antwort: „Woher wissen Sie das?“
Das war keine Frage, sondern der Ausruf: So ist es. Wie kommen Sie darauf? (L. Oserow)
Wie König Lear wurde sie aus ihrem Palast vertrieben. Und von diesem Moment an (1952) begann ihre Pilgerschaft, die erst mit ihrem Tode endete. Ein anderes Heim hat sie eigentlich nicht gefunden. Aber dem Auszug Achmatowas aus dem Scheremetjew-Haus fehlte jede romantische Aureole. Er ist nichts anderes als eine hoffnungslose, öde, bürokratische Angelegenheit. Das „Arktische Institut“, vom Willen der Verwaltung im Scheremetjew-Palais untergebracht, verlangte die Räumung des Seitentraktes, in dem sich die Wohnung der Punins und Achmatowas befand.
Ich stellte keine Ansprüche
An dieses erlauchte Haus,
Aber es hat sich ergeben, daß fast mein ganzes Leben
Unter dem illustren Dach
Dieses Palais verlief… Als Bettlerin
Kam ich, als Bettlerin ziehe ich von dannen.
1952
Sie verließ dieses Haus, dessen Legenden, dessen Geschichten ihre Erinnerung, ihre Welt, ihren Reichtum und ihre Gedichte ausmachten. Die Nachricht, daß Nikolai Punin, zu dem sie einst in dieses Haus gezogen war, in einem Lager umgekommen war, erreichte sie bereits in der neuen Wohnung. Diese Nachricht war gleichsam das Finale ihres im Scheremetjew-Palais verbrachten Lebensabschnitts.
Ihre neue Behausung – in einer Gemeinschaftswohnung, die sie mit einer weiteren Mieterin teilen mußten – in der Krasnaja-Konniza-Straße Nr. 4 bezog Achmatowa mit der Tochter und der Enkelin von Punin. Sie konnte nicht allein leben, denn sie war in den Dingen des Alltags vollkommen hilflos. Sie kränkelte viel und hatte keine Angehörigen außer Ira und Anetschka, wie die Beziehungen zwischen ihnen auch immer beschaffen waren. Es ist bemerkenswert, daß sich in Achmatowas Erzählungen um ihre neue Behausung sehr bald alte Geschichten rankten: Einst, in alten Zeiten, habe sich dort, ihren Worten nach, ein großer Gasthof befunden, und das ganze zweite Stockwerk war ein einziger Schankraum, in dem sich die Kutscher, aus der Kälte kommend, wärmten. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, vielleicht war es aber auch nur die Fortsetzung der Geschichten aus Achmatowas Kindheit, ein Echo der Kutscherschenke des Hauses in Zarskoje Selo. Aber auch diese neue Wohnung sollte weder ihr eigenes Heim noch ihre letzte Zuflucht werden. Bald wurde das Haus saniert, und Achmatowa zog mit den Punins abermals um, in das Haus der Schriftsteller, Leninstr. 341 endlich in eine eigene Wohnung. Diese zahlreichen Umzüge haben die Lebensgewohnheiten Anna Andrejewnas nicht im geringsten tangiert.
Sonderbar – drei absolut verschiedene Wohnungen – aber Achmatowas Zimmer blieb sich immer gleich: ein Fenster ohne Sonnenlicht, spartanisch streng oder eigentlich unwohnlich… (I. Metter)
Dieselben Möbelstücke – das Erbe von Olga Sudejkina – umgaben sie. Schon 1929 alt und gebrechlich, wurden sie mit der Zeit Symbole der stets präsenten Vergangenheit. Und überall war die Zeichnung von Modigliani dabei, lebendige Erinnerung an die Jugend, einziger Schmuck ihres Zimmers.
Der Hintergrund, vor dem die Gestalt Achmatowas sich abhebt – ein Minimum an Requisiten. Es war nicht einfach Nachlässigkeit, sondern großartige, in die Tat umgesetzte, dabei keineswegs betonte oder zur Schau gestellte Verachtung von Alltäglichkeit. Das sparsame, gleichsam angedeutete – wenn dieser Ausdruck erlaubt ist – Interieur ihrer Behausung hatte nichts gemein mit den Palazzi neureicher Schriftsteller, Herren über zweistöckige Datschen, Autos und Möbelgarnituren aus Mahagoni. Bei meinen Besuchen in all ihren Wohnungen der letzten dreißig Jahre in Leningrad erlebte ich stets eine seltene ,studentische‘ Bescheidenheit oder sogar, die Sache beim Namen genannt, Armut. Ein kleiner Schreibtisch, der sich kaum noch auf den Beinen hielt, ein Bett, ein Schrank(?), ein kleines Bücherregal (?), eine Truhe oder ein Koffer für die Manuskripte, ein Sessel, ein Stuhl… Das war mit geringen Abweichungen alles, was man in sämtlichen Behausungen von Anna Andrejewna vorfand. All das trug zu dem Eindruck mangelnder Fürsorge und schlecht organisierten Alltags bei, der die halb reale, halb rhetorische Frage weckte: Hat sie heute zu Mittag gegessen oder sich mit Tee und Spiegelei begnügt? So stand es um Achmatowa, selbst noch in ihren allerletzten Lebensjahren, als sie anständige Honorare bezog… (Wladimir Maximow)
Anatoli Naiman, der ihr in den sechziger Jahren seine Arbeit als Sekretär angetragen hatte, findet in seinen Erinnerungen eine komprimierte Formel, die ihre Existenz beleuchtet:
Unbehaustheit als Lebensform.
Aber Achmatowa strebte gar nicht nach Behaustheit. Sie liebte zwar elegante und schöne Dinge, verschenkte sie aber sofort an ihre Freunde. Von ihrem ersten größeren Honorar (nach 1946), das sie Anfang der fünfziger Jahre für die so mühevolle Victor-Hugo-Übersetzung erhielt (und das sie vor der blanken Armut rettete), kaufte sie ein Auto für den Sohn ihrer Moskauer Freundin. Auf die Frage einer ihrer jungen Bekannten, wie lange sie ihren Reichtum, wenn sie denn reich geworden wäre, genossen hätte, antwortete Anna Andrejewna:
Nicht lange, höchstens zehn Tage.
Aber als diese Frau eines Tages zu Geld kam und Achmatowa abermals fragte, was sie damit machen solle, antwortete Achmatowa lapidar:
Ein Haus bauen. Das ist das wichtigste.
Achmatowa wußte zu genau, wie bitter es ist, wenn man kein eigenes Zuhause hat.
Das Leben der Punins verlief nach Rhythmen, die offenbar nicht immer mit ihren eigenen übereinstimmten. Und überhaupt wurde es in dem Leningrad Achmatowas immer dunkler. Viele alte Freunde waren inzwischen gestorben, neue waren rar.
Leningrad verhielt sich ihr gegenüber wie die tiefste Provinz. Nicht nur wegen seiner literarischen Hierarchien und Querelen, sondern auch wegen der Willkür der Stadtoberen. Das machte sich in der Behandlung Anna Andrejewnas und der ihr nahestehenden jungen Dichter bemerkbar, etwa Jossif Brodskys, das machte sich in verlegerischen Fragen bemerkbar, auch bei der Veröffentlichung ihrer Gedichte in der Presse, vor allem aber in der Wohnungsfrage. Eigentlich hat sie bis zuletzt keine passende Wohnung bekommen… Ich hatte den Eindruck, daß ihre häufigen Besuche in Moskau etwas mit der drückenden Luft in Leningrad zu tun hatten. (W. Iwanow)
Tatsächlich fand in jedem Winter der fünfziger und sechziger Jahre ein Wanderzug Achmatowas durch die Wohnungen ihrer Moskauer Freunde statt. Damals wurde Moskau, neben Leningrad, zu „ihrer“ Stadt.
Für den Maiglöckchenmai
In meinem hundertkuppligen Moskau
Gäb ich der Sterne Scharen
Glorie und Glanz.
Meist und offenbar besonders gern wohnte Anna Andrejewna in der Wohnung des Satirikers Viktor Ardow, im winzigen Zimmer des ältesten Sohnes von Ardows Frau Nina Olschewskaja, der bereits ausgezogen war. (Als Zeichen ihrer Dankbarkeit kaufte sie ihm ein Auto.) Nina Olschewskaja übernahm die Fürsorge für Achmatowa – pflegte sie, wenn sie krank war, achtete auf ihre Diät, erneuerte manchmal gewaltsam ihre Garderobe.
Wenn der Aufenthalt bei Ardows aus irgendeinem Grunde nicht möglich war, schlüpfte Achmatowa bei anderen Moskauer Freunden unter.
In praktischen Dingen war sie völlig hilflos. Alle wußten, daß Anna Andrejewna sich vor der Technik fürchtete und nicht in der Lage war, einen Plattenspieler anzustellen, eine Platte aufzulegen oder in der Küche das Gas anzumachen. (S. Gitowitsch)
Dabei ist sie, nach den Erinnerungen aller, niemandem je zur Last gefallen. Anspruchslos, wie sie war, galt sie überall nicht als Gast, sondern als Familienmitglied.
Abhängig von ihrer Umgebung, ständig darauf angewiesen, diese in Anspruch zu nehmen… wußte sie ganz genau, wen sie bitten konnte und wen nicht. Sie hatte die Gabe, weder sich selbst noch andere in eine peinliche Lage zu bringen. (Natalia Iljina)
Wahrscheinlich ist dies ihrem Taktgefühl zuzuschreiben, vielleicht aber auch der unverbrauchten mütterlichen Wärme, die sie gern verschenkte.
Mir gegenüber gab sich Anna Andrejewna immer ganz einfach, sie war ausgeglichen und freundschaftlich. Ich habe sie sogar als liebevolle ,gütige Großmutter‘ in Erinnerung, wenn es auch nicht auf alle Tage zutrifft. Eine kleine Episode mag dies illustrieren: das morgendliche Kaffee- und Teetrinken an unserm großen Eßtisch. Ich verrühre den Zucker und führe die Tasse zum Mund, ohne den Löffel vorher herauszunehmen. Mit einer schnellen und sicheren Geste nimmt Anna Andrejewna den Löffel heraus, legt ihn auf meine Untertasse und schaut mich aus lachenden Augen an: „Wußten Sie das noch nicht? Jetzt wissen Sie es.“ Sie hat mir auch einige andere Regeln des guten Tons beigebracht – zum Beispiel auf einem Briefumschlag Vor- und Vatersnamen nicht nur mit Anfangsbuchstaben anzudeuten, sondern sie voll auszuschreiben (selbstverständlich vor dem Familiennamen), den Schnittkäse nicht aufzuschneiden, bevor er auf den Tisch kommt, ein frisch gebügeltes Taschentuch auseinanderzufalten, bevor man es in die Handtasche steckt… (Nika Glen)
Mit der gleichen Selbstverständlichkeit und en passant, manchmal scherzend, manchmal nachdrücklich, unterwies sie die Jungen der Familie Ardow. Sie brachte ihnen vieles bei: beim Essen nicht die Ellbogen auf den Tisch zu stützen, den richtigen Gebrauch des Russischen, Anstandsregeln, den Blick für „ihr“ Petersburg. Diese Familie schien ihre Familie zu sein. Aber wieviel Sehnsucht schwingt in ihren Worten mit:
Ira und Anja sind die einzigen Menschen auf Erden, die mich duzen. Ich freue mich darüber wie ein Kind.
Eine eigene Familie, ein eigenes Heim besaß sie nicht.
Niemand auf der Welt kann verwahrloster
Und wohl heimatloser sein.
Es ging ihr dabei weniger um ihren desorganisierten Alltag als darum, daß es keinen Platz auf Erden gab, wo jener einzige Mensch auf sie gewartet hätte, von dem sie das „Du“ zu hören wünschte – ihr Sohn.
Vielleicht sollte dieses letzte Kapitel mit jenem Tag beginnen, den Achmatowa bis zu ihrem Tod für einen Festtag hielt – mit dem 5. März 1953. An diesem Tag starb Stalin. Nein, dieser Tag hat ihr den Sohn nicht wiedergeschenkt, aber damit setzte im ganzen Land und in ihrem eigenen Leben ein zwar langsamer, aber unaufhaltsamer Dekorationswechsel ein. Mit diesem Tag begann die Hoffnung. Sie wuchs sehr langsam, bald stockend, bald wieder aufflackernd.
Anna Andrejewna ist jetzt besorgt wegen der Reise von Emma Grigorjewna nach Leningrad: Emma ist dort, um Artamonow ein Schreiben über Lew abzuringen. Das Material, Briefe und Anträge wegen Ljowa würden einen ganzen Band füllen. Einen künftigen sechsten Band von Achmatowas Gesammelten Werken: den Supplementband. Vielleicht wird er auch Ljowas Akten enthalten, obwohl ich meine Zweifel habe, ob solche Akten überhaupt existieren – er ist der Sohn von Nikolai Stepanowitsch, das ist die ganze Akte. (Lydia Tschukowskaja, 18. Dezember 1955)
Die ständige Sorge Achmatowas gilt von jetzt an nicht nur den Paketen ins Lager, sondern ebensosehr den Eingaben an die verschiedensten offiziellen Stellen und einflußreichen Personen die eine Revision von Ljowas Urteil erreichen könnten.
Nach und nach tauchten in Moskau, in Leningrad überall Menschen auf, die der Tod des „Vaters aller Völker“ aus Lagern und Verbannung befreit hatte. Ende September 1955 notiert Tschukowskaja:
Ich war bei Anna Andrejewna. Sie erzählte, daß sie jetzt Tscharenz übersetze. Sie war sehr nervös. Konferierte in meiner Gegenwart mit Emma Grigorjewna wegen Ljowa. Direkt von ihr begab sich Emma Grigorjewna wegen einer Bescheinigung zur Staatsanwaltschaft. Die Hoffnung wächst. Anna Andrejewnas Augen haben einen neuen Ausdruck – den einer bis zum physischen Schmerz gesteigerten Unruhe. Alles erinnert an den August 1939, obwohl es damals der Vorabend der Trennung war und heute möglicherweise der Vorabend des Wiedersehens.
Aber auch das Jahr 1955 brachte Lew Gumiljow nicht die Freiheit. Die qualvolle Erwartung erlebte Achmatowa nicht nur als persönliches Los, nicht nur als Schicksal ihres eigenen Sohnes. Lydia Tschukowskaja erzählte ihr 1955, daß sie auf ihre Anfrage nach dem Schicksal ihres im Lager verschollenen Mannes die Zusage erhalten habe, in circa sechs Wochen seine Aktennummer mitgeteilt zu bekommen.
„Nach sechs Wochen die Nummer mitzuteilen!“ wiederholte Anna Andrejewna. „Begreifen Sie denn überhaupt, was das bedeutet? Wie viele Nummern gibt es also dort? Wie viele Karteikarten? Akten? Millionen! Dutzende von Millionen! Wollte man sie aufeinanderschichten, dann würden sie von der Erde bis zum Mond reichen!“ (Lydia Tschukowskaja)
Bis März 1956 glaubte sie, daß das qualvolle Warten niemals enden würde.
Wieder kommt Ljowas Sache nicht vom Fleck Außerdem beschäftigt sie leidenschaftlich das, was uns alle beschäftigt: der Parteitag, die Gerüchte über Stalin. Sollte man Stalin entlarven, dann würde das bedeuten, daß Millionen von Menschen nach Hause zurückkehren könnten und daß man die Wahrheit über die ,Gemarterten und Getöteten‘ aussprechen würde. (Lydia Tschukowskaja)
Das entscheidende Wort in dieser Tagebucheintragung ist das Wort „Parteitag“. Der XX. Parteitag fand im März 1956 statt. In Chruschtschows Rede vernahmen die Menschen „jene langerwarteten Worte, die das Blutbild verändern“ (Lydia Tschukowskaja). Endlich war die Zeit angebrochen, in der man über das Erlebte im Imperfekt sprach.
„Das, was wir erlebt haben“, sagte Anna Andrejewna, gegen das Kissen gelehnt, „ja, ja, wir alle, weil jedem von uns die Folter drohte, ist noch nie in der Literatur ausgedrückt worden. Die Dramen von Shakespeare, all diese expressiven Schurkereien, Leidenschaften, Duelle sind Bagatellen, Kinderspiele im Vergleich zu dem Leben eines jeden von uns. Und darüber, was die Hingerichteten, die Lagerinsassen erlebt haben, wage ich überhaupt nicht zu sprechen. Das läßt sich mit Worten nicht ausdrücken. Aber auch unser verschontes Leben ist ein ins Tausendfache gesteigertes Shakespeare-Drama. Stumme Trennungen, stumme, schwarze, bluttriefende Nachrichten in jeder Familie, Mütter und Ehefrauen in unsichtbaren Trauergewändern. Und nun kehren die Geschundenen zurück, und zwei verschiedene Lager werden sich gegenüberstehen: das Rußland, das die Menschen einsperrte, und das Rußland, das eingesperrt wurde. Jetzt beginnt eine neue Epoche, und wir dürfen sie erleben.“ (Lydia Tschukowskaja)
Anderthalb Monate später, am 15. April 19561 kehrte Ljowa zurück.
Anna Andrejewna kam hier am 14. an. Am 15., ohne den Aufenthaltsort seiner Mutter zu kennen, stand der entlassene Ljowa, der auf dem Weg nach Leningrad war, bei den Ardows vor der Tür. Wie freuten wir uns, sie so zu sehen, das verjüngte, entspannte Gesicht, und die verjüngte Stimme zu hören. Wir traten in das kleine Zimmer. Die Luft war blau von Zigarrettenrauch.
„Wie Ljowa gequalmt hat!“ sagte Anna Andrejewna und trieb mit der Hand die Rauchschwaden zur Seite. Sie sagte das in einem so vertraulichen, reizend nörgelnden mütterlichen Ton, daß ich ganz glücklich war. (Lydia Tschukowskaja)
Drei Monate später traf das offizielle Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft ein:
12/Nr. 500 43–49
Moskau-Zentrum, Kirowstraße 41 30. Juli 1956
Hiermit wird mitgeteilt, daß die Sache, in der Gumiljow, Lew Nikolajewitsch, 1950 verurteilt wurde, überprüft worden ist. Es wurde festgestellt, daß für eine Verurteilung von Gumiljow, L.N., keinerlei rechtskräftige Voraussetzungen vorliegen. Entsprechend dem Revisionsantrag des Generalstaatsanwalts der UdSSR setzte das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR am 2. Juni 1956 den Beschluß der Sonderkommission beim MGB der UdSSR vom 13. September 19501 betreffend Gumiljow, Lew Nikolajewitsch, außer Kraft und schloß in Ermangelung eines im Sinne des Gesetzes strafbaren Tatbestands das Verfahren ab.
Der Staatsanwalt beim Militärkollegium
Abteilung GWG
Oberstleutnant Kuraskua
Das hätte das Happy-End einer zwanzigjährigen Leidensperiode sein können. Doch Achmatowas Generation war es beschieden, jene letzten Fragen zu stellen, die die Grenze zwischen der Realität und den Romanen von Dostojewski und Tolstoi verwischen:
Kann Blut vergossenes Blut abwaschen? Man muß der Herrgott persönlich sein, um diese Frage zu beantworten.
Achmatowas Bemerkung, daß sich zwei verschiedene Lager gegenüberstehen würden (Rußland, das einsperrte, und Rußland, das eingesperrt wurde), erwies sich als prophetisch. Am 15. Mai 1956 trägt Tschukowskaja in ihr Tagebuch ein:
Ljowa ist zurückgekommen. Fadejew hat sich erschossen. Anfang und Ende. Kulmination einer Epoche. Für den einen – Anfang eines neuen Lebens, für den anderen – selbstgesetztes Ende als Sühne für das vergangene.
Der Erste Sekretär des Schriftstellerverbandes, Alexander Fadejew, hatte am 2. März einen letzten Brief zugunsten Lew Gumiljows geschrieben. Vielleicht wollte er mit diesem Brief seine Mitschuld an dem Schicksal verbannter und erschossener Schriftsteller sühnen.2 Er wußte, daß er dem Blick der Zurückkehrenden, von dem Achmatowa sprach, nicht würde standhalten können.
Obwohl Achmatowa mit größter Intensität die Tragödie der Sühne nachempfand, erkannte sie nicht weniger scharfsinnig, daß diese auch zur Farce werden konnte. Sie war weder bereit, früheres Versagen noch billigen Opportunismus zu verzeihen.
Ein wahrhaft eiserner Charakter. In längst verflossenen Zeiten hatte ein gewisser Kritiker, nennen wir ihn Iwan Iwanowitsch, einen Artikel verfaßt, in dem er Achmatowa antisowjetischer Haltung bezichtigte. Später, lange nach der Veröffentlichung des Artikels, hatte der Kritiker „alles eingesehen“ und ließ Anna Andrejewna ausrichten, daß er, falls sie ihm nicht verzeihe, sich das Leben nehmen würde. Darauf Achmatowa: „Richten Sie Iwan Iwanowitsch aus, das sei seine Angelegenheit.“ Die Geschichte ging glimpflich aus. Der Kritiker blieb am Leben. (I. Iwanowski)
Doch ungeachtet dessen, daß viele Menschen bereit waren, das Geschehene ruhen zu lassen, konnte es aus dem Alltag nicht ausgeklammert werden.
