RINGELRHEINE
(erster frühlingstag in Saarbrücken 1982)
Ringel ringel Rheine
für vier mühlensteine
der erste mein verstand
äußerlich und wacklig
der zweite ist die hand
mehr und mehr ohnmächtig
der dreht sich als patsche
zu deiner pawlatsche
so wahr er dir da winkt
nicht endet wringt und wringt
cosi van tute
ganz schief der gute
der dritte kugelklein
fürs leckermaul dem schmeckts
der vierte ganz vom Rhein
vom leben des insekts
wen zermahlen sie da
wen sonst dich ganz und gar
schlampenfetzlein
unterm mahlstein
Wenn wir uns Jiří Grušas Gedichten nähern, sollten wir vergessen, dass er Diplomat, Politiker, Emigrant, Prosaautor oder Übersetzer war. Man muss zum Anfang seines literarischen Schaffens zurück und sich nur auf Gruša als Dichter konzentrieren.
Sein dichterisches Erstlingswerk trägt den einfachen Namen Torna (Tornister) und dieser Name verweist scheinbar auf die unkomplizierte Welt des Wanderns, der Titel kann aber auch auf den Aufenthalt des Autors beim Grundmilitärdienst 1962 hinweisen. In Böhmen sagt man, dass einer sein Ränzlein nimmt und geht, der Dichter Gruša nimmt einen Tornister, eine Tasche über die Schulter, die nur siebzehn Gedichte beinhaltet, in denen nach Meinung des Kritikers Jiří Karfík möglicherweise noch eine postnezvalsche Reimstruktur überwiegt. Bemerkenswert an dem Debüt ist ein Gefühl analytischen Denkens, ohne lyrische Zierde und Girlande. Das Zivile der Gedichte zeigt sich nicht nur in der Wahl der Motive wie Bus, Zug, Beobachtung, Fahrschein, Köfferchen, sondern auch in der Arbeit mit dem Gedächtnis. „Pamět’ jsou ptáci / vyhnaní z budek“ (Erinnerungen sind vögel / aus dem vogelhaus verjagt) schreibt er in seinem Gedicht „Pamět’“ (Erinnerungen). Der Leser fühlt Leere, Verlassenheit und Einsamkeit, typisch für das weitere Schicksal des Dichters, aber zugleich ist das auch als Bild für ein ausgeleertes Gedächtnis zu verstehen. Denn wer kein Gedächtnis hat, existiert nicht, vor allem in Mitteleuropa.
Jiří Červenka schreibt in seiner kritischen Reflexion auf Torna über die liebenswerte Wehmut des Debütanten, verweist aber auch schon auf das Schlüsselmotiv des künftigen Dichterwerks.
Bei Gruša erscheint öfter als bei seinen Zeitgenossen das Motiv des Todes – aber nicht nur des Todes während der Okkupation, des historischen Todes, sondern auch deines und meines, des täglichen und des gewöhnlichen Todes.
Welche Zeitgenossen sind gemeint? Es handelte sich um die starke, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre und zu Okkupationsbeginn in der Tschechoslowakei geborene Dichtergeneration – Petr Kabeš, Ivan Wernisch, Antonín Brousek, Jiří Pištora oder Miloslav Topinka –, die sich um Sešity pro mladou literaturu (Hefte für junge Literatur) und vor allem um die Zeitschrift Tvář (Gesicht) scharte, wo Jiří Gruša und sein Freund Jiří Pištora kurzzeitig als Redakteure tätig waren. Für diese Generation, die in den 1960er Jahren debütierte und mit Beginn der „Normalisierung“ durch die kommunistische Macht nach 1968 zum Schweigen gebracht wurde, ist das neue Modellieren und Entdecken der Sprache typisch. Diese Generation stieß während ihres Reifens unmittelbar mit dem Stalinismus zusammen, den man mit dem glücklichen Aufbauen einer neuen Welt gleichsetzte.
