Jewgeni Jewtuschenko: Mutter und die Neutronenbombe

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Jewgeni Jewtuschenko: Mutter und die Neutronenbombe

Jewtuschenko/Picasso-Mutter und die Neutronenbombe

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Mein Verhältnis zu Christus
war kompliziert
aaaaaaaaaaaaawie bei jedem sowjetischen Kind,
das erzogen gemäß dem Buch Pawlik Morosow,
Ich ging nicht zur Kirche –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas war nicht erwünscht,
ich trug auch kein Kreuz –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadas war nicht Mode,
war nicht wie jetzt,
aaaaaaaaaaaaaaaawo im Schwimmbad Moskwa
ich einen Jungen sah –
im Umkleideraum
aaaaaaaaaaaaaaahängte er geschäftig
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaasein rotes Pioniertuch auf,
behielt das billige Kreuzchen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaber am Hals…
Vor langer Zeit stand
aaaaaaaaaaaaaaaaaan der Stelle des Schwimmbads
eine Kathedrale des Erlösers Christus;
sie wurde gesprengt,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaund eine vergoldete Kuppel mit Kreuz,
gut erhalten,
aaaaaaaaaaalag da
aaaaaaaaaaaaaaaawie der gesprungene Helm eines Recken.
Dann begann man zu baun den Palast der Sowjets,
doch am Ende wurde das Schwimmbad daraus,
von seinen Dämpfen, heißt es,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaanehmen im Museum nebenan
die Farben der Impressionisten Schaden.
Mir tut’s leid um die Kirche,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadoch wenn sie nun schon
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaazerstört,
hätt ich mir gewünscht einen Lenin,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamit der Hand die Wolken zerteilend…
in einer Hütte,
in Sibirien,
aaaaaaaaaim Jahr einundvierzig,
eine alte Frau betete für ihren Sohn,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaader an der Front verschollen,
sie verneigte sich vor der Ikone,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaerinnernd an einen bärtigen Partisanen
aus einem Film über den Krieg,
gedreht in Taschkent,
aaaaaaaaaaaaaaaaaabeim friedlichen Rauschen der Gebirgsbäche.
Die Alte verbeugte sich vor Gott,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie man sich vor dem Weizen verbeugt,
wenn man ihn mäht mit der Sichel,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie vom Tau benetzt;
sie verbeugte sich vor Gott
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawie vor der Natur,
wenn man Milchpilze sammelt und Preiselbeeren;
sie betete zu Gott,
aaaaaaaaaaaaaaaakaum die Lippen bewegend,
und Gott betete zu ihr,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaöffnete die Lippen kein Stück…
Pferdediebstahl ist heute
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaavon Ikonenraub verdrängt,
damals gab’s einfach Rußland
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund keine Ikonendiebe,
die, um „Kunst zu retten“,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalten Frauen stahlen
die Möglichkeit, zu ihrem Gott zu beten,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund gleichzeitig Gott
das geheiligte Mittel
aaaaaaaaaaaaaaaaazu beten zu solch alten Fraun.
Seither sah manchen Christus ich
in Kirchen,
aaaaaaaaaMuseen,
aaaaaaaaaaaaaaaaauf dem Bildschirm,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain Music-Halls
und wurde selbst fast ein Christus,
als mir anbot Pasolini
in seinem Film Matthäuspassion
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadie Hauptrolle.
Er versicherte in einem Brief
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaan eine hochgestellte Persönlichkeit,
der Film würde gedreht im Sinne des Marxismus,
doch das half ihm nicht,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaund ich sag „Gott sei Dank“,
denn um ehrlich zu sein,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaawar ich stets schon der Meinung,
daß der Platz von Jesus Christus
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaain einer Hütte sei.

 

 

 