Ich versuchte, Anna Andrejewna die mich quälende Frage zu stellen: „Wie kommt es, daß alle Freuden für mich mit Gift durchtränkt sind? Ehrenwort – der Grund ist nicht, daß andere zurückkehren, Mitja aber nicht.“3 „Wie es kommt?“. Anna Andrejewna sah mich ernst an: Wird sie es wohl begreifen? „Das kommt daher, daß Sie unbewußt, ohne es selbst auch nur zu ahnen, diese Jahre gleichsam verschwinden lassen wollen. Aber diese Jahre waren eine Realität. Sie lassen sich nicht wegwischen. Die Zeit bleibt nicht stehen. Sie ist in ewiger Bewegung. Man kann die Häftlinge zu ihren Familien zurückkehren lassen, aber man kann weder Sie noch diese Männer an jenen Tag zurückversetzen, an dem Sie getrennt worden sind: Dieser Tag war für Sie und für die Männer entsetzlich, aber es war ein Tag Ihres Lebens, und Sie wünschen sich, daß nicht nur die Menschen, sondern auch jener Tag wiederkommt und daß das gewaltsam unterbrochene Leben genau dort weitergeht, wo es einmal jäh unterbrochen wurde. Daß es dort wieder zusammenwächst, wo ein Axthieb es spaltete. Aber das ist unmöglich. Es fehlt der entsprechende Klebstoff. Die Kategorie der Zeit ist überhaupt wesentlich komplizierter als die des Raums. Eine Gerechtigkeit, die mit einer Verspätung von siebzehn Jahren triumphiert, ist nicht mehr jene Gerechtigkeit, nach der Ihr Herz damals dürstete. Und auch das Herz ist nicht mehr dasselbe…“ (Lydia Tschukowskaja)
Auch in Achmatowas Leben hat sich der Klebstoff nicht gefunden, der sie und ihren Sohn wieder verbinden konnte.
Auf meine Fragen nach Ljowa, nach seinen neuen Lebensumständen, antwortete sie irgendwie einsilbig und flüchtig – die beiden wachsen offensichtlich nicht zusammen. [Lydia Tschukowskaja)
Das Entsetzen der Stalin-Zeit lastete auf allen gleichermaßen, aber die aus den Gefängnissen und Lagern Entlassenen kehrten mit einer besonderen Bürde an Schmerz und Unglück zurück.
Ljowa glaubt tatsächlich, er habe so lange im Lager bleiben müssen, weil Anna Andrejewna gleichgültig und tatenlos gewesen sei. Ich bin Zeugin ihres langjährigen Kampfes um den Sohn. Mehr Aufwand, das heißt Briefe, Anträge, Fürsprache von einflußreichen Persönlichkeiten kann man sich nicht vorstellen. Ihr ganzes persönliches Leben war durch Ljowas Haft bestimmt; sie scheute keine Mittel, keine Selbsterniedrigung, wie etwa die Gedichte zu Ehren Stalins oder ihre Antwort an die englischen Studenten. Sie verzichtete auf eine für sie unendlich wertvolle Begegnung aus Angst, es könnte ihm schaden, und sie übersetzte Hunderte von Versen, die ihre eigenen Gedichte aufzehrten, nur, um die Pakete an ihn bezahlen zu können.
Ljowa aber kehrt zurück und macht ihr Vorwürfe:… Doch dann fiel mir ein, daß nicht nur das Lager seine verheerenden Wirkungen auf ihn ausgeübt hatte, sondern auch seine Kindheit und seine Jugend… Und vielleicht kompensierte er nun dieses alte Gefühl der eigenen Zweitrangigkeit. (Lydia Tschukowskaja)
Achmatowa und ihr Sohn waren nicht nur außerstande zusammenzuleben (ein Familienleben kam wieder nicht zustande) – sie haben sich in ihren letzten Lebensjahren nicht einmal mehr gesehen. Das Lager wirkte auch dann noch in seiner Grausamkeit nach, als es faktisch bereits der Vergangenheit angehörte. Bewußt oder unbewußt ist es heute noch ein großes Unglück für Lew Nikolajewitsch Gumiljow 1989 äußerte er sich darüber folgendermaßen:
In Wirklichkeit hat sie nie ein Gesuch um meine Freilassung eingereicht, folglich konnte von irgendwelchen realen Bemühungen nicht die Rede sein. Nachdem ich aus Omsk zurückgekommen war, fragte ich sie, warum sie denn kein Gesuch eingereicht habe? Die Antwort auf meine Frage blieb sie mir schuldig, obwohl sie doch 1910 an der Universität in Kiew Jura studiert hatte. Mama hatte nicht gelernt, daß jedes Verfahren mit dem Einreichen eines Antrags, früher hieß es einer Bittschrift eingeleitet werden muß. Sie glaubte vielmehr, daß alle ihr entgegenkommen müßten, wenn sie leidet. Aber das ist unmöglich, schon aufgrund des üblichen bürokratischen Systems, das bei uns und auf der ganzen Welt existiert und das durchaus seine Berechtigung hat.
Auf diese Frage („In welcher Form äußerten sich deine Bemühungen?“) reagierte meine Mutter völlig verständnislos.
Wie auch immer, die Häftlinge kehrten aus den Lagern und Gefängnissen ins Leben zurück. Und das war die Hauptsache. Viele erinnern sich, daß Achmatowa, „wenn die Rede auf die Ereignisse nach der Rückkehr der Rehabilitierten und nach dem XX. Parteitag kam, zu bemerken pflegte: „Ich bin in der Chruschtschow-Partei.“ (W. Iwanow).
Die fünfziger Jahre sind für Achmatowa durch eine weitere Rückkehr gekennzeichnet – ihre eigenen Gedichte, die sie in den dreißiger und vierziger Jahren verbrannt oder aufzuschreiben sich gefürchtet hatte, kehrten ins Leben zurück. Sie klaubte sie Zeile um Zeile aus dem Gedächtnis zusammen oder buchstäblich Wort für Wort aus der Erinnerung jener Menschen, deren Gedächtnis sie ihre Gedichte in jenen schrecklichen Jahren anvertraut hatte.
Unter Wehklagen, daß sie die ersten vier Zeilen hoffnungslos vergessen habe, verlangte sie von mir, daß ich mich auf sie besinnen soll. Ich mache ihr klar: „Dieses Gedicht haben Sie mir soeben zum ersten Mal vorgesprochen.“ Aber sie wiederholt beharrlich: „Aber versuchen Sie es doch… Ich bitte Sie, bitte, erinnern Sie sich doch… Ich bitte Sie sehr: Hier fehlen nur vier Zeilen… Das ist für Sie doch eine Kleinigkeit: Sie sind meine letzte Hoffnung!“
So eine der zahlreichen gleichlautenden Eintragungen im Tagebuch von Lydia Tschukowskaja. Ebenso wie in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre hält sie in den fünfziger Jahren jede Begegnung mit Achmatowa fest und besucht sie beinahe täglich. Die Geschichte der Wiedergewinnung des Gedichts „Der Keller der Erinnerung“ von 1940 zieht sich anderthalb Jahre lang wie ein roter Faden durch das Tagebuch – von Juni 1953 bis Januar 1955:
… plötzlich begriff ich, daß sie ihre eigene Zeile für eine Bitte von mir hielt.
„Aber ich weiß, ich gehe dorthin, zum Feind“ – zitierte ich eine weitere Zeile.
Da erkannte sie plötzlich den Zusammenhang, und ihr Gesicht leuchtete auf. „Aber ich weiß, ich gehe dorthin, zum Feind“, sprach sie skandierend und lauschte. Ich rezitierte:
Ich bitte wie um Gnade. Aber dort
Ist Dunkel und Stille. Mein Fest ist aus.
Vor dreißig Jahren schon hat man die Damen nach Hause geleitet.
An Altersschwäche ist längst der Spaßmacher verschieden.
Ich komm zu spät. Was für ein Pech:
Ich kann mich nirgendwo mehr zeigen.
Es stellte sich heraus, daß sie auch das Fest vergessen hatte. Sie freute sich sehr, daß es aus dem Nichtsein zu ihr zurückkehrte, und war mir rührend dankbar. Aber nun begannen die Kümmernisse: Das war nur die Mitte, es fehlte der Anfang, und es fehlte das Ende. Anna Andrejewna beschwor mich, auch die übrigen Strophen dem Gedächtnis zu entreißen – ich aber hoffte auf sie. Ich fragte: Ist es überhaupt möglich, daß das Gedicht nicht aufgeschrieben worden ist? „Doch, es ist wohl aufgeschrieben worden“, antwortete sie unbestimmt.
Aus Anlaß der Auferweckung des „Kellers der Erinnerung“ lebte an jenem Abend manche Episode aus gemeinsam verlebten Leningrader Zeiten wieder auf. Und sie stellte mir jene Frage, die sich heute alle stellen: Ob ich gehofft hätte, Stalins Tod zu überleben?
„Nein“, antwortete ich. „Daran dachte ich irgendwie überhaupt nicht. Ich lebte in dem Bewußtsein, daß er uns für ewig auferlegt sei. Und Sie? Haben Sie gehofft, seinen Tod zu überleben?“
Sie schüttelte den Kopf.
Ich fragte sie: „Ob er wohl selbst an seinen Tod gedacht hat?“
„Nein“, antwortete sie. „Sicherlich nicht. Der Tod – das war etwas für die anderen, er selbst war der Herr über den Tod.“
30. Oktober 1953
Nach einigem Schweigen bat sie mich, das Fragment aus dem „Keller der Erinnerung“ noch einmal vorzusprechen. Es stellte sich zu meinem Kummer heraus, daß ihr nichts dazu eingefallen war, weder zu dem Anfang noch zu dem Ende. Dieses Mal rezitierte ich nicht nur die Zeilen, die mir eingefallen waren, sondern schrieb sie auch auf: Vielleicht würde das Papier ihr einen Anstoß geben – aber während ich den Mittelteil aufschrieb, fiel mir plötzlich die letzte Zeile des Gedichts wieder ein:
Aber wo ist mein Haus? Und wo ist mein Verstand?
Anna Andrejewna nahm den Zettel zur Hand, sah zuerst ihn, dann mich an und sprach:
Der Kater miaute. Laß uns nach Hause gehen!
Aber wo ist mein Haus? Und wo ist mein Verstand?
So stellten sich zwei weitere Zeilen ein, aber danach kamen wir nicht einen Schritt voran.
4. November 1953
Anna Andrejewna verzog vor Schmerz das Gesicht, setzte sich hin, befahl mir, Feder und Papier zu nehmen, und wir begannen von neuem, den „Keller der Erinnerung“ zu rekonstruieren. Inzwischen hatte sie beinahe alles wieder im Kopf (ich weiß nicht mehr, ob erst in meiner Gegenwart oder schon früher) – ich aber kein einziges Wort. Jetzt fehlten nur noch die beiden ersten Reime.
…
…
Nun treiben sie mit mir oft Schabernack.
Steig ich mit der Laterne in meinen Keller hinab,
Hör ich das dumpfe Grollen von Mauern,
Die hinter mir über die schmale Treppe stürzen.
Meine Laterne blakt. Der Rückweg ist versperrt,
Aber ich weiß, ich gehe dorthin, zum Feind.
Ich bitte wie um Gnade. Aber dort
Ist Dunkel und Stille, mein Fest ist aus.
Vor dreißig Jahren schon hat man die Damen nach Haus geleitet.
An Altersschwäche ist längst der Spaßmacher verschieden…
Ich komm zu spät. Was für ein Pech!
Ich kann mich nirgendwo mehr zeigen.
Doch ich berühre die Bilder an der Wand
Und wärme mich am Kamin. Was für ein Wunder!
Inmitten von all dem Schimmel, Ruß und Moder
Das grüne Funkeln von Smaragden.
Der Kater miaute. Laß uns nach Hause gehen!
Aber wo ist mein Haus? Und wo ist mein Verstand?
Ich erinnerte Anna Andrejewna, wie wir einmal in Taschkent zusammen das Ehepaar Tolstoi besuchten; nach dem Abendbrot bat Alexej Nikolajewitsch Achmatowa, etwas vorzutragen; sie weigerte sich, wußte nicht recht, was sie auswählen sollte, und fragte mich schließlich mißmutig: „Was meinen Sie, Lydia Kornejewna, was soll ich sprechen?“ Ich riet zum „Keller der Erinnerung“. Sie trug es vor. Plötzlich fiel Tolstoi über mich her: „Warum bringen Sie sie auf solche Gedanken? Es hat doch gar keinen Zweck, immer wieder darauf zurückzukommen!“…
„Sehen Sie, Sie erinnern sich an jeden Unsinn, aber die ersten beiden Zeilen – die haben Sie vergessen“, sagte Anna Andrejewna mit kläglicher Stimme.
20. Januar 1954
Wieder bei Anna Andrejewna. Sie rekonstruiert und schreibt alte Gedichte auf. Wunderbar! „Der Keller der Erinnerung“ steht bereits auf dem Papier. Sie nahm das Manuskript aus dem Köfferchen und zeigte es mir. Aber die ersten beiden Reime fehlten immer noch.
„Wie verhext!“ klagte Anna Andrejewna. „Es wäre überhaupt keine Affäre, neue zu erfinden, aber das will ich nicht.“
21. Januar 1955
Plötzlich, mitten im Gespräch, öffnete sie mit einer raschen Bewegung das Köfferchen, entnahm ihm ein Blatt Papier und legte es vor mich auf den Tisch. Ich las:
Aber es ist der bare Unsinn, daß ich in Trauer lebe
Und daß Erinnerungen an mir nagen…
„Erkennen Sie es?“ fragte Anna Andrejewna und sah mich durchdringend an. Ich erkannte die ersten Zeilen aus dem „Keller der Erinnerung“.
Jetzt war Der Keller vollständig wiederhergestellt… (Lydia Tschukowskaja)
Die Manuskripte Achmatowas aus den fünfziger Jahren sind voller Leerzeilen, Pünktchen und Fragezeichen. Das sind nicht die üblichen Entwürfe, an denen man den Entstehungsprozeß der Gedichte ablesen kann, sondern Stationen ihrer qualvollen Wiedergeburt. Ungeachtet dessen, daß die „Muse taub wurde, blind und ein Samenkorn, das in der Erde sein Leben ließ“, erwies sich das Wort stärker als das Vergessen.
Es rostet Gold, und es verwest der Stahl,
Der Marmor bröckelt, alles ist bereit zu sterben.
Die Trauer ist Das dauerhafteste auf Erden,
Am längsten währt das königliche Wort.
Aber auch nachdem Achmatowa sich entschlossen hatte ihre Gedichte endlich aufzuschreiben, konnte sie sich bis zu ihrem Tode nicht von der Angst befreien, observiert zu werden, von einer Angst, die sie einst gezwungen hatte, ihre Gedichte im „Keller der Erinnerung“ zu verstecken.
Ich fragte sie, ob ihre Gedichte endlich zusammengetragen seien und zu Hause wären. Sind alle aufgeschrieben?
Was nun folgte, war kein Monolog, sondern eine Explosion.
„Ob ich meine Gedichte aufschreibe? Und das fragen Sie? Sie?!“ Sie trat an den Schemel, auf dem ihr Köfferchen stand, und warf wütend Manuskripte, Bücher, Hefte, Mappen und Notizblöcke auf die Couch. „Wie soll ich sie aufschreiben? Wie kann ich meine Gedichte sammeln? Mit einem Rasiermesser haben sie die Einbände von den Heften und den Büchern aufgeschlitzt! Hier, sehen Sie doch! Sie reißen an den Mappen die Bänder ab! Inzwischen bin ich in der Lage, eine ganze Sammlung abgerissener Bänder und aufgeschlitzter Buchrücken zu bieten. Das ist hier nicht anders als in Leningrad!!. (Lydia Tschukowskaja)
Manche Leute glaubten, Achmatowas Angst sei grundlos. Selbst wenn dies tatsächlich so gewesen wäre – man muß bedenken, daß diese Angst ganzen Generationen im Blute lag und kaum überwindbar war. Bis auf den heutigen Tag ist es nicht gelungen, Achmatowas Mißtrauen stichhaltig zu widerlegen. Auf eine diesbezügliche Nachfrage des zum 100. Geburtstag der Dichterin gegründeten Anna-Achmatowa-Museums erfolgte die Auskunft des Leningrader KGB, daß eine Achmatowa-Akte nicht vorgelegen habe. Aber General Kalugin, ehedem leitend in dieser Institution, sagte in einem Zeitungsinterview, daß er die Akte selbst gesehen habe und daß sie erst mit dem Tod Achmatowas archiviert worden sei.
Ab Mitte der fünfziger Jahre bis zu Achmatowas Tod sind viele Hoffnungen, die Chruschtschows Rede geweckt hatte, bloße Hoffnungen geblieben. Anna Andrejewna sagte dazu: „Offensichtlich ist die Grenze des Erlaubten auf der neuen ideologischen Karte mit außerordentlicher Deutlichkeit gezogen. Und sie wird streng bewacht, obwohl niemand weiß, wo sie verläuft. Wenn jeder von uns seine Schlüsse aus der Chruschtschow-Rede zieht und sie durch die eigenen Überlegungen und die eigene Erfahrung ergänzt – dann ist das Unglück da.“ (Lydia Tschukowskaja).
Der Auftritt von Olga Berggolz bei einem Schriftstellertreffen war das beste Beispiel dafür. Sie kritisierte die Rede Schdanows und die Beschlüsse über Achmatowa und Soschtschenko.
Stürmischer Beifall im Saal, aber kurz darauf wurde Olga Fjodorowna auf allen Parteiversammlungen in Leningrad und in Moskau selbst kritisch durchleuchtet. Der Beschluß von 1946 blieb, wie sich herausstellte, in Kraft. (Lydia Tschukowskaja)
Dennoch rückte die „Grenze des Erlaubten“, wenn auch langsam, so doch unaufhaltsam vor. Zunächst hinsichtlich Übersetzungen. Bereits Anfang der fünfziger Jahre kamen die ersten Verlagsangebote. Achmatowa verdiente ihr Brot mit Übersetzungen. Die Übersetzungen waren für sie absolute Notwendigkeit, eine „schreckliche Arbeit, die auszehrt, austrocknet und die eigenen Gedichte verscheucht“, wie sie einmal sagte. Aber auch diese lästige „Arbeit“ war für sie eine dichterische Herausforderung. Nika Glen erinnert sich an die Worte Achmatowas anläßlich ihrer Hugo-Übersetzung:
Man hört überall: Achmatowa und Hugo – das ist unvereinbar. Dabei muß man gerade unähnliche Dichter übersetzen, dann kommt etwas Rechtes dabei heraus. Die Hagerup zum Beispiel ist mir ähnlich, und wenn ich die Hagerup übersetze, so ist das eine Art Selbstverdauung, widerlich!
Der Traum, den Anna Achmatowa eines Tages Michail Ardow erzählte, verdeutlicht, daß das Übersetzen für sie zum Alpdruck geworden war, aber gleichzeitig kann er auch als Symbol für die künstlerischen Aspekte des Übersetzens verstanden werden.
Ich träumte, ich müßte ein langes Hugo-Gedicht übersetzen. Es war sehr schwierig. Dieses Gedicht hatte er aber gar nicht geschrieben, so mußte ich es zuerst französisch verfassen.
Kein Forscher könnte mit Sicherheit behaupten, inwieweit das Übersetzen für Achmatowa ein schöpferischer Prozeß oder bloßes Handwerk war. Ihr eigenes Urteil klingt eindeutig:
… Ich bitte darum, die Übersetzungen niemals, auch nicht nach meinem Tode, zu vervielfältigen und sie unter keinen Umständen in meine Bücher aufzunehmen.
Der erste Band der drei in den fünfziger und sechziger Jahren erschienenen Ausgaben bestand dennoch zur Hälfte aus Übersetzungen. Die Geschichte des Zustandekommens des Bandes Ausgewählte Gedichte, der 1958 erschien, umfaßt fünf Jahre. Erste Hoffnungen, die ihn ankündigten, leuchteten gleich nach Stalins Tod 1953 ganz kurz am Horizont auf. Am 17. Dezember schreibt Lydia Tschukowskaja in ihr Tagebuch:
Großartige Neuigkeiten: Die einbändige Ausgabe in Sicht! Und zwar sehr bald! Und die Lyrik ist nicht nur von 1946 ab, sondern auch von früher zugelassen! In ihrer eigenen Zusammenstellung! Und der Verlag trägt sie auf Händen – sie schickten einen Wagen, um sie abzuholen! Und Surkow hat den geplanten Band offiziell angekündigt, vor einer großen Versammlung; es sieht ganz so aus, als sei es ernst gemeint.
Die Frage nach der Entstehungszeit der in den Band aufgenommenen Gedichte hatte tatsächlich prinzipielle Bedeutung. Die Herausgeber versuchten zu beweisen, daß Achmatowa den Parteibeschluß ernst genommen und sich dem „sozialen Auftrag“ gestellt habe, was durch ihr Gedicht „Preislied auf den Frieden“ bestätigt wird. Doch es dauerte fünf Jahre, bis der Leser diese Gedichte in dem neuen Sammelband lesen konnte. Wie unangenehm dies für Achmatowa war, erkennt man an dem Zorn, der sie bei der Vorbereitung des nächsten Sammelbandes 1960 übermannte.