Man sagte uns: so haben wir gelitten, so haben wir geblutet; aber dann setzten sie uns in ein Wägelchen und wir fuhren durch die Kurven dieser Jahrmarktsattraktion – hinter jeder Kurve eine Leiche. Und wenn wir uns zurückbeugten, die Augen schlossen oder uns einfach übergaben, sagten sie uns, es ist doch für euch, ja, das ist trotz allem Sozialismus. (Jiří Gruša, 1982)
Marie Langerová fügt hinzu:
Aus der Sprache wird ein Monstrum, das die Macht darstellt, und im Beobachten seiner Bewegungen ist etwas Masochistisches. Es zeigt sich darin eine gewisse Vernichtungskraft, über die man zwar lachen kann, aber dieses Lachen wird zur Grimasse, zur schwarzen Groteske, zum Totentanz, zum Gebet und zur Welt des Jenseits.
Alle diese Merkmale gelten von Torna an für das gesamte dichterische Werk Jiří Grušas, schon in dieser Sammlung erscheinen Neologismen wie: zobanátek (schnabler ), vyčítač (vorwerfer) oder klovnutí křehkolásků (picken der liebesspätzchen).
Beim zweiten Bändchen Jiří Grušas Světlá lhůta (Helle Frist) von 1964 handelt es sich um eine Reihe von im freien Vers geschrieben Gedichten, oft im Titel als Lied bezeichnet („Píseň o našem stínu“ – Lied über unseren schatten, „Píseň o větrném stromu“ – Lied vom windbaum, „Píseň o zkoušení noci“ – Lied von der versuchung der nacht), deren Thema das Suchen nach Sicherheit und ihrem Verlust ist. Zugleich äußert sich implizit die gesellschaftspolitische Erfahrung:
Podepiš přiznání
a já tě popravím
nebot’ zítra je den poprav
(Unterschreib das geständnis / und ich richte dich hin / denn morgen ist der tag der hinrichtungen).
Und wieder erscheinen hier die Worte als Stoff des Lebens, als greifbar Zeugen der Zeit:
Dotýkaly se mne tlapky slov
a že jsem mlčel
byly shovívavé
(Pfoten der worte berührten mich / und da ich schwieg / waren sie nachsichtig).
Grundsätzlicher aber äußert sich Jiří Gruša in seinem dritten Gedichtband, der damals nicht erschien und erst 2003 in einer Gesamtausgabe der Gedichte veröffentlicht wurde. Er trägt den Titel Právo útrpné (Tortur) und weist mit seinem Namen auf das Folterrecht bei Verhören hin.
Jiří Gruša schreibt dazu:
Dieses Buch übergab ich Anfang 1964 dem Verlag Mladá fronta. Ivan Diviš nahm es als Herausgeber an. Aber schon im Oktober desselben Jahres erbat ich es zurück, niedergedrückt von der Polemik, die um meine Tätigkeit in der Zeitschrift Tvář ausbrach, wegen der strafrechtlichen Verfolgung und der damit verbundenen offiziellen Grobheiten, aber auch wegen des Schweigens vieler Freunde. Es ist ein Zeitdokument – auch meiner Fehler.
Das Buch gliedert sich im Unterschied zu den beiden vorangegangenen in drei Teile, jeweils von einer antiken Figur – Empedokles, Hephaistos Kinder und Kerberos Klage – eingeführt. Das in diesen Figuren Angedeutete wird dann in den nachfolgenden Gedichten erweitert und wieder wendet sich der Autor historischen Ereignissen zu, die deformiert und uminterpretiert werden. Den Höhepunkt dieses Zeitabschnittes stellen aber unbestritten die beiden nächsten Bände Cvičení mučení (Üben Martern) und Modlitba k Janince (Gebet an Jana) dar.
Cvičení mučení, eine Sammlung aus dem Jahr 1969, sind Gedichte voller Zeitlosigkeit, ohne konkreten Raum, voller auflodernder Erotik – „až by ta má prsatá / kozatá a zubatá / až by se natáhla / až by mě zalehla // nic bych jí neodpotěděl / jenom bych ležel // její klín držel // tu rybu dlouhou“ (wenn sie wäre vollbusig / sensenfrau und hochbrüstig / wenn sie sich würde strecken / wenn sie mich würd erdrücken // nichts würde ich ihr sagen / würde nur liegen // ihren schoß wiegen // den langen fisch) – und liedhafte Stücke, quasi Volkslieder in einfacher Sprache mit lexikalischen Neuschöpfungen, die in Litanei, Gebet, Anbeten und Sprachritual wechseln. Neben ausdrucksvollen Tierwesen erscheinen hier auch Familienmitglieder wie Bruder, Schwester, Geliebte, Vater, Mutter. Die ausgeprägte Intimität nahestehender Wesen entfaltet sich dann tiefer und erotischer im folgenden Bändchen Modlitba k Janince. Diese Sammlung, zwischen 1969 und 1973 entstanden, erschien im Samisdat und offiziell erst 1994 im Prager Verlag Český spisovatel.