Ein poetischer Aufruf zur Tat für den Frieden

– Dichterlesung mit Jewgeni Jewtuschenko im TiP. –

Daß Jewgeni Jewtuschenko ein Dichter europäischen Ranges ist, weiß man. Daß er rezitieren kann, hat sich längst herumgesprochen. Moskauer Meetings Tausender mit ihm sind schon zu einer Art Mythos geworden. Ich erlebte ihn vor etwa 15 Jahren dort, in einem großen Saal. Nun hatten wir ihn am Wochenende fast hautnah vor uns — im TiP. Der Dichter, international bekannt geworden unter anderem auch durch sein Lied „Meinst du, die Russen wollen Krieg?“, war anläßlich der DDR-Buchpremiere seines Poems Mutter und die Neutronenbombe (Nachdichtung Aljonna und Klaus Möckel) Gast des Verlages Volk und Welt.
Ein Poet, Mime und Rhetor von außergewöhnlichem Format in Personalunion, mit einer Stimme, die unter die Haut geht: So lernte das Publikum den Fünfzigjährigen an zwei Abenden im TiP kennen.
Jewtuschenko sieht sich konsequent als politischer Dichter. Damit steht er in einer großen Tradition, wie seine innige Bindung an Majakowski ausweist. Seine Dichtung zeichnet sich stets durch die Gestaltung eines großen, für die Gesellschaft bedeutsamen Gegenstandes aus. Die jüngste Probe davon, das Poem Mutter und die Neutronenbombe, ist eine leidenschaftliche poetische Warnung, ein Aufruf zugleich, mit aller Energie den Kampf gegen jene imperialistischen Kräfte zu führen, die die Menschen in ein atomares Inferno stürzen wollen.
Im Verlauf des anregenden Programms erklärte der Dichter auch seine Ansichten von dem, was Kunst soll und kann. Er begreife als maximale Aufgabe, an der Veränderung der Welt mitzuwirken, hob er hervor. Die minimale Aufgabe bestehe darin, dem einzelnen Menschen im Leid beizustehen. „Uninteressante Menschen gibt es nicht“, meinte er. In einer für diese philosophisch-ästhetische Grundhaltung bezeichnenden Geschichte berichtet er von einer Hochzeit in Sibirien zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges 1941. Ein Hohelied auf den Heroismus der Soldaten und der Frauen, die zu Hause kämpften, auf Unsterblichkeit im Zeichen der Liebe, ein Zentralthema des Dichters. Deutlich bildete diese Episode die Stoffgrundlage für das Gedicht „Hochzeit“, das ebenfalls vorgetragen wurde.
Jewtuschenko moduliert verhalten-eindringlich die leisen Töne, etwa bei den Gedichten „Einsamkeit“ oder „Freundin, schlaf“, ist voller Gefühl im Elegischen, doch auch die heiteren, ja komischen Töne beherrscht er souverän. Das Gedicht „Zwei Städte, ja und nein“ (Nachdichtung Volker Braun) möge dafür stehen. Ganz in seinem Element ist er, wenn er mit großem Gestus und dem Pathos des Herzens Zeugnis von tragischen Ereignissen der Geschichte gibt. Mit „Stenka Rasins Hinrichtung“, „Hochzeit“ oder „Babi Jar“ erreichte er starke Wirkung. Daneben hatte es selbst ein guter Schauspieler wie Dieter Mann, der die deutschen Nachdichtungen vortrug, zunächst nicht leicht zu bestehen. Im Laufe des Abends wurden beide ein gutes Duo, eine innige Gemeinschaft auch mit dem Publikum.
Leidvolles, Freudvolles nebeneinander in diesem Programm lebensnaher Poesie. Es brachte eine Mischung aus bekannten und neuen Texten und endete mit dem Vortrag eines Stücks aus dem genannten Poem Mutter und die Neutronenbombe. Anschließend konnte man den Text erwerben, mit J. J. signiert.

Heinrich Einbeck, Neues Deutschland, 7.9.1983

Zuversicht, daß der Frieden für immer gesichert werden kann

Mutter und die Neutronenbombe — ein Poem von Jewgeni Jewtuschenko. –

Nichts paßte zusammen,
kein Rhythmus, kein Reim,
das Ganze zerfiel
ohne bindenden Leim…

schreibt Jewtuschenko über einen Platz in Perugia und gibt zu: „Der Platz ähnelte diesem Poem, oder war das Poem dem Platz ähnlich?“ Doch dann tauchen zwei Arbeiter in Monturen einer Bonbonfabrik auf und kleben Plakate mit der Aufschrift „Stopp der Neutronenbombe und den anderen Bomben!“, und es fügen sich zusammen „die Stücken des Platzes und der Epoche“. Der rote Faden ist gefunden, der die scheinbar in keiner Beziehung zueinander stehenden Impressionen, Gedanken, Erinnerungen des Autors zu einem Kunstwerk verbindet, das der wichtigsten Frage unserer Zeit gewidmet ist — dem Kampf für den Frieden. Man spürt, daß das Poem aus tiefer Betroffenheit heraus entstand. Der Dichter reagierte damit unmittelbar auf den Beschluß der USA vom August 1981, mit der Produktion von Neutronenwaffen zu beginnen und überhaupt die atomare Hochrüstung noch weiter anzuheizen. Er mußte seiner Empörung darüber Ausdruck geben, wie unverfroren die Reagan-Administration von der Möglichkeit eines begrenzten Kernwaffenkrieges in Europa zu sprechen begann. Welch gefährliche Illusion, denn „sterben wird durch das Atomschwert, / wer es hebt!“