Eines Tages erschien Maria Sergejewna Petrowych mit einer Liste von Gedichten, die Kosmin für den Band ausgewählt hatte. Anna Andrejewna warf einen flüchtigen Blick darauf, faltete das Blatt dann zusammen, zog mit dem Nagel den Knick nach, riß es entzwei und begann, in einer Art kalter Wut das Papier in Stücke zu reißen. „Nein, das wird es nicht geben. Das lasse ich nicht zu.“ Und riß dabei das Papier in immer kleinere Fetzen. (Lydia Tschukowskaja)
1953 ging es nur um die genehmigten Gedichte nach 1946 und eine Auswahl früher Liebeslyrik, aber auch so war das Buch damals nicht zu retten.
1954. Achmatowa bemerkte gegenüber Tschukowskaja:
Das einzig Positive, das mir in diesem Jahr widerfahren ist, besteht darin, daß mein Buch nicht erschienen ist. Sie und etwa zehn Leser, die alles, was ich geschrieben habe, kennen, hätten auch dieses Buch geliebt und alle leeren Stellen aus dem Gedächtnis ergänzt. Aber die anderen, die zum ersten Mal… grenzenlose Enttäuschung, grenzenlos… Und sie hätten recht gehabt: „Es gibt so viel Unglück, so viel ist geschehen, und die sitzt immer noch in ihrem Sumpf und sinniert über ihr Liebesleben und ihre langen Zöpfe.“
Ende 1955 lebten die Gerüchte über die Ausgabe wieder auf. „Und Sie glauben daran!“ fragte sie mich. „Es ist alles möglich“, antwortete ich. „Nein, es ist nicht alles möglich, jedenfalls nicht mit mir.“ (Lydia Tschukowskaja)
Indessen tauchte Achmatowas Name im Sommer 1956 immer wieder in der Literaturnaja gaseta auf, in einem wohlwollenden oder doch neutralen Ton, obwohl der „Beschluß“ nicht außer Kraft gesetzt worden war. Der Gedichteband war offiziell in den Plan des Verlags Sowjetski pissatel aufgenommen worden. Auf die Auswahl für diesen Band hatte Achmatowa keinen Einfluß. Alexej Surkow, ein Dichter, der zum einflußreichen Literaturfunktionär avanciert war, aber Achmatowas Lyrik liebte und kannte, versuchte um den Preis von Kompromiß und Entgegenkommen gegenüber der Zensur, einen Achmatowa-Band zu veröffentlichen und ihren Namen in die Welt der Literatur zurückzuführen. Er war es, der den Sammelband zusammengestellt hatte. Achmatowa selbst durfte sich darüber „Gedanken machen“ und den Band lektorieren. Aber auch das nur mit äußerster Vorsicht. Auch sie mußte bei dem Buch und den gelegentlich in verschiedenen Zeitschriften publizierten Gedichten stets den Gesichtspunkt der Unverfänglichkeit im Auge behalten – ob die Zensur dazu wohl etwas zu sagen hätte oder nicht.
Das Unvorstellbare entzieht sich unserer Einbildungskraft wie auch unserer Vernunft – und sogar der Vernunft und der Einbildungskraft einer Anna Achmatowa. Die Auswahl stand unter dem Motto: „Die Grenze wird streng bewacht, obwohl niemand weiß, wo sie verläuft.“ (Lydia Tschukowskaja)
Das Warten auf ein Gespräch mit Surkow wurde für Achmatowa mehr und mehr zu einem „Alptraum, einem Spuk, obwohl allgemein bekannt ist, daß in der Verlagsvorschau das Buch Achmatowas einen festen Platz hat. Vielleicht wollen sie das Buch ohne Mitwirkung der Autorin erscheinen lassen? Auch das ist möglich. Es ist alles möglich. Anna Andrejewna glaubt, daß es eine trügerische Hoffnung war und daß jetzt alles wieder zu Ende ist. „Und das ist gut, sehr gut“, sagt sie. [Lydia Tschukowskaja)
Das Buch, das 1958 endlich erschienen war, brachte keine Entspannung. Bevor Achmatowa es an ihre Freunde verschenkte, überklebte sie die ihr verhaßten Gedichte und klebte statt dessen andere ein. Solche Klebekorrekturen sind charakteristisch für alle Bücher, die durch ihre Hände gegangen waren, nicht nur für die Exemplare dieser, sondern auch die aller anderen Ausgaben. Aber natürlich änderten sie nichts an der Sache, denn der normale Leser hatte nur das vor Augen, was der Band enthielt. Anna Andrejewna gab Surkow keine Schuld und sagte:
Offensichtlich geht es nicht anders.
Aber sie hielt diesen lang ersehnten Band, den ersten nach einer fünfzehnjährigen Pause, für „eine der schlimmsten Grausamkeiten“.
Das Buch gibt nichts von mir wieder, gar nichts.
Aber auch nach dem nächsten, 1961 erschienenen Sammelband Gedichte 1909–1960 sollte Achmatowa sagen:
Das ist das dritte Buch, das eine falsche Vorstellung von seiner Autorin vermittelt: mein drittes schlechtes Buch. Das Taschkent-Buch ist schlecht, das ,Rote‘ schlecht, und jetzt erscheint am Horizont das dritte schlechte.
Aber auch bei diesem Buch gab es die üblichen Aufregungen, würde es erscheinen oder nicht? Die üblichen Versuche zu erraten, vorauszusehen, was der Zensur standhielte und was nicht, und der übliche Widerstand der Redaktion: „Die Auswahl der Gedichte in Achmatowas Buch ist unbefriedigend“, obwohl sie in diesem Sammelband sich fast ausschließlich auf bereits in der Presse veröffentlichte Gedichte beschränkte.
Das Schicksal der Bücher von Anna Achmatowa ist in höchstem Maße monoton: Eigentlich ist es immer ein und dieselbe üble Geschichte. (Lydia Tschukowskaja)
Die Auswahl war im Vergleich zu dem vorhergehenden Band wesentlich erweitert worden.
Ich sagte, daß das Buch durch die neuen Gedichte, die früher in verschiedenen Zeitschriften verstreut waren und die jetzt zum ersten Mal zusammenstehen, sehr gewonnen habe. Mit den früheren zusammen üben sie eine sehr starke Wirkung aus. Cinque, Berufsgeheimnisse, Nördliche Elegien. (Lydia Tschukowskaja)
Das stimmt. Aber das verbrannte Heft, selbst wenn die darin enthaltenen Gedichte rekonstruiert wurden, selbst wenn neue dazukamen, das verbrannte Heft war und blieb Das verbrannte Heft – Symbol des poetischen Schicksals Achmatowas.
DAS VERBRANNTE HEFT
Schon ziert das Bücherbord
Die wohlgeratene Schwester,
Und über dir der Sternenwelten Splitter
Und unter dir die Glut der Feuerstelle.
Wie flehtest du, wie liebtest du das Leben,
Wie groß war deine Angst vor dem verzehrenden Feuer!
Doch plötzlich bebtest du am ganzen Leib,
Und deine Stimme fluchte mir, entschwindend.
Und plötzlich rauschten alle Kiefern
Und spiegelten sich
Im Schoß der Mondenwasser.
Und um den Scheiterhaufen tanzten schon
Die hochgeweihten Frühlingsopfer ihren Totenreigen.
1961
Die „wohlgeratene Schwester“ war allerdings für Achmatowa durchaus nicht wohlgeraten. Sie vermißte nicht nur die ausgelassenen Gedichte, sondern ihr mißfiel das von dem unvermeidlichen Surkow verfaßte Nachwort, das demselben Ziel diente: Das Buch sollte um jeden Preis erscheinen.
Gestern hat jemand Anna Andrejewna für kurze Zeit das inzwischen von Surkow verfaßte Nachwort gebracht. Anna Andrejewna war bis dahin überzeugt, daß Surkow „etwas matt Wohlwollendes“ schreiben würde. Und nun hat er, wie sie behauptet, eine Nacherzählung der Ausführungen des hochwohllöblichen Andrej Alexandrowitsch4 geliefert.“ (Lydia Tschukowskaja)
Damit beschwor er die erniedrigende Vergangenheit, deren Tragik ohnehin in der Lyrik Achmatowas nicht zu überhören ist.
… Soeben las ich meine Gedichte (eine ziemlich gesiebte Auswahl). Sie kamen mir unwahrscheinlich hart, nackt und wie Bettler vor, aber in ihnen ist keine Spur von Klage, Selbstmitleid und anderen unerträglichen Dingen. Doch keiner braucht sie… Sie können dem Leser nichts geben. Sie sind wie die Gedichte eines Mannes, der zwanzig Jahre hinter Schloß und Riegel verbrachte. Man hat Ehrfurcht vor einem solchen Schicksal, aber in ihnen lebt nichts, was einen weiterbringt. Sie trösten nicht, sind aber nicht so vollkommen, daß man sich in sie verliebte, und man darf ihnen, meiner Meinung nach, nicht nachfolgen. Und dann diese strenge, kohlpechrabenschwarze Stimme, kein einziger Lichtblick, kein Sonnenstrahl, nichts… (Aus: „Kohle auf Teer“)
Auf den ersten Blick stimmen diese Reflexionen paradoxerweise mit dem Urteil überein, das die Partei über ihre Gedichte fällte: „Sie können dem Leser nichts geben“, „man lernt nichts daraus“. Das waren die Vorwürfe, derentwegen sie verfolgt wurde. Aber ausgerechnet wegen dieser „Kerkerjahre“, dieser „Kerkergedichte“ wurde jetzt Achmatowas Schicksal heroisch stilisiert. Heute wird darüber oft gesprochen und die Poesie und die Politik zu einem einzigen, undefinierbaren Ganzen vermengt. Aber das Leidvolle in ihren Reflexionen lag gerade darin, daß sie zwischen Poesie und Politik einen deutlichen Trennungsstrich zog. Sie wehrte sich gegen ein politisch determiniertes Schicksal. Sie wünschte sich die Biographie ihres Werks, die Biographie eines Dichters. Sie reagierte sehr abweisend auf Komplimente wegen der Kühnheit und des Muts des wiedererweckten Requiems – „es sind trotz allem Gedichte und keine Zeitdokumente“. Sie suchte einen Leser für ihre Gedichte und nicht einen Freund politischer Anspielungen. An Anatoli Naiman schreibt sie:
Ich bin davon überzeugt, daß das Gedicht heute überhaupt keine Leser mehr hat. Es gibt Menschen, die sie abschreiben, und es gibt Menschen, die sie auswendig lernen. Zettel mit Gedichten trägt man unter dem Hemd, Gedichte werden ins Ohr geflüstert, nicht ohne vorher das Ehrenwort abzunehmen, sie im nächsten Moment für immer zu vergessen. Usw. Gedruckte Gedichte verursachen schon durch ihr bloßes Aussehen Gähnen und Übelkeit. Die Menschen sind mit schlechten Gedichten überfüttert. Die Lyrik hat sich nach und nach in ihr eigenes Gegenteil verwandelt. „Statt mit dem Wort die Herzen der Menschen zu versengen“,5 verbreiten gereimte Zeilen die elendste Langeweile.
Zu ihrer größten Überraschung entdeckt Achmatowa, die so lange auf die Möglichkeit einer Veröffentlichung gewartet hatte, in den sechziger Jahren, daß die bloße Tatsache der Publikation in den Augen des Lesers das Gedicht mit einemmal versieht.
Der Staat, der dreißig Jahre lang die Menschen gelehrt hatte, daß nur die Lüge gedruckt werden darf, zwang sie dazu, einen Ausweg zu suchen und sich auf der Suche nach der Wahrheit auf Schreibmaschine und Kohlepapier zurückzuziehen. Dies meint Achmatowa, wenn sie von „Abschreiben“ und „Auswendiglernen“ spricht. Nadeschda Mandelstam zum Beispiel betrachtete den Samisdat als einen Segen für das poetische Werk Mandelstams – „nun wird er wenigstens nicht sterben“ – und freute sich, daß sie in der „Epoche vor Gutenberg“ lebte. Die Haltung Achmatowas gegenüber dem Samisdat war nicht ganz so positiv. Obwohl sie einsah, daß jeder – selbst dieser – Weg zum Leser besser ist als das dumpfe Schweigen, fühlte sie gleichzeitig seine potentiellen Gefahren. „Verbotene Früchte sind süß“, sagt ein Sprichwort. Der Reiz des Verbotenen würde ihrer Meinung nach die hohen Forderungen an das poetische Wort außer Kraft setzen und den Geschmack des Lesers verderben müssen.
Dennoch fanden auch ihre Gedichte über den Samisdat in die Welt. Siebenundzwanzig Jahre lang wurde das Requiem in Rußland ausschließlich in – häufig schlecht lesbaren – Abschriften verbreitet.
Doch zunächst soll von seiner zweiten Geburt die Rede sein, davon, wie Achmatowa 1962 den Mut fand, die Gedichte fast ein Vierteljahrhundert nach ihrer Entstehung auf dem Papier festzuhalten. Nika Glen, eine junge Bekannte Anna Achmatowas, in deren Gemeinschaftswohnung in der Sadowo-Karetny-Gasse sie im Winter 1962 wohnte, schreibt:
Das wichtigste Ereignis jener Monate, die Anna Andrejewna bei uns verbrachte, wird für die ,Achmatologen‘ wohl die Befreiung des Requiems aus seinem ,Verlies‘ sein. Leider habe ich mir damals nichts aufgeschrieben und erinnere mich nur in ganz groben Zügen: daß Anna Andrejewna sehr erregt war und daß ich, während ich diese bedeutenden Verse mit der Maschine abschrieb, mir der Tragweite des Augenblicks bewußt war – der gesamte Text des Requiems wurde zum ersten Mal aus dem menschlichen Gedächtnis entlassen (nur Achmatowa und einige wenige ihrer nächsten Freunde kannten ihn auswendig) und dem Papier anvertraut.
Dieser große Entschluß konnte erst gefaßt werden, nachdem die Angst vor der geheimen Observation überwunden war, die Achmatowa veranlaßt hatte, das Köfferchen mit den Manuskripten überallhin mitzunehmen. Sie wußte, ihre Gedichte haben ein selbständiges, von ihr unabhängiges Leben. Indem sie sie aufschrieb, entließ sie sie bewußt in die Freiheit. Über die näheren Umstände dieses Ereignisses berichtet Michail Ardow:
Ich hatte mich vor Anna Achmatowa schuldig gemacht, aber sie vergab mir noch zu ihren Lebzeiten. Diese Schuld besteht darin, daß ich zur Verbreitung des Requiems durch Kopien den Anstoß gegeben habe.
Anfang der sechziger Jahre hatte sich Anna Andrejewna endlich entschlossen, die Gedichte aufzuschreiben, die, nach ihren eigenen Worten „auf dem Grund ihrer Erinnerung lagern“. Ich hatte schon früher einige Gedichte dieses Zyklus von ihr selbst vorgetragen gehört, aber es war mir nie gelungen, auch nur ein einziges im Wortlaut zu behalten.
Nachdem Anna Andrejewna das Requiem niedergeschrieben hatte, verbot sie kategorisch, es abzuschreiben, erlaubte aber gelegentlich, in ihrem eigenen Exemplar in einem Nebenzimmer zu lesen. Einmal, als sie unerwarteten Besuch bekam, bat ich sie um die Gedichte und schrieb sie ab, während sie sich mit ihrem Gast unterhielt.
Mein Lehrer, Professor Sapadow, ein großer Verehrer Achmatowas, schrieb das Requiem von meiner Kopie ab. Wenige Tage später erschien bei Anna Andrejewna der Chefredakteur des Verlages Sowjetski pissatel, W. Fogelson. Als Achmatowa ihm die Gedichte zeigte, sagte er, daß er sie bereits kenne und sie bei Sapadow gesehen habe. Anna Andrejewna war sofort im Bilde, auf welche Weise das Requiem zu Professor Sapadow gelangt sein mußte.
Nachdem Fogelson sich verabschiedet hatte, fand zwischen uns eine Aussprache statt, eine verhältnismäßig kurze und unkomplizierte, da Anna Andrejewna inzwischen selbst dazu neigte, diese Gedichte irgendeiner Zeitschrift vorzulegen. Und so wurde das Requiem unmittelbar darauf an Nowy mir geschickt. Dort wagte man nicht, den Zyklus zu veröffentlichen, aber alle Mitarbeiter schrieben ihn für den eigenen Gebrauch ab.
Wie zu erwarten war, erschien das Requiem bald darauf in mehreren Städten Westeuropas. Anna Andrejewna bekam ein Exemplar der Münchener Ausgabe zugesandt, und jedesmal, wenn sie in meiner Gegenwart diesen Band in die Hand nahm, zitierte sie Soschtschenko: „Minkas Werk“. In das Exemplar des Requiems, das sie mir schenkte, schrieb Anna Andrejewna folgende Widmung: „Für Michail Ardow – Gedichte, die fast ein Vierteljahrhundert auf dem Grund meiner Erinnerung lagen, damit er jenes Tages gedenke, an dem sie Allgemeingut wurden. 19. August 1964, Komarowo.“
Michail Ardows Bericht über die Veröffentlichung des Requiems klingt wie eine optimistische Geschichte mit Happy-End. Das liegt wohl an seiner Jugend, die noch dazu in die damalige Periode großer politischer Hoffnungen fiel. Ganz anders klingt dieselbe Geschichte aus dem Mund eines Mannes, der etwas jünger als Achmatowa und ehemaliger Insasse eines Lagers war – des Literaturwissenschaftlers Julian Oksman. Audiatur et altern pars: 1962.
Sonderbar war Anna Andrejewnas Wunsch, das Requiem ungekürzt in ihrem neuen Gedichtband zu veröffentlichen. Mit äußerster Mühe gelang es mir, sie davon zu überzeugen, daß diese Gedichte vorläufig unter keinen Umständen erscheinen dürften… Ihr Pathos läßt den Kampf gegen den Personenkult weit hinter sich, der Protest erreicht einen Gipfel, auf dem sie niemand gerne sehen würde. Ich überzeugte sie davon, die Gedichte nicht einmal den Lektoren vorzulegen. Wenn sie ihren Vorgesetzten über das Requiem berichteten, würden sie möglicherweise die Herausgabe des ganzen Buches gefährden. Sie widersprach mir und behauptete, daß die Novelle von Solschenizyn und die Stalin-Gedichte von Boris Sluzki das stalinistische Rußland empfindlicher träfen als ihr Requiem.
Wir schreiben das Jahr 1963.
In Nowy mir und Snamja wurden ihre Gedichte veröffentlicht.
Obwohl sie die Auszüge aus dem Poem ablehnten, nahmen beide Zeitschriften ihre tragischen Gedichte aus den letzten Jahren sehr gern an. Nun wartete Anna Andrejewna auf eine Antwort aus der Redaktion der Zeitschrift Moskwa, wo man ihr Poem gerade prüfte. Ungeachtet aller meiner Argumente schickte Anna Andrejewna das Requiem an Nowy mir… Sie versicherte, daß sie es nur deshalb getan hätte, weil das Requiem bereits von Hand zu Hand ginge, auf diese Weise ins Ausland geriete usw. Und deshalb sei sie gezwungen zu demonstrieren, daß sie diesen Zyklus keinesfalls für illegal halte.
Die Argumente von Oksman waren von der Angst diktiert, aber es war dieselbe Angst, die Achmatowa zum Handeln gezwungen hatte – die Umstände der Veröffentlichung von Pasternaks Doktor Schiwago in Italien, die zu einer bis zu seinem Tod dauernden Hetzkampagne gegen den Dichter geführt hatten, waren unvergessen. Und wer konnte schon wissen, wo die Grenze zwischen Angst, Hoffnung und dem Wunsch, diese Gedichte veröffentlicht zu sehen, verlief. Das Requiem war inzwischen tatsächlich im Westen erschienen, in München, 1963, „ohne Wissen und Genehmigung der Autorin“. Glücklicherweise blieben Achmatowa tragische Folgen erspart. In der Sowjetunion mußte das Requiem weitere siebenundzwanzig Jahre auf seine Veröffentlichung warten – weder eine Zeitschrift noch der Verlag nahm es in den nächsten, letzten Sammelband auf. Diesem Zyklus widerfuhr das gleiche Schicksal wie allen Werken von Achmatowa. Die unzähligen Wiederholungen verwandelten das Drama in eine Farce.
Bei einer Begegnung mit Prokofjew6 sprach ihn Sanja (Alexander Gitowitsch, ein Dichter, Achmatowas Freund und Nachbar – J. K.) wieder einmal wegen einer neuen Achmatowa-Ausgabe an. Prokofjew hörte ihm mit gerunzelter Stirn zu und murmelte desinteressiert in den Bart: „Ja, ja, ja. Wie alt wird sie eigentlich? Wenn sie doch ein rundes Datum hätte, dann wäre es etwas anderes. Dann hätten wir einen Grund. Aber einfach so, ohne besonderen Anlaß, wird es nicht gehen, das Buch kommt nicht durch.“
Als Achmatowa von diesem Gespräch mit dem Chef hörte, sagte sie mit einem traurigen Lächeln: „Ach ja, diese Achmatowa! Dieses kokette Frauenzimmer! In Wirklichkeit ist sie hundert, aber sie will es nicht zugeben, und deshalb werden ihre Bücher nicht verlegt“. (S. Gitowitsch)
Aber bis zu einem „runden Datum“ sollte es nicht mehr lange dauern. 1964 wurde Achmatowa fünfundsiebzig Jahre alt. Anläßlich des Geburtstages sollte in Leningrad jener Band erscheinen, den Achmatowa bereits 1962 zusammengestellt hatte. Es sollte ein wirklich neues Buch werden und nicht nur eine traditionelle Zusammenstellung aus alten Sammelbänden. Der Titel: Der Lauf der Zeit, mit dem Untertitel „Anna Achmatowas Siebter Gedichtband“. Der neue Band sollte auch das Requiem enthalten. Aber dieser Plan fiel ins Wasser. Die Auswahl wurde nach denselben Prinzipien getroffen wie früher. Das Requiem kam nicht durch. Alles blieb beim alten. Von dem ursprünglichen Plan blieb nur der Titel.
Der Lauf der Zeit war kaum ausgeliefert, als sie schon mehrere Exemplare täglich signieren mußte. In dem Band fehlte eine große Anzahl wichtiger Gedichte, die gedruckt zu sehen sie bis zuletzt gehofft hatte, und ein bitterer Beigeschmack war deutlich in ihren Dankesworten zu spüren, mit denen sie die Komplimente entgegennahm. Obwohl sie überzeugt war, daß sie eines Tages erscheinen würden, sehnte sie diesen Tag herbei, solange sie noch lebte und auch solange die Gedichte selbst noch lebten, noch „ungezähmt, mit Hörnern, Hufen und einem Schwanz“, und nicht als eine heilige, aber vor allem eßbare Kuh, geformt aus einer Art Hackfleisch, das der Herausgeber durch den Fleischwolf seiner eigenen Zeit gedreht hat. (Anatoli Naiman)
Die Bitterkeit angesichts dieses Buches war die Bitterkeit angesichts der entschwindenden Zeit.
Was Krieg, was Pest? – ihr Ende ist bereits beschlossen.
Das Urteil über sie ist fast gefällt.
Aber wer will uns vor dem Entsetzen schützen, dem einst
Der Name ,Lauf der Zeit‘ gegeben ward?
1961
Ihre Zeit war noch nicht abgelaufen, aber der letzte Dichter ihrer Generation war gegangen. Am 3. Juli 1960 wurde Boris Leonidowitsch Pasternak zu Grabe getragen.
Niemand sprach über seinem Grab das Wort, nach dem die Kiefern, die Menschen und die Felder dürsteten. Aber bis zum Einbruch der Dunkelheit rezitierten Studenten seine Gedichte. Das war wahrscheinlich das einzig richtige Wort. Die Menge war von Spitzeln durchsetzt.
Aber der Sarg wurde vom Haus bis zum Grabe getragen, über die Chaussee den Berg hinauf zu den drei Kiefern. Entlang der Straße, von Anfang bis zum Ende, standen an den Zäunen schweigende Menschen, Männer, die Mütze in der Hand, Frauen mit übergeworfenen Kopftüchern. Die entgegenkommenden Autos mußten anhalten, rückwärts ausweichen, dem Sarg Platz machen, aber sie wagten nicht, uns durch Hupen zur Eile anzutreiben.
Die Menge bewegte sich schweigend, feierlich, im Bewußtsein ihres Rechts. (Lydia Tschukowskaja)
Wie die Tochter des geblendeten Ödipus
Führte die Muse den Seher zum Tod,
Und nur eine einzige närrische Linde
Stand in Blüte in diesem Trauer-Mai,
Genau gegenüber dem Fenster, vor dem er
Einst mir gestand, daß ein Weg
Sich schlängelt vor ihm, geflügelt und golden,
Auf dem er beschirmt ist vom Willen des Allerhöchsten.
11. Juni 1960, Moskau, Botkin-Krankenhaus
Als Pasternak beerdigt werden sollte, befand sich Achmatowa im Krankenhaus. Ich besuchte sie am Tag nach der Beerdigung. Sie kam aus dem Krankensaal zu mir in den Korridor, und wir fanden einen Platz, wo wir uns unterhalten konnten. Achmatowa hörte sich meinen Bericht über die Beerdigung an und sagte: ,Ich habe das Gefühl, als sei es eine Feier gewesen, ein hoher, religiöser Festtag. So war es auch, als Blok starb. (W. Iwanow)
Ebenso wie 1921 weckte der Hingang Pasternaks in Achmatowa die deutliche Empfindung einer Endzeit. Aber jetzt war es nicht nur die Empfindung vom Ende einer Epoche, sondern auch vom Ende ihrer eigenen Lebenszeit. Das Gedicht „Wir sind zu viert…“, in dem sie Mandelstam, Pasternak, Zwetajewa und sich selbst als Einheit sieht, wurde später in den Zyklus „Ein Kranz für die Toten“ aufgenommen.
Wir sind alle beim Leben ein wenig zu Gast,
Leben – das ist nichts als Gewohnheit.
Über Pasternak pflegte Achmatowa zu sagen, er werde wahrscheinlich beim Jüngsten Gericht neben ihr stehen.
Es ist kaum möglich, die Frage nach den Beziehungen, der inneren Verwandtschaft, der künstlerischen und menschlichen Nähe dieser beiden Dichter eindeutig zu beantworten. Aber im Wechsel von Anziehen und Abstoßen garantierte das ständige Wissen von der Existenz des anderen eine verläßliche Kontinuität. Sie blieb bestehen – trotz des Vorwurfs Achmatowas, Pasternak kenne ihre Gedichte nicht, trotz ihrer Ablehnung des Romans Doktor Schiwago, in dem sie nur die Naturbeschreibungen gelten ließ, und trotz eines gewissen Neids auf sein Schicksal, das Achmatowa für glücklich hielt.
Als ich sie zum ersten Mal nach der Beerdigung besuchte, war sie noch von Trauer erfüllt. Für andere Gefühle gab es einfach keinen Platz. Inzwischen ist die erste Erschütterung vorüber, und sie spricht über Boris Leonidowitsch zwar liebevoll, aber ebenso gereizt wie in all den letzten Jahren. Sie ist wieder nicht nur voll Mitgefühl, sondern ebenso voll Widerspruch, streitsüchtig und zornig.
„Dieser Tage habe ich mich wegen Pasternak mit einem meiner Freunde überworfen. Stellen Sie sich vor, er kam auf die Idee zu behaupten, Boris Leonidowitsch sei ein Märtyrer gewesen, verfolgt, gehetzt und so weiter. Was für ein Unsinn! Boris Leonidowitsch war ein außerordentlich glücklicher Mensch!“ (Lydia Tschukowskaja)
Aber auch wenn Achmatowa sich ereiferte, spürte man jederzeit, daß die beiden Zeitgenossen, von äußeren biographischen Unterschieden abgesehen, auch Schicksalsgenossen waren.
Alles hier ist dein, du hast das Anrecht,
Gleich Wänden strömt der dichte Regen,
Gönn anderen den Tand der Welt – den Ruhm,
Geh in dein Haus und höre auf zu warten.
Das ist der Entwurf eines Gedichts, das Achmatowa Pasternak 1947 gewidmet hat.
Plötzlich machte Anna Andrejewna mich stumm vor Staunen. „Ein Freund war da und brachte mir dies.“ Und sie streckte mir ein Blatt entgegen. „Sehen Sie.“ Es war das komplette Gedicht an Pasternak:
Und wieder dringt der Herbst wie Tamerlan hier ein.
In den Gassen am Arbat herrscht Stille.
Hinter der Bahnstation oder im Nebel
Liegt schwarz der Weg, der unbefahrbar ist.
Da ist er, er, der letzte! Die Wut
Hat sich gelegt. Nun ist es so, als sei die Welt ertaubt…
Das Alter kraftvoll, evangelisch,
Und jenes bittre Aufseufzen von Gethsemane.
Aber, dachte ich, das Aufseufzen im Garten Gethsemane ist das Seufzen vor Golgotha. Was bestreitet sie eigentlich? Sie hat doch selbst eingesehen, daß er ein Märtyrer war. Sie hat es mehr als eingesehen – sie hat es vorausgeahnt. (Lydia Tschukowskaja)
Vielleicht hatte das Schicksal es in der Tat mit Pasternak in jenen Jahren gut gemeint, während es Achmatowa ein gerüttelt Maß Unglück und Leid bescherte. Seine Tragödie fiel in eine Zeit, in der die Biographie Achmatowas relativ glücklich genannt werden kann.
19211 nach dem Tod Bloks und der Hinrichtung Gumiljows, verbreitete sich sogleich das Gerücht, sie sei ebenfalls gestorben – 1958 war die Angst um Achmatowa eine direkte Folge der Kampagne gegen Pasternak.
Am 25. Oktober 1958 bestellte mich Anna Andrejewna in die Krasnaja Konniza. „Soja, es muß etwas passiert sein. Ich bin schon einige Male aus Moskau angerufen und gefragt worden, wie ich mich fühle.“ In diesem Moment klingelte das Telefon. Ich nahm ab. Eine erregte Stimme fragte: „Wie geht es Anna Andrejewna?“ Ich antwortete, daß Anna Andrejewna sehr beunruhigt sei, weil alle sich nach ihr erkundigten. Was ist geschehen? Es wurde aufgelegt. Wir saßen eine ganze Weile schweigend da. Ich überlegte, wen ich anrufen könnte, und Anna Andrejewna dachte angestrengt nach. Plötzlich: „Es geht um Borja. Können Sie hinuntergehen und eine Zeitung kaufen?“… Es war der erste Tag, an dem Pasternak von der Presse aufs Korn genommen wurde. (Soja Tomaschewskaja)
Ende 1957 wurde in Italien Pasternaks Roman Doktor Schiwago veröffentlicht, und am 23. Oktober 1958 erhielt er den Nobelpreis. Darauf wurde er in seinem Heimatland umgehend zum Staatsverräter erklärt – sämtliche nun folgenden Ereignisse faßte Lydia Tschukowskaja unter dem Begriff seiner „Karwoche“ zusammen. Die „besten“ Traditionen der sowjetischen Literatur, die sich bereits 1929 und 1946 bewährt hatten, schienen wieder aufzuleben.
Am 31. Oktober 1958 wurde auf einer Versammlung der Moskauer Schriftsteller nicht nur der Beschluß des Präsidiums (Ausschluß Pasternaks aus dem Schriftstellerverband) begrüßt, sondern auch ein weiterer Beschluß gefaßt: Die Sowjetregierung wird gebeten, Pasternak die Staatsbürgerschaft abzuerkennen und ihn des Landes zu verweisen. (Lydia Tschukowskaja)
Alles wiederholte sich: die entlarvenden Reden bei den Schriftstellerversammlungen, in denen Pasternak fast als Spion erschien, und die Forderung einer harten Bestrafung seitens der Arbeiter und der Kolchosbauern in den Zeitungsspalten:
Ich habe ihn nicht gelesen, aber ich weiß, daß…
Und wieder Spitzel und Observanten vor den Toren der Datscha, in der Pasternak wohnte.
Auf der anderen Straßenseite, zwischen unserem Grundstück und der Toreinfahrt von Selwinskis, parkte ein Auto… Jetzt konnte ich darin vier gleichgekleidete Männer erkennen, die in die Lektüre von in gleicher Manier aufgeschlagenen Zeitungen versunken waren: Sie würdigten mich keines Blickes. Aber als ich zur Chaussee weiterging, fühlte ich die ganze Zeit die mich verfolgenden acht Augen in meinem Nacken. (Lydia Tschukowskaja)
Es ist verständlich, warum Achmatowa und ihre Freunde Furcht hatten vor der Veröffentlichung des Poems ohne Held 1960 in New York, ausgerechnet in einem Almanach, der zu Pasternaks siebzigstem Geburtstag erschien. Und es ist verständlich, warum Achmatowa sich seinerzeit davor gescheut hatte, ihr Requiem russischen Lesern zugänglich zu machen, ehe es ins Ausland „abwanderte“. Der Staat war allerdings unberechenbar: Achmatowa kam glimpflich davon.
Pasternak jedoch wurde durch Androhung der Ausweisung gezwungen, den ihm zugesprochenen Nobelpreis zurückzuweisen und Reuebriefe zu schreiben. Dennoch war seine Lage hoffnungslos, denn er wußte, daß das ihm Zugestoßene dem Tode gleichkam.
Gönn anderen den Tand der Welt – den Ruhm,
Geh in dein Haus und höre auf zu warten.
Dasselbe, was Achmatowa an Pasternak schrieb, sagte sie auch einem anderen künftigen Nobelpreisträger und künftigen Ausgewiesenen – Alexander Solschenizyn. Achmatowa erzählt von der Begegnung mit ihm (1962):
Ich sagte zu ihm: „Wissen Sie, daß Sie in einem Monat der berühmteste Mann auf dem ganzen Erdball sein werden?“ – „Ich weiß es, aber das wird nicht lange dauern.“ – „Werden Sie dem Ruhm standhalten?“ – „Ich habe sehr starke Nerven. Ich habe Stalins Lagern standgehalten.“
Die beiden standen einander niemals nahe, stimmten nicht in allem überein und ließen aneinander nicht alles gelten. Solschenizyn war bereits Mensch einer anderen Zeit und gehörte einer anderen Generation an. Als er Achmatowa besuchte und von ihr das Requiem hörte, fiel sein Urteil, das Urteil eines Lagerinsassen, sehr hart aus:
Es war die Tragödie eines Volkes. Bei Ihnen aber ist es die Tragödie von Mutter und Sohn.
Wahrscheinlich hätte Achmatowa aus jedem anderen Munde diese Worte als Beleidigung empfunden. Diesmal aber blieb sie wenn nicht gleichgültig, so doch gelassen, weil sie ihm vermutlich das Recht auf solche Härte zubilligte. Aber sie war in ihrem Urteil auch sehr streng, so streng, wie nur ein Richter sein kann, für den persönliche Erfahrung keinen Preisnachlaß bedeutet und der zwischen Literatur und Biographie kompromißlos einen Trennungsstrich zieht. „Sie sollten lieber Prosa schreiben“, sagte sie, nachdem sie sich Solschenizyns Poem angehört hatte, das im Lager entstanden und dort vielleicht für seinen Willen und seine Seele die Rettung gewesen war.
Solschenizyns Erzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch jedoch gehörte für Achmatowa zu denjenigen Phänomenen, die außerhalb der üblichen Wertskala liegen. Mehr als einmal wiederholte sie:
Es ist Pflicht eines jeden der zweihundert Millionen Bürger der UdSSR, diese Erzählung zu lesen und auswendig zu lernen.
Die Schilderung eines Tages aus dem Leben eines inhaftierten einfachen Bauern war für sie die langersehnte Wahrheit über das Schicksal ihres Volkes. Und die Veröffentlichung – eine Erfüllung und Verwirklichung der großen Hoffnungen, ein Symbol für den Beginn einer neuen Epoche. Nach dem Bericht Lydia Tschukowskajas sagte sie:
Ich werde nicht nach Leningrad reisen, solange ich nicht die Nummer 11 der Nowy mir in meinen eigenen Händen halte. Ich will mich überzeugen, daß die neue Zeit tatsächlich angebrochen ist. Und sobald ich Solschenizyn in der Zeitschrift gelesen habe, werde ich abreisen…
Aber auch ihr eigenes Schicksal hing in gewisser Weise mit der Veröffentlichung von Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch zusammen:
… Als Twardowski mit Solschenizyns Manuskript bei Chruschtschow war, fragte er Nikita Sergejewitsch auch nach Achmatowa und Soschtschenko. Und Chruschtschow soll geantwortet haben: „Der Beschluß von 1946 kann ignoriert werden…“ Das ist der Grund, denke ich, weshalb sich jetzt alle Zeitschriften auf sie stürzen und Gedichte verlangen. Und aus diesem Grunde träumt Surkow von einem umfangreichen, echten Sammelband. (Lydia Tschukowskaja)
Die Veröffentlichung der Erzählung von Solschenizyn war eines der signifikanten Ereignisse des sogenannten „Tauwetters“, einer bedauerlicherweise kurzen Periode der sowjetischen Geschichte, die zwar keine einschneidenden wirtschaftlichen oder politischen Entwicklungen für die Menschen, jedoch die Aufhebung der geistigen Leibeigenschaft bedeutete. Diese Periode brachte eine behutsame, aber spürbare Öffnung der UdSSR gegenüber dem Westen. Die westliche Welt fand schrittweise Einlaß in das sowjetische Bewußtsein, und gleichzeitig hörte Rußland auf, für Ausländer hermetisch abgeschlossen zu sein.
Viele Erinnerungen an Achmatowa aus den sechziger Jahren enthalten Episoden, die alle folgendermaßen beginnen: Eines Tages sucht sie ein amerikanischer (schwedischer, englischer) Professor auf… Wenn die Begegnung mit Isaiah Berlin um die Mitte der vierziger Jahre ein Ereignis von hohem tragischem Pathos gewesen war, so neigte Achmatowa jetzt dazu, diese neuen Bekanntschaften ironisch abzuwerten – aus dem Ereignis wird eine Episode.
Unaufhörlich, scharenweise meldeten sich Ausländer an… Anna Andrejewna saß, ohne sich zu erheben, in ihrem Sessel und unterhielt sich mit einem amerikanischen Gast, als sich plötzlich vom Ofen ein großer Brocken Verputz löste und krachend dicht neben den beiden auf den Boden fiel, wobei der Anzug ihres Gastes dick mit Kalk bepudert wurde.
„Es war geradezu unheimlich“, sagte Anna Andrejewna, „ich glaubte, die Decke kommt auf mich herunter. Ich höre ja auch schlecht, aber bestimmt gab es ein entsetzliches Poltern.“
„Sehen Sie“, sagte sie lachend, „der patriotisch gesinnte Ofen hielt es nicht länger aus und fiel über dem Amerikaner zusammen.“ (S. Gitowitsch)
Aber Achmatowa ironisierte nicht nur „die anderen“, sondern mit bitterem Lächeln auch das eigene Leben – „die können es sich nicht vorstellen, daß wir so leben“.
Eines Tages erschien bei ihr ein Student aus Oxford, der über das Thema „Volkstümliche Quellen im Werk Anna Achmatowas“ arbeitete, und deklamierte mit leichtem Akzent: „Lieber sollte ich kesse Gassenhauer singen, lieber solltest du auf der heiseren Harmonika spielen“,7 um damit kurz und bündig seine Vorstellung von den volkstümlichen Quellen zu charakterisieren. Nach einiger Zeit kam das Gespräch auf Modigliani. Sie bat mich, ihm die Zeichnung zu zeigen, und ich trat mit einer einladenden Geste an ihr Bett, aber der Jüngling rührte sich nicht von der Stelle. In der Annahme, daß er mich nicht verstanden habe, erklärte ich, hier sei sie, die Zeichnung, und zog den Gast am Ärmel, um ihn zum Aufstehen aufzufordern. Er warf einen erschrockenen Blick auf das Porträt und kehrte eilig zu seinem Stuhl zurück. Als er gegangen war, sagte Achmatowa: „Sie sind dort den Anblick von Betten alter Damen nicht gewöhnt. Er sah ganz verstört aus, als Sie ihn an den Rand des Abgrunds zogen.“ Und dann: „Die können sich nicht vorstellen, daß wir so leben, und die können sich nicht vorstellen, daß wir unter solchen Bedingungen auch noch etwas schreiben.“ Und nach einer weiteren Pause: „Er hätte sich über die volkstümlichen Quellen bei Achmatowa ruhig etwas Originelleres einfallen lassen können als Gassenhauer und Ziehharmonika.“
In dieser Episode aus den Erinnerungen von Anatoli Naiman geht es nicht nur um eine komische Situation, sondern auch um das Thema der englischen Dissertation und die gereizte Reaktion Achmatowas auf das primitive und einseitige Verständnis des Begriffes „volkstümlich“. Für sie, deren Werk so lange als „volksfremd“ abgestempelt worden war, erschöpfte sich die Bedeutung dieses Wortes keineswegs in pseudonationalem, rustikalem Kolorit, sondern schloß die Vorstellung einer schicksalhaften Einheit in sich: „Ich war damals mit meinem Volk…“ lautet die erste Zeile, das Motto des Requiems. Deshalb empfand Achmatowa die naiven Vorstellungen des Oxforder Studenten als beleidigend, obwohl dieses Thema auf ein instinktives Wissen von der Verbundenheit ihres persönlichen Lebens mit der Geschichte Rußlands schließen ließ.