Ein Protest gegen die Pläne des Imperialismus
Wie Visionen eines kranken Hirns wirken Bilder von einer Welt der Dinge, die durch die Neutronenbombe nicht zerstört werden und nun ohne die Menschen ein Eigenleben führen. Der Dichter wählte eine solche Zuspitzung, um deutlich zu machen: Es ist verbrecherisch, es widerspricht jedem gesunden Menschenverstand, was der Imperialismus heute versucht, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Bedroht von solchen Wahnsinnsplänen ist die ganze Menschheit, deshalb auch ist die Welle des Protestes so stark und weltumfassend, werden alle humanistischen Traditionen dafür mobilisiert.
Wenn sich Jewtuschenko in seiner Dichtung auch seit jeher zu publizistischer Direktheit bekennt, ein Poem ist kein Artikel. Der Autor mußte nach einer der Kunst gemäßen Art und Weise suchen, die aktuelle politische Situation zu veranschaulichen. Er fand sie in einer punktuellen Darstellung verschiedenartigster Details, die der Leser selbst mosaikartig zusammenfügt, sowie sie auch im Erleben des Dichters verbunden sind.

Außerordentlich präzise deutsche Nachdichtung
Für mich stellten sich übrigens beim Lesen des russischen Originals und der deutschen Übersetzung völlig übereinstimmende Eindrücke her. Die Nachdichter Aljonna und Klaus Möckel arbeiteten äußerst präzise, vermieden es tunlichst, sich selbst in den Vordergrund zu drängen.
Das Poem scheint zuweilen zur Prosa zu geraten, wenn Jewtuschenko Reisen durch die Sowjetunion, nach Italien oder nach den USA beschreibt. Doch geschickt fängt sich der Autor im letzten Moment, indem er die Beschreibung in großen poetischen Bildern kulminieren läßt. Bei solch einem globalen Thema, wie er es sich stellte, brauchte er geographische Weite und auch geschichtliche Tiefe. Letztere erreicht er mittels eigener Erinnerungen an das Moskau der Nachkriegszeit, an den Vater, einen lettischen Mathematiker, und an den Großvater, einen belorussischen General, vor allem aber mit Hilfe zweier Frauengestalten — seiner Mutter und der Großtante Hanna aus Belorußland.

Meine Mutter war Komsomolzin
in rotem Kopftuch und Lederjacke.

Weiter erfahren wir:

Mutter
gewann
den Vaterländischen Krieg.
An der Front sang sie von LKW
und sogar von den ,Katjuschas‘ herab.

Heute ist sie

zweiundsiebzig, Rentnerin also,
doch sie arbeitet noch…
Am Rigaer Bahnhof der Zeitungskiosk
stellt ihre Welt dar.

Die Erfahrungen der Revolution, der sowjetischen Geschichte fließen in dieser Gestalt zusammen. In einem Traum des Dichters verkauft die Mutter ungerührt Zeitungen von übermorgen, aber der Sohn weicht zurück, er fürchtet schlimme Neuigkeiten. Das ganze Poem handelt eigentlich davon, wie er dennoch schließlich Kraft und Zuversicht gewinnt.
Dazu trägt vor allem auch eine Begegnung mit der Schwester des Großvaters, Mütterchen Hanna aus dem belorussischen Dorf Chomitschi, bei. Alles, was diese Frau tut, ist von selbstverständlicher Sicherheit — daß sie einst den Faschisten widerstand und die Partisanen nicht verriet, daß sie trotz ihres hohen Alters heute auf dem Feld mitarbeitet und zur Situation in der Welt eine eigene Meinung hat:

… wo in Amerika,
oder in Afrika
gute Menschen leben,
da sind sie für mich Jewtuschenkos.
Drum hör niemals auf,
in der Welt nach Verwandten und Gleichgesinnten zu suchen,
du wirst welche finden…