Die westlichen Slawisten, die in die Sowjetunion kamen, versprachen sich von Achmatowa die Lösung des Rätsels der „russischen Seele“. Eine solche Begegnung mit einem amerikanischen Professor beschreibt ebenfalls Anatoli Naiman:
Er erklärte mit der Direktheit eines Businessman: „Ich habe in Amerika gehört, daß Sie sehr berühmt sind, habe einige Ihrer Werke gelesen und verstanden, daß Sie der einzige Mensch sind, der mit Sicherheit weiß, was die russische Seele ist.“ Höflich, aber ziemlich deutlich wechselte Achmatowa das Thema. Der amerikanische Professor gab nicht auf. Sie ging nicht darauf ein, sprach weiter von etwas anderem und antwortete jedesmal trockener und kürzer. Der Gast insistierte und fragte, inzwischen gereizt, sogar mich, ob ich denn vielleicht wisse, was die russische Seele sei. „Wir wissen nicht, was die russische Seele ist“, sagte Achmatowa ärgerlich. „Aber Fjodor Dostojewski wußte es!“ – der Amerikaner war offensichtlich zum Äußersten entschlossen. Er hatte den Satz noch nicht beendet, als sie ihn auch schon attackierte: „Dostojewski wußte viel, aber nicht alles. Er dachte zum Beispiel, daß man ein Raskolnikow werden muß, um einen Menschen zu töten. Heute aber wissen wir, daß man fünfzig, daß man hundert Menschen töten kann – und abends ins Theater geht.“
Achmatowa war gereizt über die Eindeutigkeit der Frage und über die beharrliche Erwartung einer eindeutigen Antwort. Dasselbe Thema wurde auch in einem Gespräch mit einem anderen Amerikaner, dem Slawisten Martin Edward Malia, berührt. „Ich verstehe, daß Malia die ganze Zeit von mir eine Empfindung für Rußland geschenkt bekommen möchte. Ich mußte ihm gestehen, daß ich selbst nur selten eine solche Empfindung habe“, berichtete sie Lydia Tschukowskaja.
Mehrere Generationen der russischen Intelligenzija haben immer wieder nach einer Antwort auf diese Frage gesucht. „Mit dem Verstand ist Rußland nicht zu erfassen, mit allgemeinem Maß nicht auszumessen“, hatte Tjutschew, einer von Achmatowas Lieblingsdichtern, schon im Jahre 1866 geschrieben. Und Lydia Tschukowskaja, die Achmatowas Gespräch mit Malia aufgezeichnet hat, fügt ihre eigenen Überlegungen an:
Und ich selbst, kann ich es erfassen? Meinem Alter, meinen Erfahrungen nach hätte ich es schon längst erfaßt haben müssen. Aber unser Leben ist so zerstückelt, daß jeder von uns an Kurzsichtigkeit leidet: Er erkennt nur die Menschen in seiner Nähe und nur das, was um ihn ist, mit einiger Deutlichkeit. In einem Land, dem das gemeinsame, die Menschen verbindende Gedächtnis genommen wurde, in einem Land, dem man die Literatur und die Geschichte geraubt hat, hat jeder Mensch seine eigene, begrenzte, separate Erfahrung. Das Land aber ist riesig, und die Erfahrungen dieses Landes bleiben unvereint, unvereinbar, unausgewertet; schlimmer noch – verfälscht!!!
Der Umgang mit den Ausländern ließ die eigene Vergangenheit gleichsam mit fremden Augen sehen. Aber selbst wenn die anderen sich bemühten, sie zu verstehen, blieb das Wesentliche unerklärt – die Summe der Erfahrungen hier und die Summe der Erfahrungen dort waren zu unterschiedlich.
Kurz vor meiner Erkrankung erhielt ich den Brief eines schwedischen Professors, der ein Buch über mich schreibt. In einer kleinen schwedischen Universitätsstadt. Er teilte mir mit, daß er kommen möchte, um sich mit mir zu unterhalten. Er kam, aber ich lag im Krankenhaus. Er besuchte mich dort. Ein netter, kenntnisreicher Mann, aber das Verblüffendste an ihm war das blendendweiße Hemd, weiß wie die Fittiche eines Engels. Während wir zwei blutige Kriege geführt und auch sonst viel Blut vergossen haben, hatten die Schweden nichts anderes zu tun gehabt, als dieses Hemd zu waschen und zu bügeln.
Achmatowa glaubte vermutlich, daß nur ihre Dichtung die unterschiedlichen Erfahrungen überbrücken und ihr Schicksal erklären könnte. Deshalb debattierte sie so gereizt und hartnäckig mit der westlichen Kritik, indem sie bald gegen die Irrtümer in Memoiren, bald gegen die Theorien der Literarhistoriker zu Felde zog. Inzwischen stand ihr seit 1964 die englische Slawistin Amanda Haight zur Seite, die später eine Dissertation und ein Buch über Achmatowa schrieb. Achmatowa hat ihr viel diktiert oder ihr einfach von ihrem Leben und ihren Gedichten erzählt. Sie hatte offenbar das Gefühl, daß diese Literaturwissenschaftlerin ihre Stimme getreu wiedergeben würde. An die Möglichkeit, im Westen selbst etwas zu ihrem Werk zu sagen, glaubte Achmatowa nicht.
Nicht einmal geladen, in Italien, schicken sie
Von unterwegs einen kurzen Abschiedsgruß.
Ich blieb in meinem Spiegelland
Ohne Rom und ohne Padua.
Aber es sollte anders kommen. 1965 nimmt in Paris der amerikanische Philologe und Verleger russischer Abstammung Nikita Struwe ein Interview mit ihr auf Tonband auf.
Wie kommen Sie dazu, überall zu schreiben, ich hätte achtzehn Jahre lang geschwiegen? Wo haben Sie rechnen gelernt? Ich habe gerade festgestellt, daß ich neun Gedichte aus dem Jahr 1936 habe, vom Requiem ganz zu schweigen, das 1935 begonnen wurde; es gibt auch Gedichte aus dem Jahr 19241 ebenso aus dem Jahr 1929. Aber das ich nicht gedruckt wurde, das stimmt. 1925 soll irgendwo an der Spitze – ich fand mich in der damaligen Hierarchie noch nicht zurecht, ich wußte nicht einmal genau, was das Zentralkomitee ist, mein Sinn stand nicht danach – die Meinung aufgekommen sein, Achmatowa nicht zu drucken, und dann lief es immer so weiter. Hier sagt man dazu „comme sur les roulettes“, aber daraus folgt keineswegs, daß ich geschwiegen hätte. „Ich hoffe“, fügte sie hinzu, „daß ich Sie überzeugen konnte“. (Nikita Struwe)
Achmatowa traf sich mit Struwe in Paris. Es wurde ihr gestattet, in Paris Station zu machen, nachdem sie in Oxford den Ehrendoktorhut empfangen hatte. Ein Jahr zuvor, 19641 war sie in Italien gewesen. In Catania auf Sizilien, in dem altehrwürdigen Castello d’Orsini, wo einst das erste Sizilianische Parlament getagt hatte, wurde ihr in einem Festakt der italienische Aetna-Taormina-Literaturpreis überreicht.
Es dauerte Monate, bis die Papiere für diese beiden Reisen ausgestellt waren. Die Eisenbahnfahrkarte ab London erhielt sie am Tag ihrer Abreise. Sie sagte: „Fürchten die etwa, daß ich nicht wiederkomme? Daß ich hiergeblieben bin, während alle auswanderten, daß ich in diesem Land mein ganzes – und was für ein – Leben gelebt habe, nur um jetzt alles aufzugeben.“ Sie knurrte: „Früher brauchte man nur den Hausmeister zu rufen, ihm ein Geldstück in die Hand zu drücken, und gegen Abend brachte er aus dem Polizeirevier den Auslandspaß…“
Die Reisen 1964 und 1965 waren das genaue Gegenteil zu den Reisen ihrer Jugend: Damals ging sie überallhin, wohin sie Lust hatte – jetzt wurde sie herumkutschiert; damals betrachtete sie die Welt mit großen Augen – jetzt wurde sie betrachtet. Sie wurde gefeiert, sie hatte bewiesen, daß ihr Weg der richtige war, sie hatte gesiegt. Aber das Castello d’Orsini hatte etwas von einer Gruft der Oxforder Talar ähnelte einem Totengewand und der Festakt einem Begräbnis. All das lag nicht an ihrem Alter oder ihrer Gebrechlichkeit, die das Bild nur abrundeten, sondern daran, daß alles, was einst lebendig gewesen, inzwischen versteinert war und seine Seele verloren hatte. Punina, die sie bei ihrer ersten Reise begleitete, fuhr mit ihr in ein Lederwarengeschäft, um einen Koffer für die Mitbringsel zu kaufen. Der Verkäufer beeilte sich, seine schönste Ware aus den Regalen auf den Ladentisch zu holen. Punina deutete auf einen der Koffer und fragte, ob er stabil sei. Statt einer Antwort warf der Verkäufer den Koffer auf den Fußboden, nahm Anlauf und sprang mit beiden Füßen darauf – der Koffer zerbrach. Er griff nach dem zweiten, aber sie winkten ab, bezahlten den ersten besten Koffer und waren froh, als sie den Laden verlassen konnten. Achmatowa erzählte davon wie von einer komischen Episode, aber ihre Stimme klang keineswegs heiter: Es war für sie einer der wenigen lebendigen Eindrücke von Rom, und er war ganz anders als „der Traum, an den man sich das ganze Leben lang erinnert“, wie sie 1912 über ihre italienischen Reiseeindrücke schrieb. (Anatoli Naiman)
Die Episode mit dem Koffer war eine der vielen schriftlich festgehaltenen Reiseanekdoten von 1964 und 1965. Anna Andrejewna, die einen ausgesprochenen Sinn für das Pathos einer Situation hatte, neigte diesmal zur Untertreibung.
Hier versammelten sich die bedeutendsten Schriftsteller Italiens und mehrerer anderer Länder – sie hatten an dem soeben beendeten europäischen Schriftsteller-Kongreß teilgenommen. Als Achmatowa zum Ort des Geschehens gebracht wurde, war sie entsetzt: Ihr, der Kranken und Schwerfälliggewordenen, stand es bevor, die steile, vielstufige Treppe des alten Castellos zu überwinden.
„Das Feierliche und Erhabene dieses Augenblicks“, erzählte sie, „war derart zu spüren, daß sie, wenn ich auch nur einen Augenblick gezögert hätte, mich sofort in einen Sessel gesetzt und nach oben getragen hätten. Eine solche Schmach konnte ich nicht dulden. Also machte ich mich mutig auf den Weg. So habe ich den Gipfel des Ruhms erklommen“, schloß sie und fügte hinzu, um das Anspruchsvolle ihres letzten Satzes zu mindern: „Atemlos und ächzend“. (Anatoli Naiman)
Genauso ironisch klang ihr Bericht nach dem Festakt in Oxford.
Eines Tages zeigte Anna Andrejewna Michail Ardow ein Schreiben der Universität Oxford, in dem sie gebeten wurde; die Konfektionsnummer ihrer Oberbekleidung und den Umfang ihres Kopfes mitzuteilen, damit der Talar und das Barett maßgerecht angefertigt werden könnten. Der Brief war schon vor längerer Zeit eingetroffen, und Ardow erkundigte sich, ob Anna Andrejewna ihn beantwortet hätte. Sie verneinte und erklärte lachend:
Ich möchte vorher abnehmen…
Die große Welt war ihr bereits ferngerückt. Um so lebendiger waren die Jugenderinnerungen. Vor ihrem Hintergrund kam ihr die Realität wie eine zweidimensionale Postkartenaufnahme vor:
Sie erzählte, wie sie morgens im Zug aufgewacht und vor das Abteilfenster getreten sei: „Und da entdecke ich eine Ansichtskarte von dem Format des Fensters, die außen an der Scheibe klebte, mit einem Bild des Vesuvs. Aber es stellte sich heraus, daß es der Vesuv persönlich war“. (Anatoli Naiman)
Doch Achmatowas humorvolle Berichte von ihrer Reise sollten etwas verbergen: Eigenartigerweise mahnten sie diese späten und feierlichen Reisen an die Vergänglichkeit und ihre Schrecken.
Vor kurzem die Reise nach Italien – der Zug überquert die Alpen sehr schnell. Der Waggon schwankt. Nachts Schlaflosigkeit. Wie unheimlich sind die Alpen im Winter, wenn man sie nicht sieht. Die Nacht und die menschenleere Stadt, durch die der Zug rast; Versuch, darüber ein Gedicht zu schreiben.
Antikes Theater auf Sizilien. Die unheimliche Gruft Raffaels – der Sarg in einer Nische, als hätte man ihn vorübergehend dort abgestellt. Angst vor dem Tode. (N. Budyko)
Europa, das stets mit ihr und in ihr gelebt hatte, war bis dahin das Europa ihrer Jugend gewesen und erinnerte sie nun an den Tod. Nach dem Festakt in Oxford sagte sie:
Das ist meine Beerdigung. Solche Festakte sind nichts für Dichter.
All das kam zu spät, das Leben neigte sich dem Ende zu, und dieser späte Ruhm unterstrich nur:
… Man nahm uns den Raum, die Zeit, man nahm uns alles, und nichts ist uns geblieben. (Achmatowa an Struwe)
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMich, wie einen Fluß,
Hat die rauhe Epoche umgeleitet.
Mein Leben ward vertauscht. In einem anderen Bett,
Entlang anderen Ufern, strömt es dahin,
Und meine eigenen Ufer kenn ich nicht.
Oh, wie viele Schauspiele entgingen mir,
Der Vorhang hob sich ohne mich
Und fiel auch so hernieder. Wie vielen Freunden
Bin ich nie begegnet,
Wie vieler Städte Silhouetten
Versäumten es, mir Tränen zu entlocken,
Ich kenn nur eine Stadt auf dieser Welt
Und kann auch im Schlaf sie ertasten.
Wie viele Verse hab ich nicht geschrieben,
Sie ziehen ihre Kreise geheimnisvoll um mich
Und werden mich dereinst vielleicht ersticken…
Ich weiß vom Anfang und vom Ende,
Vom Leben nach dem Ende, und von noch etwas,
Woran ich jetzt mich nicht erinnern darf.
Und irgendeine Frau hat meinen,
Den einzigen Platz besetzt, der mir zusteht,
Trägt meinen wahren, legitimen Namen
Und ließ für mich ein Sogenannt,
Aus dem ich alles machte, was nur möglich war.
Ich werde nicht im eigenen Grab zur Ruhe liegen.
Doch ab und zu ein toller Frühlingswind,
Vielleicht auch ein Zusammenklang von Worten
In einem gerade aufgeschlagnen Buch
Oder das Lächeln eines Menschen wird mich plötzlich
In jenes Leben locken, das nicht zustande kam.
In dem Jahr wäre das und dies geschehn,
In jenem dies und das – reisen, schauen, denken,
Erinnern, in eine neue Liebe eingehn
Wie in einen Spiegel, mit dem dumpfen Wissen
Von Untreue, Verrat und einem Fältchen,
Das gestern noch nicht dagewesen war…
Aber hätte ich von dort den Blick geworfen
Auf dieses Leben, das ich heute führe,
Dann endlich kennte ich den Neid…
Diese fünfte der „Nordischen Elegien“, die Anna Achmatowa in Paris Nikita Struwe rezitierte, erklang dort, wo Anna Achmatowa nach fast einem halben Jahrhundert den Freunden und Bekannten ihrer Jugend wieder begegnete, doppelt eindringlich. Doch keine einzige dieser Begegnungen brachte ihr Freude. Und die wichtigste, die mit dem einst geliebten Maler Boris Anrep, war die allerschlimmste.
Während ich mir überlegte, was ich ihr noch sagen oder wonach ich fragen sollte, etwa nach zeitgenössischen Dichtern, rief sie aus: „Boris Wassiljewitsch, stellen Sie mir doch nicht so dumme Fragen wie alle anderen!“ Ihre glühende Seele wollte nur das Menschsein, Freundsein, Frausein. Sich einen Weg bahnen durch den Wald, der zwischen uns gewachsen war. Aber auf mir lastete ein schwerer Grabstein. Auf mir und auf der ganzen Vergangenheit, und für eine Auferstehung fehlte mir die Kraft. (Boris Anrep)
Achmatowa hat diese Begegnung nur lakonisch erwähnt:
Wir haben beide den Blick nicht gehoben und uns nicht angeschaut. Wir kamen uns vor wie Mörder.
Ähnliches – über lange zurückliegende Abschiede und neue Begegnungen – die keine wurden – schrieb auch Arthur Lourié, der Musiker und Komponist, der Rußland 1922 verlassen hatte und über Paris nach New York emigriert war. Sein Brief blieb unbeantwortet:
25. März 1963
Meine teure Annuschka, kürzlich habe ich irgendwo gelesen, daß, als die Duse und d’Annunzio sich nach zwanzigjähriger Trennung wieder begegneten, beide niederknieten und weinten. Wovon kann ich Dir erzählen? Mein ,Ruhm‘ liegt ebenfalls seit zwanzig Jahren in der Gosse. Das heißt seit der Zeit, da ich in dieses Land gekommen bin. Am Anfang gab es Augenblicke eines glänzenden, großen Erfolgs. Aber die hiesigen Musiker haben alles getan, um mir eine feste Position unmöglich zu machen. Ich schrieb eine große Oper, Der Mohr Peters des Großen, die ich dem Andenken unserer Altäre und Herdfeuer widmete. Es ist ein Denkmal der russischen Kultur, des russischen Volkes und der russischen Geschichte. Seit ganzen zwei Jahren versuche ich vergebens, sie auf eine Bühne zu bringen. Hier hat niemand irgendein Interesse, und dem Ausländer sind alle Türen verschlossen. Du hast es bereits vor vierzig Jahren gewußt: „Nach Wermut riecht das fremde Brot“… überhaupt bewege ich mich in einer absoluten Leere, wie ein Schatten. Alle Deine Fotografien sehen den ganzen Tag auf mich herab. Ich umarme und küsse Dich zärtlich. Paß auf Dich auf Ich erwarte eine Nachricht von Dir.
A.S. Lourié
Achmatowa sagte einmal, die Kategorie des Raumes sei weniger kompliziert als die der Zeit. Ihre späten Reisen konnten ihre Behauptung nur bestätigen – unüberwindlich war allein die Zeit. Von ihrer Reise nach England pflegte sie scherzend zu sagen:
Eine Reise von Moskau nach Komarowo über London.
Der überwundene Raum führte auf die kleine Siedlung Komarowo (Kelomakki) zu, in der sie auf der nordischen, finnischen Erde heimisch wurde.
Der Westen verleumdete und glaubte selbst daran,
Der Osten übte üppigen Verrat,
Der Süden billigte mir nur sparsam Luft zu
Und grinste über flinke Verse.
Aber der Klee stand da, als ob er knien wollte,
Und der feuchte Wind sang ins Muschelhorn,
So tröstete mit aller Kraft mich
Mein alter Freund, mein treuer Norden.
Die Luft ward stickig. Meine Kräfte schwanden,
Und ich verschmachtete inmitten von Gestank und Blut.
In jenem Haus konnt ich nicht länger bleiben…
Da sprach die eiserne Suomi:
Alles wird dein sein außer Freude.
Was soll’s, lebe!
1964, Komarowo
Der Schriftstellerverband hatte Achmatowa 1955 eine kleine Datscha in der Siedlung Komarowo zur Verfügung gestellt, wo viele Schriftsteller die Sommermonate verbrachten. Seitdem wohnte auch sie fast jeden Sommer dort, asketisch und aus vollen Zügen, wie es sich für sie gehörte.
Erde, auch wenn nicht die heimatliche,
Doch für immer erinnerlich.
Und des Meeres zart eisiges,
Nichtsalziges Wasser.
Weißer als Kreide der Sand auf dem Grund,
Die Luft berauschend wie Wein
Und der Kiefer entblößter Leib
Rosig im Abendsonnenschein.
Und diese Abendsonne in Ätherwolken
Ist so, daß ich nicht weiß,
Ob jetzt der Tag, ob jetzt die Welt zu Ende geht,
Ob der Geheimnisse Geheimnis
Wieder in mir war.
Im Haus und auf dem Grundstück lagen unzählige Baumstumpen und Wurzeln herum. Die bizarren Wurzeln standen auf einer wackligen Etagere oder waren an den Wänden angenagelt. Die großen Stumpen lagen überall auf dem Grundstück verteilt. Vor den Verandafenstern ruhte der große Hauptknorren, „mein Baumgott“, sagte Anna Andrejewna.
Solange Anna Andrejewna in der „Budka“ (wie sie ihre Datscha nannte) lebte, blieb dieser Holzgott am selben Platz liegen. Abends wurde vor ihm häufig ein Feuer entzündet. Dann wurde der große Sessel mit der hohen Rückenlehne aus dem Haus geholt, und Anna Andrejewna saß darin lange im Wind. (S. Gitowitsch)
Dieser strenge nördliche Landstrich war für sie sicherlich nach und nach zu einem Symbol ihres Schicksals geworden. Abweisend und kühl auf den ersten Blick, verströmte er dennoch Schönheit und Harmonie. Achmatowas „Budka“ fügte sich organisch in die karge finnische Landschaft ein, die nur wenige Farben kennt. Aber alle Menschen, selbst wenn sie Achmatowa dort auch nur einen einzigen Besuch abgestattet hatten, empfanden ihr winziges Häuschen als warm und leuchtend.
Sie war eine erstaunlich gastfreundliche und großzügige Hausfrau. Im Herbst 1964 wohnten in der winzigen Datscha, die Achmatowa selbst die „Budka“ nannte, ungefähr zehn Gäste, darunter auch der Autor dieser Zeilen. Es war für jeden Platz, man aß, trank und feierte… Ich sagte Anna Achmatowa bei dieser Gelegenheit, daß die ,Budka‘ offenbar Gummiwände habe. „Das habe ich schon immer gewußt“, erwiderte sie nicht ohne Stolz. (Michail Ardow)
Die Gesellschaft, die sich bei Achmatowa in Komarowo einfand, bestand fast immer aus sehr jungen Menschen. Man kam hierher, um seine Gedichte zu rezitieren, literarische Neuigkeiten zu besprechen oder auch nur, um sie zu sehen.
Obwohl Anna Andrejewna immer sie selbst blieb, gelang es ihr nichtsdestotrotz, erstaunlich schnell und taktvoll die Sympathien der verschiedensten Menschen zu gewinnen, weil sie sich nicht nur ernsthaft für ihr Schicksal interessierte und ihre Probleme nachvollziehen konnte, sondern weil sie selbst als guter und ohne Einschränkung moderner Mensch bereit war, sich mit ihrem Lebenskreis zu verbinden. Das ist die einzige Erklärung für jene erstaunliche Ungezwungenheit und Ungebundenheit, für jenes Vergnügen, das meine Altersgenossen – Menschen einer anderen Zeit, einer anderen sozialen Schicht und Erziehung – empfanden, wenn sie vor ihr Gedichte rezitierten, mit ihr Bilder betrachteten, über Kunst diskutierten oder ihr einfach lustige Geschichten erzählten.
Die in Ehren ergrauten, seriösen Gäste, die Achmatowa in der „Budka“ besuchen wollten, waren ernsthaft verwirrt, wenn sie hinter dem altersschwachen Zaun statt eines stillen Refugiums ein Haus mit sperrangelweit offenen Türen entdeckten. Auf dem Hof – herumliegende Fahrräder, parkende Motorräder und leger gekleidete junge Leute. Die einen machten gerade Feuer, andere schleppten Wasser herbei, wieder andere würfelten auf den Verandastufen. Je nach der Miene und dem Ansehen des Besuchers mäßigte sich diese junge Gesellschaft mit einem Schlag und bemühte sich um das nötige Minimum an Anstand, aber das um das Haus herum brodelnde Leben ging weiter, man ließ sich nicht beirren. Anna Andrejewna zog sich mit dem Besucher in ihr Zimmer zurück, sprach mit ihm über seine Angelegenheiten, trank mit ihm Tee oder „coffee“ und lud dann, falls sie es für notwendig hielt, ihren Gast zu dem gemeinsamen Essen auf der Veranda ein. (Alexej Batalow)
Inmitten dieses Durcheinanders verwandelte sich Achmatowa manchmal selbst in eine „Studentin“. Häufig lag das Geheimnis der zwanglosen Heiterkeit weniger in der Jugend ihrer Freunde und Gäste als in ihrem eigenen Charakter – sie war durchaus fähig, mit ihren fünfundsiebzig Jahren Zwanzigjährige die Kunst der Heiterkeit zu lehren. Darüber berichtet Anatoli Naiman:
Ich erhielt ein unerwartetes Honorar und wollte die ganze Gesellschaft bei Ardows in ein Restaurant einladen. Sie aber riet mir, statt dessen einen Eimer Bier und einen Eimer Krebse zu kaufen und so, mit den Eimern in den Händen, bei Ardows zu erscheinen; nachdem ich ihren Rat befolgt, die beiden Eimer im Haushaltswarengeschäft, die Krebse in der Sretenka und das Bier in den Kardaschewski-Bädern gekauft hatte, als alle, die letzten Krebsscheren knabbernd und das letzte Bier schlürfend (nach wiederholten Märschen in die genannten Bäder), lautstark sowohl den Plan als auch dessen Ausführung lobten, sagte Achmatowa; deren Gesicht ebenso gerötet war wie das der anderen, aber nicht ganz so erhitzt und redselig: „Geb’s Gott zu Ostern, wie der Soldat unserer Kinderfrau zu sagen pflegte!“ (Anatoli Naiman)
Nie hatte Achmatowa ihren Ruhm wie ein Prachtgewand zur Schau getragen. Prediger-Pathos war ihr fremd. Sie erinnerte sich, wie Nikolai Gumiljow, noch am Beginn ihres gemeinsamen Weges, von der Tradition „Weide meine Völker“ gesprochen hatte:
Anna, du mußt mich mit eigener Hand vergiften, wenn ich anfangen sollte, „die Völker zu weiden.“
Die Gabe der Selbstironie rettete sie davor, zu Lebzeiten zum Denkmal zu werden. Sie forderte die Ironie heraus, auch ihren eigenen Gedichten gegenüber, um sie lebendig zu erhalten. Dazu eine charakteristische Episode:
… Und Ranewskaja begann zu singen. Sie sang ein Lied mit einer orientalischen, von ihr selbst erfundenen Melodie, rollte dabei die Augen und rang die Hände: „Du liebst nicht, du willst mich nicht sehen? Oh, wie bist du schön, du Verfluchte! Ich kann nicht davonfliegen und war doch mit Flügeln geboren!“ Barmherziger Gott, das ist doch ein Gedicht von Achmatowa aus dem Band Rosenkranz! In Anwesenheit der Autorin wurden die Strophen parodiert! „Und nur der rote Tulipan, der Tulipan in deinem Knopfloch“, hauchte zum Schluß die „orientalische Sängerin“, scheinbar völlig erschöpft Die Autorin und ich waren ebenfalls erschöpft, aber vor Lachen Achmatowa wischte sich die Tränen aus den Augen und flehte: „Faina! Und jetzt – die Näherin!“
Die „orientalische Dame“, die in hoffnungsloser Liebe verschmachtete, verschwand. Einen Augenblick lang hatten wir nun die Ranewskaja vor uns, ergraut, spottlustig, im grauen Kostüm, aber sie verschwand ebensoschnell. Vor uns erschien ein sanftmütiges, eingeschüchtertes, bemitleidenswertes Geschöpf – eine arme Näherin. Sie schob ihre Tasse zur Seite, setzte ihre Handnähmaschine in Gang und begann zu singen, mit jener monotonen, trostlosen Stimme, mit der vermutlich die Näherinnen in ihren Mansarden oder Souterrains einst gesungen hatten. Aber es war gar nicht der Text einer naiven Schnulze, es waren die Strophen eines ausgesprochen tragischen Achmatowa-Gedichts: „Die Nachbarn aus Mitleid – zwei Straßenzüge weit, die alten Weiber, wie sich’s schickt, bis zum Tor, aber der, dessen Hand ich in meiner hielt, der wird mir bis zum Rand der Grube folgen.“
Achmatowa rollten dabei vor Lachen die Tränen über die Wangen. Mir waren auch die Tränen gekommen, aber nicht nur vor Lachen – vor Staunen und vor Entzücken. (Natalia Iljina)
Man druckte Achmatowa nun, die Zeitungen schrieben über sie, sie war international anerkannt, und es gab sogar Gerüchte, sie sei für den Nobelpreis vorgeschlagen. Aber ihre Skepsis gegenüber sämtlichen Attributen des Ruhms, die sich meist scherzhaft äußerte, wandelte sich manchmal zur spannungsgeladenen und leidenschaftlichen Verneinung. Einmal sagte Tschukowskaja im Laufe eines Gesprächs mit Achmatowa:
„Am Anfang hat der Ruhm wahrscheinlich sehr viel Ähnlichkeit mit der Liebe: Das Gefühl, daß man geliebt wird, ist doch etwas Angenehmes.“ – „Da gibt es überhaupt keine Ähnlichkeit“, unterbrach Anna Andrejewna, „Ruhm – das bedeutet, daß alle einen Anspruch auf Sie haben und daß Sie sich in einen Lappen verwandeln, wobei es jedem freisteht, mit Ihnen Staub zu wischen. Am Ende seines Lebens hatte Tolstoi die Nichtigkeit des Ruhms durchschaut und in Vater Sergej gezeigt, daß man ihn abwaschen muß. Darum schätze ich ihn ganz besonders.“
Ein anderes Gespräch über dasselbe Thema, aber mit einer anderen, schmerzlichen, ja leidvollen Intonation, gibt Anatoli Naiman wieder:
Kurz bevor sie starb, kam es zwischen uns zu einem Gespräch über ihre damalige Lage: über den neuen Ruhm, der über sie gekommen war, und die Banalität, die diesem neuen Ruhm auf dem Fuß folgte; über die große Autorität, die sie auf einmal genoß, und ihre Abhängigkeit von einem Zeitungsartikel oder von irgendwelchen Memoiren, von dem Nobelpreis-Komitee, von der Auslandskommission des Schriftstellerverbandes; über die Heimatlosigkeit und die Abhängigkeit von fremden Menschen; über das Alter, über Krankheiten und die Dutzende von Anrufen und Briefen täglich. Zunächst bewahrte sie ihre stolze Haltung und wiederholte: „Ein Dichter ist jemand, dem man nichts schenken und dem man nichts nehmen kann“ – aber plötzlich fiel sie in sich zusammen, beugte sich vor und sprach mit einem leidenden Blick und gesenkter Stimme, fast flüsternd: „Glauben Sie mir, ich wäre am liebsten ins Kloster gegangen. Das ist das einzige, was ich jetzt brauche. Wenn es nur möglich wäre.“
Das waren Worte, die wohl kaum aus einem vorübergehenden Verzweiflungsausbruch geboren wurden. Achmatowa war ein wirklich gläubiger Mensch. Wahrscheinlich konnte ihr nur der Glaube die Kraft geben, jenes Leben durchzustehen, das sie durchgestanden hat. Sie sprach selten und sehr wenig darüber, aber die, die sie kannten, wußten, daß der Glaube das Fundament ihrer Persönlichkeit war.
Ich weiß noch, daß ich zuerst von Anna Andrejewna von dem Fund in Qumran hörte – von den zerschnittenen Schafhäuten, die ein Hirt in Höhlen gefunden hatte; die alten Schriftzeichen auf diesen Häuten bestätigten angeblich die Existenz Jesu. Sie erzählte mir das alles in knappen Worten, aber ihre Augen leuchteten. Ich glaube, daß für sie die Person Christi in ihrem menschlichen Sein und Schicksal ganz besonders bedeutsam war. (I. Metter)
Als ihre Schutzheilige verehrte sie die Prophetin Hanna, die im Tempel von Jerusalem dem kleinen Jesus begegnet war. „Ich bin Hanna Lichtmeß“, pflegte Achmatowa zu sagen.
Ihre Orthodoxie hatte jedoch nichts mit der kopflastigen Religiosität der neuen sowjetischen Intelligenzija gemein. Als Viktor Ardow eines Tages weitschweifige Überlegungen darüber anstellte, daß der griechisch-orthodoxe Kultus sich vorteilhaft von dem katholischen unterscheide, sagte Achmatowa:
Ich als Gläubige kann dazu nichts sagen.
Ihren Glauben hatte sie von ihren Eltern übernommen, deshalb unterlag er weder Zweifeln noch Reflexionen, sondern bestimmte auf die schlichteste und natürlichste Weise ihre Worte und ihre Taten.
Am Versöhnungstag 1963, dem Tag vor den Großen Fasten, sagte sie: „An diesem Tag kam Mama in die Küche, verneigte sich tief vor den Dienstboten und sagte mit großem Ernst: ,Vergebt mir Sünderin.‘ Die Dienstboten verneigten sich ebenso und antworteten mit dem gleichen Ernst: „Der Herr wird vergeben. Vergebt auch Ihr mir.“ Und nun bitte ich euch: „Vergebt mir Sünderin.“ (Anatoli Naiman).
Man kann sicher sein, daß Achmatowa niemals, in keinem einzigen Fall, jemand von der Notwendigkeit des Glaubens überzeugen wollte. Aber ihre Erscheinung, die feinsten Nuancen ihres Verhaltens, die scheinbar im Alltag untergingen, wirkten überzeugender als alle Worte.
Es ist eine frühe Kindheitserinnerung, daß Anna Andrejewna, wenn wir für längere Zeit Abschied nehmen mußten, über mir das Kreuzzeichen schlug und sagte: „Der Herr sei mit dir.“
Ungefähr ein Jahr vor ihrem Tod empfing ich die Taufe. Als ich ihr davon erzählte, sagte sie leise und innig: „Wie gut, daß du mir das sagst“. (Michail Ardow)
Wenn Michail Ardow später die Weihen empfing und Geistlicher wurde, geschah das gewiß nicht ohne den Einfluß Anna Achmatowas. Ohne je erzieherisch auf die jüngere Generation einwirken zu wollen, gab ihre bloße Gegenwart dem Leben ihrer jungen Freunde bereits manchen Anstoß. Und diese ihrerseits schenkten ihr die Freude eines lebendigen Kontakts und das Gefühl des fortschreitenden Lebens.
Um die alte Achmatowa scharten sich in den sechziger Jahren viele junge Menschen, vor allem Dichter. Aufmerksam verfolgte sie die Wege der neuen Poesie. Und mit den Jahren wurden ihre Urteile keineswegs nachsichtiger.
Es gibt keine begabten Dichter! Man ist Dichter, oder man ist keiner. Das ist eine ganz andere Sache, als wenn man morgens früh aufsteht, sich wäscht und sich an den Schreibtisch begibt: Nun möchte ich arbeiten. Gedichte – das sind Katastrophen. Nur dann geraten sie.
Achmatowas Kompromißlosigkeit sollte niemals als Härte empfunden werden. In den sechziger Jahren war die Poesie für die Jugend das Symbol der Freiheit. Und obwohl Achmatowa dies gelten ließ, versuchte sie deutlich zu machen, daß Poesie und Freiheit niemals gegen die kleine Münze lauter, aber hohler Worte eingewechselt werden dürfen.
Die Welle dieser eruptiven Liebe zur Poesie spülte die damaligen Jugendidole in die Höhe: Wosnessenski, Roschdestwenski, Jewtuschenko, Achmadulina. Ihr mißfiel ihr lautes Wesen, das Sensationelle an ihnen, die Gier nach dem Publikum – ihr und ihrer Vorstellung vom Dichter war das alles sehr fremd. (M. Roskina)
Aber natürlich fand sich unter der Jugend auch eine Anzahl ihr geistig verwandter Menschen, denen Achmatowa die größte Hilfsbereitschaft entgegenbrachte – sie gab Ratschläge, sei es praktischer, sei es literarischer Art, Empfehlungen bei Veröffentlichungen oder Übersetzungsverträgen oder realisierte sogar gemeinsame Übersetzungsprojekte wie im Fall von Anatoli Naiman. Vier junge Leningrader Dichter, Bobyschew, Rejn, Naiman und Brodsky sind ihr Freunde in des Wortes höchster Bedeutung geworden, ohne altersbedingte Abstriche, ohne Generationskonflikt. In erster Linie gilt das Gesagte für die Gedichte und für die Persönlichkeit von Jossif Brodsky. Damals, Anfang der sechziger Jahre, war er gerade zwanzig Jahre alt. Und er war fünfundzwanzig, als er an Anna Achmatowas Grab stand. Als Dichter jedoch war er ein echter Zeitgenosse.
Unter den Jüngsten, die sie aufmerksam beobachtete, galt Brodsky in den letzten Jahren ihre besondere Aufmerksamkeit und ihr Interesse. Sie hielt ihn für beispielhaft auch in anderer Beziehung: wegen des Hintergrundes seiner Gedichte – englische metaphysische Dichtung und alte Kammermusik. Nach dem Sommer in Komarowo, wo Brodsky mit seinen Freunden beinahe täglich bei ihr gewesen war, erzählte Achmatowa, daß Brodsky auf einmal verschwunden und mehrere Tage nicht gekommen sei. Als er endlich wieder auftauchte und sie ihn nach der Ursache seiner Abwesenheit fragte, antwortete er, daß er nicht mit leeren Händen habe kommen wollen. Und ihr sei sofort klargeworden, daß er bis dahin stets mit einem neuen Gedicht oder einer neuen Schallplatte im Gepäck gekommen war. (W. Iwanow)
Freilich läßt sich diese Episode auch durch Brodskys Schüchternheit und seine Verehrung für Achmatowa erklären. Aber es hat doch den Anschein, daß in diesem Fall Achtung und Selbstachtung gleich schwer wogen. Die nun folgenden Briefe Achmatowas an Brodsky sind Ausschnitte eines Dialogs, und zwar eines Dialogs von Gleichstehenden.
20. Oktober 1964
Jossif,
aus den unendlichen Gesprächen, die ich mit Ihnen tags und nachts führe, müßten Sie hinreichend darüber unterrichtet sein, was geschehen und was nicht geschehen ist.
Geschehen:
aaaaaHier ist sie, des Ruhmes
aaaaahohe Schwelle,
aaaaaaber die listige Stimme
aaaaawarnte davor… usw.8
Nicht geschehen:
Es tagt – das Letzte Gericht usw.9
Versprechen Sie mir das eine – absolute Gesundheit, denn es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt als Wärmflaschen, Spritzen und hohen Blutdruck, aber das allerschlimmste – das alles ist irreversibel. Wenn Sie gesund sind, können vor Ihnen goldene Wege liegen, Freude und jene göttliche Vereinigung mit der Natur, die alle Leser Ihrer Gedichte in ihren Bann zieht.
Anna
Jossif,
Kerzen aus Syrakus. Ich schicke Ihnen die älteste Flamme, die wiederum beinahe Prometheus entwendet wurde.
Ich bin in Komarowo, im Haus der Künstler. In meinem Haus wohnt Anja samt Begleitpersonen: Heute bin ich dort gewesen und gedachte unseres letzten gemeinsamen Herbstes mit Musik, Brunnen und Ihrem Gedichtzyklus. Und dann tauchten wieder die rettenden Worte auf: „Das Wichtigste ist die Größe einer Idee.“
Schon wird der Himmel gegen Abend rosa, obwohl die Hauptstrecke des Winters noch vor uns liegt. Ich möchte meinen neuen Schicksalsschlag mit Ihnen teilen. Ich vergehe vor schwarzem Neid. Lesen Sie in Inostrannaja literatura, Nr. 12 „Die Ermittlung“ von Leon Filipe… Da bin ich neidisch auf jedes Wort, jede Intonation. Was für ein Alter! Und was für ein Übersetzer! Ich habe noch nie einen solchen Übersetzer gesehen. Sie sollten mir Ihr Beileid ausdrücken. Die Verse auf Eliots Tod10 sind vielleicht nicht einmal schlechter, aber da bin ich aus irgendeinem Grund nicht neidisch. Im Gegenteil – bei dem Gedanken, daß es sie gibt, wird mir heller zumute. Soeben erhielt ich Ihr Telegramm. Haben Sie Dank. Es kommt mir so vor, als hätte ich an diesem Brief sehr lange geschrieben.
Anna
15. Februar 1965
Komarowo
Jossif, Lieber!
Da die Zahl meiner nicht abgesandten Briefe an Sie unmerklich dreistellige Dimensionen annimmt, entschloß ich mich, Ihnen einen echten, d.h. einen real existierenden Brief zu schreiben (im Umschlag mit Briefmarke und Adresse), und wurde dabei ein wenig verlegen. Heute haben wir Peter und Paul – genau das Herz des Sommers. Alles strahlt und leuchtet von innen. Ich denke an viele verschiedene Peter-und-Paul-Tage.
Ich bin in der „Budka“. Der Brunnen knarrt, die Krähen schreien. Ich höre Purcell („Dido und Aeneas“), den ich auf Ihren Rat hin mitgenommen habe. Das ist etwas so Mächtiges, daß man darüber nicht sprechen sollte.
Es stellt sich heraus, daß einen Tag bevor wir England verließen, dort ein Sturm tobte, der sich zu einer wahren Katastrophe entwickelte. Über das Unwetter schrieben alle Zeitungen. Erst dann habe ich verstanden, warum ich aus den Abteilfenstern ein so schreckliches Nordfrankreich sah. Ich dachte damals: „Solcher Himmel paßt zu einer Entscheidungsschlacht“ (Natürlich war es der Jahrestag von Waterloo, das habe ich später in Paris erfahren.) Schwarze, wüste Wolken fielen übereinander her, die ganze Erde lag unter trübem braunem Wasser; Flüsse, Bäche, Seen waren über die Ufer getreten. Aus dem Wasser ragten Steinkreuze – nach dem letzten Krieg sind dort viele Friedhöfe und Massengräber. Dann Paris, glutheiß und fremd. Dann – der Rückweg mit dem einzigen Wunsch: so schnell wie möglich nach Komarowo; dann Moskau, und auf dem Bahnsteig alle mit Blumen, wie im schönsten Traum.