„Mütterchen du der ganzen Welt“ nennt Jewtuschenko diese Bäuerin mit den „Vergißmeinnichtaugen“ und knüpft damit, wie auch mit dem Titel des Poems, an ein Motiv an, das uns aus der Kunst der Vergangenheit wohlbekannt ist: Eine Mutter ist gegen den Krieg, weil sie das Leben nicht vernichtet sehen will, das sie geboren hat. Es drückten sich in diesem Bild nicht etwa nur weibliche Bestrebungen aus, sondern allgemein eine Haltung, die allen tätigen Menschen eigen ist. Wer die Mühen des Bauens kennt, kann nicht leichtfertig zerstören. Und wurde doch jahrhundertelang dazu gezwungen. So trafen wir die Gestalt der Mutter in der Malerei, in der Plastik, in der Dichtung, Prosa oder Dramatik auch oft im stillen Gram oder im zornigen Aufbegehren, wenn sie die Mörder verflucht.

Menschheitstraum in einer großen Vision
Daß Jewtuschenko seine Muttergestalten ganz anders darstellt, deutet auch auf ein objektiv verändertes Kräfteverhältnis. Die Friedenssehnsucht der Völker kann sich heute erfüllen. Das Erstarken der sozialistischen Länder und der fortschrittlichen Kräfte in der Welt schafft dafür die Möglichkeit.
In einer Vision am Schluß des Poems läßt Jewtuschenko die alte Hanna an einem Friedensmarsch teilnehmen, „getragen von den Arbeitern der Fabrik ,Ponti‘“, „von den Studenten der Universität“, „von Tolstoi getragen / wie von Ghandi“, „von Christus / auf seinen nageldurchbohrten Händen, / während sie flüsternd bespricht / auf Polessje-Art seine Wunden“, „auf den Armen von Einstein, Niels Bohr“. Und die Mutter verkauft Zeitungen von übermorgen mit der Nachricht: „Ab heut und für immer / ist abgeschafft der Krieg.“

Irmtraud Gutschke, Neues Deutschland, 7.11.1983

Genosse Reagan, der Gulag und Gedichte

– Jewgeni Jewtuschenko und Heiner Müller unterhielten sich auf der Bühne des Berliner Ensembles. –

Der Sibirier Jewgeni Jewtuschenko ist Schamane im Hauptberuf. Diesen Beruf auszuüben, war freilich nicht leicht im Rußland dieses Jahrhunderts. Zwar projizierte die dort länger herrschende Ideologie das Glück und die Erlösung weit hinaus in eine leuchtende, geradezu jenseitige Zukunft, aber insgesamt ging es doch eher materialistisch und atheistisch zu. Jewtuschenko ergriff die Profession des Dichters und konnte – nicht immer unbedrängt – weiter seinem Hauptberuf frönen. Er tut es bis heute. Und wie er mit seinem tranceartigen Tanz-Sprech-Gesang zuerst sich selber und dann den Saal des Berliner Ensembles in Schwingungen versetzte, war ein Beleg dafür, daß seine schamanische „Maniefähigkeit“ seit den 60er Jahren – als er anläßlich seiner „Lesungen“ Stadien füllte – nicht abgenommen hat. Nur die Knochen, das gab er zu, waren früher elastischer.

Stuntman für Juhnke
Sein Gesprächspartner Heiner Müller, Metaphysischem ebenfalls nicht abgeneigt, geriet darüber so in Entzücken, daß er weniger reden, und schon gar nicht vorlesen wollte. Zumal er sich nur als „Stuntman für Harald Juhnke“ auf dem Podium sah. Und damit es „dem großen Künstler Harald Juhnke“ recht bald besser gehen möge, wurden die Gläser auf sein Wohl erhoben. Müller – na, klar – zischte da wohl den ersten Whisky des Abends, Jewtuschenko trank standesgemäß Wodka. Ansonsten beschränkte sich der BE-Hausherr vor allem aufs Zuhören, warf nur gelegentlich eine Anekdote ein (wie etwa Chruschtschow und Ulbricht in einer Berliner Klozelle erwischt wurden, als sie ungestört reden wollten) und hin und wieder ein Sprengsel MarxFoucaultBaudrillardSchmitt.