Haben sich die Mücken bei Ihnen beruhigt? Wir haben inzwischen keine mehr. Tolja und ich sind mit der Übersetzung von Leopardi demnächst fertig,11 und währenddessen schweifen die Gedichte irgendwo in der Ferne, rufen einander manches zu, aber niemand fährt mit mir dorthin, wo das Wunder von Rastrelli leuchtet und strahlt – die Smolny-Kathedrale. Ihre Worte vom letzten Jahr bleiben bestehen: „Das Wichtigste ist die Größe einer Idee.“
Danke für das Telegramm. – Der klassische Stil gelingt Ihnen ausgezeichnet, sowohl im epistolarischen Genre als auch in den Zeichnungen. Wenn ich sie betrachte, fallen mir immer die Illustrationen von Picasso zu den „Metamorphosen“ ein. Ich lese Kafkas „Tagebücher“.
Schreiben Sie mir.
Achmatowa, Juli 1965
Diese Briefe schickte Achmatowa an Joseph Brodsky in die Verbannung, in das Dorf Norinskaja. Brodskys Lyrik, seine Position war dem Regime inzwischen recht verdächtig vorgekommen. Er schrieb keine politischen Gedichte. Und schon das konsequent Apolitische seines Schaffens erweckte Mißtrauen und Ablehnung. Seine Gedichte wurden selbstverständlich nicht gedruckt. Später, vor Gericht, sollte er Nachweise und Bestätigungen dafür erbringen, daß er ein Dichter sei. „Ich denke, das kommt von Gott“ – das war eigentlich der höchste Beweis seiner Unschuld, den er in der Hand hatte. Formal wurde er des „Parasitentums“ beschuldigt; jeder sowjetische Mensch mußte ja in einem Arbeitsverhältnis stehen. Brodsky, der keiner regelmäßigen Beschäftigung nachging, wurde zur „Umerziehung“ im Dorf Norinskaja bei Archangelsk verurteilt. „Was für eine Biographie sie unserem Rotschopf bereiten“, sagte damals Achmatowa, die sein Schicksal in eine Reihe mit dem Mandelstams, Pasternaks und ihrem eigenen stellte.
Ende 1963, d.h. zu einer Zeit, die unvergleichlich leichter war als die Epoche unter Stalin, begann die Kampagne gegen Brodsky. Im November erschien in einer Leningrader Zeitung das Feuilleton „Eine literarische Drohne“, in der besten Tradition von Verleumdung und Aggressivität geschrieben. Damals wohnte ich in Moskau: Ich bekam die Zeitung am nächsten Morgen und traf mich sofort mit Brodsky, der kurz zuvor ebenfalls nach Moskau gekommen war, in einem Café. Unsere Stimmung war ernst, aber nicht gedrückt. Mitte Dezember lud Achmatowa Schostakowitsch zu sich ein, er war Deputierter beim Obersten Sowjet ebenjenes Bezirks von Leningrad, in dem auch Brodsky wohnte. Sie bat mich, ebenfalls anwesend zu sein, falls etwas richtiggestellt werden müßte, denn Brodsky war bereits aus Moskau abgereist. Schostakowitsch mit seinem nervösen Tic und der zungenbrecherisch undeutlichen Sprache, in die man sich angestrengt einhören mußte, versicherte Achmatowa immer wieder seine tiefempfundene und aufrichtige Verehrung, äußerte sich zu dem eigentlichen Anlaß aber eher uninteressiert und pessimistisch und stellte mir nur eine einzige Frage: „Hat er sich mit irgendwelchen Ausländern getroffen?“ Ich antwortete, daß er sich bestimmt mit Ausländern getroffen habe, aber… Er ließ mich nicht einmal ausreden: „Dann ist nichts mehr zu machen!“ und kam auf dieses Thema nicht mehr zurück. Als er sich verabschiedete, sagte er en passant, er würde der Sache nachgehen und alles tun, was in seiner Macht läge. Im Februar wurde Brodsky von der Straße weg in ein Auto gezerrt und auf dem nächsten Milizrevier in Verwahrung genommen. Einige Tage später kam er vor den Richter und wurde zur Begutachtung in ein Irrenhaus eingewiesen. Im März, bei der nächsten Verhandlung, wurde er wegen Parasitentums verurteilt und in ein Dorf im Gebiet Archangelsk verschickt. Währenddessen unternahmen Wigdorowa, Tschukowskaja und weitere zwei bis drei Dutzend Menschen, darunter Anna Achmatowa, verschiedene Versuche, ihn zu retten. War es Achmatowa, war es Tschukowskaja, eine von ihnen sagte, als sie die aus Leningrad eingetroffene Nachricht über die Verhaftung von Brodsky hörte: Schon wieder das: „Es ist erlaubt, für den Häftling eine Zahnbürste abzugeben, wieder das Rennen nach Wollsocken, warmer Unterwäsche, wieder Besuche im Gefängnis und wieder Pakete. Alles wie gehabt.“ (Anatoli Naiman)
Des Eigenen wegen werd ich nicht mehr weinen,
Doch bliebe mir auf dieser Erde nur erspart,
Das goldene Mal des Mißgeschicks zu sehen
Auf der noch unberührten Stirn.
1962
Die Freundschaft zwischen Achmatowa und Brodsky ist eine exzeptionelle Erscheinung, die sich nicht durch Tradition oder das Band zwischen den Generationen erklären läßt. Aber Achmatowa, mit ihrer feinen Empfindung für die Zeit, hat zweifellos in ihm und in seinem Kreis die neuen Zeitgenossen gesehen. Die Vergangenheit brachte sich immer wieder in Erinnerung. Aber die Jungen schenkten ihr die Hoffnung, daß sie doch überstanden war. Lydia Tschukowskaja erinnert sich an ein Gespräch mit Anna Achmatowa:
Wir fragten uns, ob das Jahr 1937 sich wiederholen könnte.
„Nein“, sagte Anna Andrejewna mit Nachdruck, „das kann es nicht. Und wissen Sie, warum? Weil der Hintergrund fehlt, vor dem Stalin dieses ganze Entsetzen hochpeitschte. Ein indirekter Beweis: Die heutige Jugend versteht uns beide, nicht wahr? Sie ist uns gegenüber ganz zahm. Sie gehört zu uns; aber damals, 1929, 1930, da war eine Generation, die nichts von mir wissen wollte: ,Wie? Die schreibt auch Gedichte‘. Das war die Generation, für die ich nicht mehr war als ein Schatten. Es gab mal alte Schrullen, die irgendwann früher ihre Gedichtchen gern lasen!
Und alle warteten auf einen neuen Dichter, der endlich das neue Wort sagt.
Achmatowas Worte klingen nicht unbescheiden. In ihnen äußert sich das Bewußtsein der Kontinuität von Geschichte und Kultur, die für die Zukunft unerläßlich ist. Und sie verstand, daß ihre Zeitgenossen, ihr eigenes Schicksal und ihre Dichtung Glieder dieser Kette sind.
Sie gedachte der Toten, insbesondere ihrer Jugendfreunde, in dem gleichen Ton und mit derselben Lebhaftigkeit wie eines Gastes von gestern, und häufig gerade im Zusammenhang mit dem Gast von gestern. Und obwohl sie oft sagte: „Ich bin jetzt Madame Larousse und werde über alles befragt“, bestanden ihre Antworten niemals aus enzyklopädischen Informationen im Fach Literar- und Kunstgeschichte, sondern aus Anekdoten; es waren niemals Urteile, sondern farbige Details. (Anatoli Naiman)
Dies gilt für ihre Erzählungen und auch für ihre Autobiographie.
Man traut seinen Augen nicht, wenn man liest, in den Petersburger Treppenhäusern habe es immer nach Kaffee gerochen. Dort gab es hohe Spiegel, manchmal Teppiche. In keinem Petersburger Haus roch es jedoch im Treppenhaus nach etwas anderem als nach dem Parfum der Damen und nach den Zigarren der hinauf- und hinuntergehenden Herren. Der Genosse meinte wahrscheinlich die Hintertreppe, das sogenannte schwarze Treppenhaus (das jetzt meist nur genutzt wird). Dort konnte es in der Tat nach allem möglichen riechen, weil dort sämtliche Küchentüren waren. Zum Beispiel nach Pfannkuchen in der Butterwoche, nach Pilzen und Sonnenblumenöl zur großen Fastenzeit und nach dem Stint aus der Newa im Mai. Wenn etwas stark Riechendes gekocht wurde, öffneten die Köchinnen die Türen zur Hintertreppe – „damit der Dunst abzieht“ (sagten sie). Aber meistens rochen alle „schwarzen“ Treppenhäuser nach Katzen.
Geräusche in den Petersburger Höfen. Erstens das Geräusch von Brennholz, das in den Keller hinabgeworfen wird. Die Leierkastenspieler („Sing, Schwalbe, sing! Gib Ruhe meinem Herzen…“), der Scherenschleifer („Schleife Messer, schleife Scheren…“), die Trödler („Chalat! Chalat!“), die alle Tataren waren. Verzinner. „Frische Wyborger Brezelnl“ Es hallte in diesen Höfen, in diesen Brunnenschächten.
Rauchsäulen über den Dächern. Die Petersburger holländischen Öfen. Die Petersburger Kamine, ein Wagnis mit untauglichen Mitteln. Die Petersburger Brände bei starkem Frost. Das Glockengeläut, übertönt von den Geräuschen der Stadt. Der Trommelwirbel, der immer an Hinrichtung erinnerte. Die Schlitten – mit Schwung gegen den Pfosten an den buckligen Brücken, die jetzt ihre Buckligkeit beinahe gänzlich eingebüßt haben. … Der Pferdekopf, bereift, mit Eiszapfen behängt, die beinahe bis auf die Schulter des Spaziergängers reichten. Aber welch ein Geruch nach Leder in der Droschke bei hochgeklapptem Dach im Regen! Ich habe fast den ganzen Rosenkranz in dieser Umgebung gedichtet und zu Hause die fertigen Gedichte nur niedergeschrieben.
Achmatowa wiederholte oft:
Nichts außer Religion ist imstande, Kunst entstehen zu lassen.
Sie hätte hinzufügen können, daß auch das Gedächtnis mit der Kunst unlösbar verbunden ist.
Die Erinnerung hat drei Epochen.
Die erste – als sei gestern es gewesen.
Die Seele weilt unter ihrem gesegneten Gewölbe,
Der Körper fühlt selig sich in ihrem Schatten.
Noch ist das Lachen nicht verhallt, noch strömen Tränen,
Der Tintenfleck ist noch nicht vom Tisch gewischt –
Und wie ein Siegel auf dem Herzen ist der Kuß,
Der einzige, des Abschieds, unvergeßlich…
Doch sie währt nicht lange…
Schon ist kein Gewölbe mehr über dem Kopf, nur irgendwo,
In abgelegener Vorstadt, ein stilles Haus,
Wo es im Winter kalt und heiß im Sommer ist,
Dort gibt es Spinnen, und überall liegt Staub,
Dort modern glühendheiße Briefe,
Und heimlich werden Bilder ausgewechselt,
Man geht dorthin, als ginge man zu einem Grab,
Und kommt man heim, so wäscht man sich mit Seife seine Hände
Und wischt die flüchtige Träne
Von den müden Lidern – und seufzt aus voller Brust…
Aber die Uhr tickt weiter. Ein Frühling löst
Den andern ab, der Himmel wird blaßrosa,
Die Städte ändern ihre Namen.
Die Zeugen der Ereignisse gehen dahin,
Niemand, mit dem man weinen, mit dem man sich erinnern kann.
Und langsam entfernen sich die Schatten,
Die wir nicht mehr beschwören,
Weil ihre Rückkehr für uns schrecklich wäre.
Und dann, erwachend, sehen wir, daß wir vergessen haben
Sogar den Weg zu diesem stillen Haus,
Und laufen, atemlos vor Scham und Zorn,
Dorthin, doch dort (wie es im Schlaf geschieht)
Ist alles anders: Menschen, Dinge, Mauern.
Niemand kennt uns. Wir sind Fremde.
Wir haben uns verlaufen… Oh, mein Gott!
Und jetzt tritt ein das Bitterste von allem:
Wir werden uns bewußt, daß wir nicht unterbringen können,
Das, was gewesen ist, in den Grenzen unseres Lebens,
Daß es fast ebenso fremd uns ist,
Wie unsern Nachbarn in der Wohnung,
Daß wir nicht mehr erkennen könnten jene, die schon gestorben sind,
Daß andere dagegen, von denen wir uns nach Gottes Willen trennten,
Vortrefflich ausgekommen sind, auch ohne uns – und daß sogar
Alles zum Besten war…
Diese sechste der „Nördlichen Elegien“, geschrieben 1945, nimmt die letzten Jahre Achmatowas vorweg, als sie nicht mehr wußte, „mit wem sie weinen und mit wem sie sich erinnern“ sollte. – „Wie schrecklich ist es, wenn alle Freunde sich in Gedenktafeln verwandeln!“ sagte sie oft. Sie sprach von diesen Freunden, als wären sie noch am Leben, wußte aber gleichzeitig, daß die Erinnerung eine schwere Bürde ist:
Ich erinnere mich an alles – das ist mein Unglück.
Das Unglück lag in dem Wissen, daß alles Gewesene noch lebt, aber nur in ihrem Innern.
Den Menschen meiner Generation droht keine traurige Rückkehr – wir wissen nicht, wohin… Manchmal glaube ich, man könnte ein Auto nehmen und an einem Tag, an dem das Vauxhall in Pawlowsk12 geöffnet ist ( wenn es in den Parks so menschenleer ist und so stark duftet), zu Stellen fahren, wo ein untröstlicher Schatten nach mir ruft, aber dann begreife ich langsam, daß es unmöglich ist, daß man in die Gemächer der Erinnerung nicht eindringen darf (und noch dazu in einer Benzin-Blechbüchse), daß ich dort nichts wiederfinden und nur das auslöschen würde, was ich heute so deutlich vor Augen habe.
Diese bitteren Zeilen entsprechen ganz genau den Erinnerungen von Alexej Batalow über die einzige Reise, die Achmatowa im Alter an die Stätte ihrer Kindheit unternahm – nach Zarskoje Selo.
Wir wandelten langsam über die Parkwege. Anna Andrejewnas Sätze und Bemerkungen ließen sich kaum zu einer zusammenhängenden Erzählung vereinen, obwohl sie offensichtlich, einfach aus Taktgefühl, mir bei diesem Spaziergang einiges erklären wollte. Aber genauso wie in anderen ähnlich schwierigen Situationen war sie ganz besonders sparsam mit Worten und eher trocken und sachlich in der Äußerung ihrer Gefühle. Sie blieb nicht in melancholischer Haltung stehen, sie versuchte sich auch nicht mit gefurchter Stirn zu erinnern, was hier oder dort gewesen war. Sie ging dahin wie ein Mensch, der plötzlich an der Stelle seines restlos niedergebrannten Hauses steht, wo unter den vom Feuer verunstalteten Trümmern mit großer Mühe die Überreste der seit seiner Kindheit vertrauten Gegenstände zu erahnen sind.
Die seit langem bekannten Orte erinnerten nun weniger an Kindheit und Jugend als vielmehr an alte und frische Gräber.
Im Herbst 1964 erfuhr Achmatowa vom Tod ihrer Lyzeumsfreundin Walja Tjulpanowa-Sresnewskaja.
Das kann kaum sein, denn du warst immer da:
Im Schatten seliger Linden, bei der Blockade und im Krankenhaus,
In der Gefängniszelle und dort, wo es die bösen Vögel,
Die üpp’gen Gräser und das unheimliche Wasser gibt.
Oh, alles ändert sich, doch du warst immer da.
Mir scheint, daß meiner Seele Hälfte mir genommen wurde,
Jene, die bei dir war – und in ihr wußte ich den Grund
Für Wesentliches. Und plötzlich vergaß ich alles…
Doch deine helle Stirn ruft von drüben mich,
Sie bittet, nicht zu trauern und auf den Tod zu warten wie auf ein Wunder.
So sei es! Versuchen wir’s.
Komarowo,
9. September 1964
Wer hätte geglaubt, daß ich für so lange vorgesehen war, und warum habe ich das nicht gewußt? Das Erinnerungsvermögen ist unwahrscheinlich geschärft. Die Vergangenheit kreist mich ein und fordert etwas von mir. Was eigentlich? Die geliebten Schatten der fernen Vergangenheit sprechen kaum noch zu mir. Vielleicht ist es für sie das letzte Mal, daß die Seligkeit, die die Menschen Vergessen nennen, ihnen vorenthalten wird. Worte steigen auf, die vor einem halben Jahrhundert gefallen sind und an die ich mich in den ganzen fünfzig Jahren kein einziges Mal erinnert habe. Es wäre komisch, wollte man das nur mit meiner sommerlichen Einsamkeit und mit der Nähe der Natur erklären, die mich schon lange nur an den Tod gemahnt.
Anna Andrejewna Achmatowa starb am 5. März 1966 in Domodedowo bei Moskau, in einem Sanatorium. Einige Tage zuvor war sie nach dem dritten Herzinfarkt aus dem Krankenhaus entlassen worden. Als sie im Sanatorium abermals einen Herzanfall erlitt, konnten die Ärzte nichts mehr tun.
Als ich Anna Andrejewna fünf Tage vor ihrem Ableben besuchte, unterbrach sie mich einmal gequält: „Draußen vor dem Fenster steht jemand und ruft mich. So etwas kommt nur im März vor. Haben Sie das nicht auch schon bemerkt?“ (Emma Gerstein)
Der Leichnam wurde in den Aufbahrungssaal eines Moskauer Krankenhauses überführt, das im neunzehnten Jahrhundert von Fürst Scheremetjew erbaut worden war. Über dem Tor ist dasselbe Wappen angebracht, das das Fontanka-Palais schmückt und als Motto über dem Poem ohne Held steht:
Deus conservat omnia.
Ein Kreis hatte sich geschlossen.
Nach allem, was wir hörten, kam Mütterchen Moskau (freilich das offizielle) nicht auf den Gedanken, Anna Achmatowa durch einen feierlichen Abschied vor ihrem letzten Weg zu ehren. Wozu soviel Aufregungen und Umstände: Sie hat das Wohnrecht in Leningrad, soll doch Leningrad ihr das Geleit geben. Dennoch gelang es einigen Dutzend ihrer Verehrer, in der Aufbahrungshalle von ihr Abschied zu nehmen. Am 9. März, gegen fünf Uhr nachmittags, landete das Flugzeug mit ihrem Sarg in Leningrad. Darauf wurde sie in der Nikolski-Kathedrale aufgebahrt.
Von diesem Augenblick an war ich unmittelbarer Zeuge allen Geschehens und möchte nun meine Eindrücke mit Ihnen teilen, solange sie in meinem Gedächtnis noch frisch sind.
Am 9. März betrat ich gegen sechs Uhr nachmittags die Kathedrale. Es wurde der in der Großen Fastenwoche übliche Gottesdienst abgehalten, und die vielen Betenden nahmen von der verstorbenen Dichterin nicht die geringste Notiz. Ihr Sarg, geöffnet und von Blumen ganz bedeckt, stand inzwischen im rechten halb beleuchteten Seitenschiff, umgeben von einigen Dutzend ergriffen schweigenden Menschen. Diese ersten Minuten hinterließen einen ganz besonders starken Eindruck. Ich stand zwei Schritte vom Sarg entfernt und betrachtete lange das schöne, vom Tod nicht entstellte, leidvolle Antlitz mit dem charakteristischen Profil… Ich hatte keine Gelegenheit gehabt, Achmatowa zu ihren Lebzeiten zu begegnen, und das war also meine erste Begegnung mit ihr…
Es wurde eine Seelenmesse gelesen, eine Stunde später die zweite.
Nach der ersten Seelenmesse bahnte sich Lew Nikolajewitsch Gumiljow den Weg durch die umstehenden Menschen – mittelgroß, von mittlerem Alter mit deutlich ergrauendem Haar und mit Gesichtszügen, die sehr an seine Mutter erinnerten. Er trat an den Sarg und blieb dort stehen. Bei der zweiten Seelenmesse hatten sich viele Menschen versammelt, obwohl in der Kirche nichts angekündigt worden war.
Am nächsten Tag war ich gegen 11 Uhr vormittags wieder in der Kathedrale. Es wurde der übliche Gottesdienst abgehalten. Jetzt stand der Sarg im Zentrum der Kathedrale vor dem Altar. Inzwischen hatten sich so viele Menschen eingefunden, daß es kaum möglich war, an den Sarg heranzukommen. Am Sarg stand wieder Gumiljow. Von den Schriftstellerkollegen war keiner gekommen, und wer von den weniger bekannten auch dagewesen sein mochte, er blieb abseits stehen. Eine halbe Stunde später war die Kathedrale überfüllt, man konnte sich kaum umdrehen. Auch draußen vor dem Eingang drängte sich das Volk. Und was für ein Volk. Fast ausschließlich junge Menschen, Studenten. Um 12 Uhr begann die Aussegnung. Für den Erzpriester und den Diakon, beide in weißen Gewändern, war es eine gewohnte, aber diesmal mühevolle Aufgabe. Sie hatten wohl kaum je Gelegenheit gehabt, eine Aussegnung vor einer so zahlreichen (im wesentlichen atheistischen Menge) zu zelebrieren…
Nach der Seelenmesse schritten alle Anwesenden langsam an dem offenen Sarg vorbei, um Abschied zu nehmen.