Von Funke zu Funke
Es war ein überaus unterhaltsamer und spannender Abend, und das lag wohl vor allem daran, daß die beiden Gesprächspartner weitgehend aneinander vorbeiredeten. Was gibt es Öderes als ein aufgeregtes Streiten, bei dem keiner ein Jota von seiner Position abweicht, oder den Austausch tiefsinniger Reflexionen, die nur ein stummes Nicken zulassen? Jewtuschenko und Müller warfen sich von unterschiedlichen Ebenen die Gedanken zu, und ein jeder antwortete nicht eigentlich, sondern griff sich heraus, was er als Anregung brauchen konnte. Die Repliken entzündeten sich an einem Funken und verselbständigen sich dann. Und einer hörte dem anderen beinahe andächtig zu. Andreas Christoph Schmidts zurückhaltende Moderation und Übersetzung war sehr angenehm und behinderte nicht. Müller über seine Schwierigkeiten, in Kalifornien Havannas zu erstehen – Jewtuschenko über den jungen Castro, die heutige Kuba-Krise, Revolution, Fanatismus, den jungen Lenin und die Möglichkeiten der Entspannung. Feindvernichtung schafft neue Feinde und neues Blut, lautet Jewtuschenkos Conclusio, und Müller bestätigt: Das sei wie mit Grass’ neuestem Buch. Die Schläge, die der Autor einstecken müsse, seien letztlich ein Resultat des Untergangs der DDR und des ganzen Ostblocks. Ein Vakuum sei entstanden, aber noch immer sei man fixiert auf einen Feind, lauere verdeckt hinter einem Baum, und plötzlich kommt der ahnungslose Grass mit einem neuen Buch daher. Das fällt wieder Jewtuschenko ein: Es gehe aber auch mit der großen Geste des Ausgleichs. Wie auf jenem Moskauer Empfang mit Ronald Reagan während der Gorbatschow-Zeit. Ein sowjetischer Literaturfunktionär spricht Reagan mit „Genosse“ an und nennt die beiden Friedenskönige „einen kollektiven Jesus Christus“. Und Reagan, angesprochen auf seinen spektakulären Radioauftritt, in dem er das „Reich des Bösen“ identifiziert hatte, wischt das mit versöhnlichem Lächeln vom Tisch: „Ach, Ihr Lieben, das waren doch nur Dummheiten, nicht der Rede wert.“ So spricht man sich durch die Jahrhunderte, vom Bauernkrieg zur Französischen Revolution, vom Gulag zum Zweiten Weltkrieg, von den Revolutionen zur Buchproduktion, von der Kulturpflicht des Staates zum „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“.

Bruderküsse
Irgendwann erwacht in Müller wieder die Lust an der schamanischen Theatralik, und er nötigt Jewtuschenko freundlich, mal wieder ein Gedicht vorzutragen. Der tut’s, Sergej Gladkich übersetzt tapfer vom Blatt, und Jewtuschenko legt nach. Diesmal mit einem feurigen Poem, bei dem es ihn nicht mehr auf der Bühne hält, sondern in den Zuschauerraum zieht. Am Ende gab es viel Applaus, herzliche Umarmungen und: endlich mal wieder Bruderküsse!

Gregor Ziolkowski, Berliner Zeitung, 2.9.1995

 

 

 

FÜR JEWGENI JEWTUSCHENKO UND DIE ANDERN

Ach, schreibt doch neue Gedichte
leise, noch nicht entfremdet
der inneren Wortgeburt.
Gedichte, sagt Jewtuschenko,
die sich spiegeln wie Berge
in allen Fenstern.

Nicht nur in den Fenstern,
sage ich,
in den Herzen, die
hinter den Fenstern
schlagen.

Verlasst die Spur,
auf der ihr, wie Langläufer
über die Piste fliegend,
euer Herz versprecht
dem beflügelten Ruhm,
der lockend seine heimliche
Grube gräbt.

Denn längst will eure Seele
den Eispanzer sprengen.
In euren Augen
will die Träne wachsen,
die Angst.
Ihr wollt doch frei sein
für die Zärtlichkeit.

Eure neuen Gedichte,
die leisen,
in einsamen Blicken
werden sie wohnen.
Und eure Stimme,
wiegend die Angst,
eure lächelnde Stimme
wird auch die ihre sein.

Lilly Ronchetti

 

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin
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Zum 80. Geburtstag des Autors:

Lothar Müller: Poesie mit Schiebermütze
Süddeutsche Zeitung, 18.7.2013

Hans-Dieter Schütt: Sowjetischer Schlawiner
neues deutschland, 18.7.2013

Nachrufe auf Jewgeni Jewtuschenko: NZZ ✝ SZ ✝ nd ✝ WSWS ✝
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