Gegen 14 Uhr wurde der Sarg in den Schriftstellerverband überführt, dort sollte eine weltliche Totenfeier stattfinden. Ich bin auch dort gewesen. Es waren so viele Menschen anwesend, wie dieses verhältnismäßig kleine Gebäude nur aufnehmen konnte. Die anderen harrten auf der Straße aus…
Die Beisetzung fand, vermutlich nach ihrem letzten Willen, am selben Tag in Komarowo statt. Ich kam dort mit der Eisenbahn eine Stunde vor der festgesetzten Zeit an. Die Straße vom Bahnhof zum Friedhof war bereits voller Menschen und Autos. Ein kleiner verschneiter Friedhof, mitten im Wald. Auf der rechten Seite am Ende eines Weges an der Friedhofsmauer das ausgehobene Grab. Gegen sechs brachte man den Sarg. Inzwischen hatten sich ziemlich viele Menschen (vielleicht 150 bis 200) versammelt; Studenten waren nicht mehr dabei. Vor allem ein gebildetes Publikum, mittleren Alters und einige Schriftsteller. Am offenen Grab sprach als erster, im Namen der Moskauer Schriftsteller, Sergej Michalkow, dann G. Makogonenko für die Leningrader Schriftsteller und als dritter Arseni Tarkowski.
Alle Redner sprachen sehr gut: Von der großen Dichterin, deren Name in der ganzen Welt bekannt ist, von der tiefen Aufrichtigkeit ihres Schaffens, von ihrem schönen, stolzen, aber schweren und bitteren Schicksal und schließlich von der Verfolgung ihres Talents. Und das alles ohne eine Spur von Förmlichkeit, tiefempfunden, aufrichtig, menschlich.
Der Sarg wurde in das Grab hinuntergelassen. Die gefrorene Erde schlug hart auf dem Sargdeckel auf, alle standen in tiefem Schweigen, bis der kleine Hügel mit einem weißen Holzkreuz fertig war, mit Kränzen und Sträußen aus frischen Blumen geschmückt… (Anatoli Alexejew an Gleb Struwe, 15. März 1966)
Joseph Brodsky
AUF DAS JAHRHUNDERT ANNA ACHMATOWAS
Die Seite eines Buchs – und Feuer, das Samenkorn – und Mühlstein,
Die Schneide eines Beils – und durchgehacktes Haar –
Behütet alles Gott, doch ganz besonders Worte
Der Liebe und Vergebung, Seiner Stimme gleich.
In ihnen pocht der aussetzende Puls, in ihnen ist der Knochen Kreischen hörbar,
In ihnen klopft des Totengräbers Spaten; gleichmäßig und ein wenig dumpf,
Weil man das eine Leben hat, erklingen sie aus einem Mund, der sterblich ist,
Viel deutlicher als aus der Wolkenwatte.
Du große Seele, Dank über die Meere hinweg,
Dafür, daß du sie fandest – dir und dem vergänglichen Teil,
Der in der heimatlichen Erde schläft, die
Durch dich gewürdigt ward der Rede Gabe
Im taubstummen All.
1989
versteht sich als ein Mosaik, zusammengefügt aus Lebenszeugnissen und Werk, wobei Achmatowas Lyrik durchgehend als Spiegelung des Erlebten gesehen wird. Interpretation und Formales – Sprache, Stil, konstante oder sich wandelnde Bilder – treten angesichts einer Biographie zurück, die für das zwanzigste Jahrhundert exemplarisch ist. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint eine wortgetreue, interlineare Übersetzung der zitierten Gedichte als angemessene Lösung, da jede Nachdichtung ihren Tribut verlangt, was bedeutet: unvermeidliche inhaltliche Einbußen.
Im Jahre 1910 heiratete Anna Gorenko, die spätere russische Dichterin Anna Achmatowa, den Dichter Nikolai Gumiljow. Die Reise nach Paris, das sie zum ersten Mal sah, war ihre Hochzeitsreise.
Anna war einundzwanzig, und es war noch nie ein Gedicht erschienen, das mit dem Namen „Achmatowa“ gezeichnet war.
In Paris, im Sommer 1910, begegnete sie Amedeo Modigliani. Er war sechsundzwanzig und nahezu unbekannt. Sie trafen sich nur wenige Male, doch den ganzen Winter über schrieb er ihr Briefe nach Rußland.
Vous êtes en moi comme une hantise.
Sie behielt diesen Satz aus einem seiner Briefe.
Und bereits ein Jahr später kam sie als die Anna Achmatowa nach Paris. Sie wurde inzwischen publiziert und hatte sich für das Pseudonym entschieden, das sie am Ende ihres Lebens auch unter ihre Erinnerungen an Modigliani setzen sollte.
Modigliani kannte die russische Sprache nicht, ahnte aber in ihren Gedichten das Wunder. Von seinen eigenen Gedichten hat er ihr nie erzählt. Doch sie lasen einander Verlaine und Baudelaire vor und freuten sich, daß sie sich an dieselben Verse erinnerten.
Modigliani stand damals im Bann Ägyptens und zeichnete Achmatowa im Kostüm ägyptischer Königinnen und Tänzerinnen. Insgesamt entstanden sechzehn Zeichnungen; es waren die ersten Porträts von Anna Achmatowa. Er wünschte, alle sechzehn sollten in ihrem Zimmer hängen. Diese Zeichnungen, die Briefe und die Fotografie einer Plastik blieben ihr als Reliquien ihrer Begegnung – sie sollten einander nie wiedersehen.
Sieben Jahre später war in Rußland alles verändert. Modiglianis Zeichnungen – alle, bis auf eine einzige – gingen verloren, auf dem Speicher des Hauses in Zarskoje Selo waren sie den Rotarmisten für die Selbstgedrehten sehr willkommen. Auch das Haus, in dem Achmatowa damals in der Familie der Gumiljows lebte, wurde kurz darauf zerstört. Ein anderes Zuhause hat sie ihr ganzes langes Leben nicht gefunden. Zusammen mit den verbrannten Archiven gingen „in den Zeiten der großen Verluste“ die Briefe und die Fotografie von Modiglianis Plastik verloren. „Das verwüstete Haus“ sollte das Schicksal ihres Lebens werden:
Was hab ich schon für Hab und Gut – nur den Modi unter den Arm nehmen und gehen.
Auf allen ihren Wegen begleitete sie stets die einzige ihr gebliebene Modigliani-Zeichnung.
1965, nachdem ein langes und schweres Leben hinter ihr lag, kam Anna Achmatowa noch einmal nach Paris, das sie vierundfünfzig Jahre lang nicht wiedergesehen hatte. Doch es war nicht mehr jenes „echte“ Paris, das ihr einst Modigliani gezeigt hatte.
Das Haus in der rue Bonaparte, aus dessen Fenster sie, hinter der Jalousie versteckt, den vor dem Haus auf und ab wandelnden Modigliani beobachtet hatte, stand immer noch. Ein altes Haus, wohl aus dem 18. Jahrhundert, eines von jenen, wie sie in diesem Quartier häufig sind.
Achmatowas Schicksal schien sich zu vollenden, ein Kreis, in dem Anfang und Ende zusammenfallen. Sie starb acht Monate nach der Rückkehr aus Paris – am 5. März 1966.
„Klagende Muse“ hat Jossif Brodskij seinen Essay (1982) über Anna Achmatowa überschrieben, den die Herausgeber der Biographie von Amanda Haight hinzugefügt haben. „Auf das Jahrhundert Anna Achmatowas“ heißt ein Brodskij-Gedicht aus dem Jahre 1989 – es steht am Ende des Buches von Jelena Kusmina. Der junge Brodskij gehörte zu dem engsten Kreis der Dichter und Freunde, die Anna Achmatowa im hohen Alter bewundernd und lernend umgaben, die sie zu Grabe trugen. Nimmt man den Untertitel der Biographie Jelena Kusminas hinzu. „Ein Leben im Unbehausten“, dann läßt sich der Lebensweg Anna Achmatowas kaum besser benennen.
„Klagende Muse“, sagt Brodskij, nicht trauernde, in der Klage liegt das Aufbegehren, das Sich-nicht-Beugen, die letztlich ungebrochene Würde einer Frau und ihrer makellosen Dichtung, die mit dem eigenen Schmerz dem aller anderen Frauen des Jahrhunderts die Stimme verleiht. In einem Gedicht Anna Achmatowas heißt es:
Alle sind fortgegangen und niemand ist zurückgekehrt… Sie beschmutzten das allerreinste Wort… Sie trennten mich von meinem einzigen Sohn… Ich werde als Wahnsinnige der Stadt auf stillgewordenen Plätzen umherstreifen. (Übertragung aus der Biographie von Amanda Haight)
Man gerät in Versuchung, auch in einer Besprechung der Biographien die klassisch schöne Lyrik zu zitieren.
Die Verfasserinnen beider Lebensbeschreibungen haben die Gedichte in ihre Texte verwoben. Und die Gedichte werden jeweils in wortgetreuer, interlinearer Übersetzung wiedergegeben, was ausgesprochen zu begrüßen ist, da der Leser so einen ganz ursprünglichen Eindruck von der Dichtung erhält. Amanda Haight gibt immer zugleich mit der Darstellung der Lebensabschnitte auch eine Deutung der Gedichte, was wohl daher rührt, daß das Buch aus einer Dissertation entstanden ist. Diese Darstellungsweise hat Vor- und Nachteile. Das Buch erhält so eine gleichmäßige Struktur, läßt aber dem Leser weniger Raum für eigene Assoziationen und sein Stil ist (oder die Übersetzung?) leider zuweilen etwas trocken. Trotzdem muß diese deutsche Ausgabe zwanzig Jahre nach der englischen Erstveröffentlichung als Verdienst gewürdigt werden, weil Amanda Haight noch selbst mit Anna Achmatowa gesprochen hat und ihre Darstellung unmittelbar unter diesem Eindruck entstand. Jelena Kusmina bezieht sich unter anderem auch auf die Mitteilungen von Amanda Haight und erzählt, daß die russische Dichterin zu der englischen Slawistin großes Vertrauen gehabt habe. – „Achmatowa hat ihr viel diktiert oder ihr einfach von ihrem Leben und von ihren Gedichten erzählt.“
Das Erscheinen beider Biographien gleichzeitig in Deutschland kann die literarische Öffentlichkeit ohne weiteres verkraften, ist doch bisher vieles aus dem Leben der Achmatowa und ihrer Dichtung nur bruchstückhaft bekannt gewesen. Der vielleicht größte und erschütterndste Gedichtzyklus Requiem erschien in der BRD erst 1989, als er auch erstmals in der Sowjetunion veröffentlicht wurde (rund dreißig Jahre nach Achmatowas Tod).
Das Leben, das die Biographien beschreiben, könnte insgesamt mit einer Kapitelüberschrift von Jelena Kusmina benannt werden: „Den Schmerz in Kraft umschmelzen“. Lebensstationen können nur in Stichworten genannt werden: Weltkrieg, Revolution, Stalinismus, „Säuberungen“, Besetzung. Der erste Mann, der Lyriker Nikolai Gumiljow, wurde 1921 erschossen, Nikolai Punin, den die Achmatowa in dritter Ehe heiratete, kam 1953 im Lager um wie vorher viele Freunde, unter ihnen Mandelstam und Pilnjak. Ihr einziger Sohn mußte achtzehn Jahre in Haft verbringen. In Requiem beschreibt sie das Leid einer Frau, deren Sohn verhaftet ist und die mit einem Päckchen für ihn vor dem Gefängnistor wartet.
Von 1923 bis zu ihrem Tod 1966 hat Anna Achmatowa keinen einzigen Band veröffentlichen können. Sie lebte „unbehaust“ und trug ihre Gedichte in einer kleinen Schatulle bei sich. Einiges schrieb sie zunächst nicht auf, unter anderem die Gedichte zu Requiem. Wären sie gefunden worden, hätte das ihren und den Tod des Sohnes bedeuten können. Erst später hat sie es mühsam rekonstruiert. All dies ist nun in den Biographien nachzulesen – bei Jelena Kusmina noch vollständiger als bei Amanda Haight.
Kusmina, Mitarbeiterin am neugegründeten Achmatowa-Museum in St. Petersburg, hat ein brillantes, spannendes und fast atemlos zu lesendes Buch geschrieben, in das sie bisher noch nicht veröffentlichte Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen der Dichterin eingebaut hat. Dazu enthält das Buch sehr viele (ebenfalls bisher noch unveröffentlichte) Fotos, die eine Ergänzung zu den Abbildungen der anderen Biographie bilden. Das Buch fordert geradezu heraus, die Gedichte einer der größten Dichterinnen unseres Jahrhunderts ganz neu zu lesen.
Der Zeitgenossin Gorkijs und Tschechows sind mehr Gedichte gewidmet worden, als sie geschrieben hat. Sie war – auch im Alter – die Muse von so unterschiedlichen Künstlern wie Amedeo Modigliani, Boris Pasternak und Jossif Brodskij. Erfüllt von hohem schriftstellerischem Sendungsbewußtsein beeinflußte die „Lichtgestalt der russischen Literatur“ die Lyriker der nachrevolutionären Zeit – bis heute. Sie revanchierten sich mit Kränzen von Widmungsgedichten. An Hommagen und Oden an die Dichterin hat es seit ihrem ersten spektakulären Auftreten als neunzehnjährige Schönheit mit Ponyfrisur in der Petersburger Boheme nie gefehlt. Ihre Geschichte kann man als Heiligenvita, als Musenschicksal, als Intellektuellenpassion eines Stalinopfers oder auch als pathologischen Fall einer gescheiterten Mutter lesen, die ihren einzigen Sohn für ihre Gedichte opferte. Und natürlich wird keine dieser Lesarten ihrer widersprüchlichen Figur gerecht. Achmatowas tragisches Leben (1889–1966) wurde bisher immer als Legende verklärt. Darin unterscheidet sich auch die neue Biographie von Jelena Kusmina nicht von früheren Lebensbeschreibungen. Es gab lesenswerte, interessante Ansätze von Raissa Orlowa Kopelew, auch von Achmatowas engeren Gefährten, ihrer Freundin Lydia Tschukowskaja und von ihrem späteren literarischen Sekretär Anatoli Naiman. In England brachte Amanda Haight 1976 A Poetic Pilgrimage, Gespräche mit der Achmatowa, heraus, zu denen die Dichterin eindringlich aufgefordert hatte. Immer noch unveröffentlicht sind dagegen die Erinnerungen der 1903 geborenen Achmatowa Vertrauten Emma Gerstein. Die Achmatowa Gemeinde wartet seit langem auf sie. Der Versuch der jungen Literaturwissenschaftlerin Jelena Kusmina, die im neuen Petersburger Achmatowa Museum arbeitet, ist also keineswegs, wie von Rowohlt Berlin annonciert, die „erste“ biographische Annäherung. Die Photos und auch die meisten der kompilatorisch verarbeiteten Texte sind – zumindest Achmatowa Kennern bekannt. Dennoch wird Kusminas Buch (wohlorientiert vor allem über die Jugendzeit) ein weiterer, notwendiger Pfeiler einer künftigen verbindlichen Biographie der Dichterin sein.
Ein Leben als Legende, an dessen Ranken die Poetin selbst flocht:
Ich bin mit Charlie Chaplin, Tolstois Kreutzersonate, dem Eiffelturm und glaube ich – Eliot im selben Jahr zur Welt gekommen. In jenem Sommer, 1889, feierte ganz Paris das Hundertjahrfest des Sturms auf die Bastille.
Geschickt benutzt die Biographin Bruchstücke aus Achmatowas raren eigenen Lebenszeugnissen als Gerüst für ihre Annäherungen. In jedem Kapitel sind längere autobiographische Zitate und Gedichte verarbeitet. Die Quellen zitiert die Autorin jedoch leider nicht. In deutscher Übertragung sind sie greifbar als „Autobiographische Skizze – Pro domo mea“ in dem schön aufgemachten Achmatowa Gedichtband Poem ohne Held des Steidl Verlags; auszugsweise wurden sie auch gedruckt in dem bibliophilen, leider inzwischen nur noch in Antiquariaten zu entdeckenden Gedichtband des Limes Verlags Das Echo tönt.
Biographie als Collage. Die Verfasserin sieht sich selbst als Mosaiksteinlegerin. Und dabei leistet sie beachtliche Fleißarbeit. Gerade diese emsige Anstrengung offenbart allerdings die Schwäche des Buches. Es ist über weite Strecken ungewöhnlich informativ, doch hinter dem additiven Charakter der Sammlung geht die Größe und Passion der „Anna von ganz Rußland“ verloren. Vor lauter Bemühen um den Scoop neuerlicher Enthüllungen findet sie nicht zur Seele, zum Innenleben dringt sie nicht vor.
Das Lebensbild der Poetin, die zusammen mit Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam und Boris Pasternak zum großen russischen Dichtergeviert dieses Jahrhunderts gehört, wird verkleinert zu einem Legendenbuch, das sich um die kritischen, die spannenden Brüche in Achmatowas Leben drückt. Gern hätte man endlich einmal auch ihre erzwungene Stalin Ode, ihre Loblieder auf die sowjetische Freiheit aus dem Zyklus „Es lebe der Frieden“ gedruckt und kritisch kommentiert gesehen. Die Achmatowa hatte sie – unter Schmach und Scham – zur Freilassung ihres inhaftierten Sohnes geschrieben. Lew Gumiljow, Achmatowas einziges Kind, aus ihrer ersten Ehe mit dem 1921 erschossenen Lyriker Nikolaj Gumiljow, verbrachte insgesamt achtzehn Jahre in Gefängnissen und Straflagern. Mit seiner Qual sollte die Mutter gestraft werden, in der Stalin eine seiner „ärgsten Feindinnen“ sah. Da sich die „wie Melpomene“ leidende Mutter weigerte, bestimmte Gedichte aus ihrem Repertoire zu entfernen, das ohnehin jahrzehntelang nicht gedruckt wurde, hielt man zur Strafe den Sohn als Psycho Geisel. Mutter und Sohn blieben auch nach seiner Freilassung unversöhnt. Wenig erfährt der Leser über diese Konflikte, in denen die Achmatowa kaum als Idol taugt.
Überraschendes und Reizvolles hat Jelena Kusmina jedoch aus Achmatowas Boheme Zeit ausgegraben, mancherlei amüsante Anekdote der Pariser Begegnungen mit dem verliebten, blutjungen Modigliani, der ihr nachts auf den Parkbänken im Jardin du Luxembourg Verlaine Verse vorsang. Genau sind Kusminas Recherchen zur katastrophalen Editionsgeschichte Achmatowas. Nach jahrzehntelangem erzwungenem Schweigen war es der Lyrikerin nicht einmal in ihren letzten Lebensjahren vergönnt, einen einzigen unzensierten Band mit ihren Gedichten in der Hand zu halten, mit „Gedichten, die noch leben, noch ungezähmt, mit Hörnern, Hufen und einem Schwanz“. Bitter empfindet sie sich als „eine heilige, aber vor allem eßbare Kuh, geformt aus einer Art Hackfleisch, das der Herausgeber durch den Fleischwolf seiner eigenen Zeit gedreht hat“. Auch dieses drastische Zitat fand Kusmina bei einem anderen Biographen, bei Anatoli Naiman.
Swetlana Geiers Übersetzung ist zu loben, vor allem die wortgetreue, interlineare Übertragung der Lyrik. Die Anmerkungen zu den dreihundertfünfzig Seiten der deutschen Ausgabe füllen keine zwei Seiten. Ein Quellenverzeichnis fehlt ganz; unverzeihliches Manko einer Biographie, deren Vorgaben allerdings besonders schwierig waren. Achmatowa hat kaum Lebenszeugnisse hinterlassen und aus Angst alle Manuskripte, Skizzen und Briefe verbrannt. Die Gedichte überlebten, auswendig gelernt, nur im Gedächtnis weniger Zeugen. Stalins Schergen hatten viele ihrer Freunde, auch zwei ihrer Ehemänner, auf dem Gewissen. Der stalinistische Überwachungsapparat verschonte sie nicht, hatte sie auf grausamste Weise zum Überleben verdammt, etikettiert als „übergeschnappte, feine Dame, die zwischen Boudoir und Betstube pendelt. Nonne und Hure zugleich“. Eine Biographie über die hoheitsvolle Dichterpriesterin, die sich selbst vom Altar stieß und unliebsame Verszeilen schamvoll überklebte, bevor sie ihre Belegexemplare an Freunde weitergab; ein Buch über diese kontroverse, menschlich fehlende Achmatowa steht noch aus. Vielleicht muß man mindestens neunzig sein, um die Lebensgeschichte dieser Jahrhundertgestalt zu schreiben, so alt wie Emma Grigorjewna Gerstein, auf deren Achmatowa Buch wir weiter warten. Mit Ungeduld.
Joseph Brodsky spricht über Anna Achmatowa.
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Anna Achmatowa
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Jürgen P. Wallmann: Die Stimme des Leidens Russlands
Die Tat, 2.3.1968
Ilma Rakusa: Kompromisslos im Leben und im Wort
Tagesanzeiger, 21.6.1989
Birgitta Ashoff: Anna von ganz Rußland
Die Zeit, 23.6.1989
Anna Achmatowa Begräbnis.
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