Die dunkle Seite der tschechischen Poesie, die bis Karel Hynek Mácha zurückführt, wird hier durch zwei Leitmotive angedeutet – Liebe und Tod, „… hloub do mě / přirážej“ (… tiefer rein / stoß nur zu) zugleich in sprachlich vergrübelten Ausdrücken wie „pomorče inkoustů / pláč zastudenců z Pilan / pitvance řincenec / a spílán // jdu vyzván k zásoiní / a plný měsiměře / si čmuchám k zdechýním / zda vypustili šeřeň //“ (meerschweinisch der tinten / gelüstrerweinen aus Eifrerstädt / sezerrer geklärrer / und geschmäht // zur hintrsau gefordert / vollvolles michmuster / schnuff hin zu krepierinnen / ob sie rousließen dämmr //). Hier ist Jiří Gruša auf dem Höhepunkt seines dichterischen Schaffens, hier hat er wahrscheinlich erreicht, was er wollte. Zu dieser Zeit widmet er sich aber schon der Prosa, die Poesie wird beiseitegeschoben.
Gruša kehrt in seinen heimatlichen Sprachraum erst 2001 mit dem Buch Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto (Grušas Wacht am Rhein oder Wanderghetto), das Texte aus den Jahren 1973 bis 1989 enthält, zurück. Es sind meistens Gedichte, die mit konkreten Begebenheiten oder Orten verbunden sind. Es handelt sich aber um keine Gedichtsammlung im wahren Wortsinn, sondern um eine zeitlich gebaute Zusammenstellung, in der wir auch eines seiner stärksten Gedichte, das zum Tod seines Sohnes – „Modlitba za Martina Gruša“ (Gebet für Martin Gruša) – lesen können. Der Literaturwissenschaftler Jiří Trávníček bemerkt in seiner Rezension zu diesem Band, dass es „… in seinen Versen viele Attacken auf die Mythologie der realsozialistischen Tschechoslowakei, Paraphrasen, grinsende Verdrehungen, Blasphemie gibt“. Das ist unbestritten, aber zugleich ist Jiří Gruša in diesen Gedichten am meisten er selbst und entblößt sich bis zum Äußersten, seine Ich-Form ist weitestgehend persönlich, vereinfacht gesagt – der Dichter versteckt sich kaum noch hinter seiner Sprache. Der Band erhielt nicht nur den Preis Magnesia litera, sondern auch den hochgeschätzten Jaroslav-Seifert-Preis. Bei seiner Entgegennahme sagte Jiří Gruša:
Ich war nie ein Emigrant, ich war nur aus der tschechischen Sprache ausgewiesen von Menschen, die über sie nichts wussten, weil sie den Machtschwatz sprachen. Ich litt darunter. Und das Buch, das Sie jetzt ausgezeichnet haben, ist der Beweis dafür. Sie konnten mich aber nicht aus der Gemeinschaft der Tschechen und aus der tschechischen geistigen RES PUBLICA ausweisen. Ich bin froh und dankbar, dass ich ihr unaufhebbares Bürgerrecht erhalten habe. Einen von den Briefen, die ich damals ins Gefängnis bekam, schrieb ein gewisser V. Havel. Es war in ihm ein Satz, der mich sehr ermutigt hat: Vergiss nicht, dass auch eine Außenwelt existiert. Ich habe es nicht vergessen. Deswegen kann ich jetzt zurück hinein in die Welt kommen. In die Welt der tschechischen Sprache.
Können wir uns ein besseres Happy End vorstellen? Der Dichter Jiří Gruša ist in Böhmen zurück und wird gepriesen. Irren wir uns aber nicht, so geht das bei uns nicht. Ich bin mir sicher, als Dichter wird Jiří Gruša erst zuletzt wahrgenommen. Es ist wirklich schade, Poesie ist für das Publikum wieder das Aschenputtel.
Eingangs habe ich geschrieben, man müsse zurückkehren. Kehren wir also in die Geburtsstadt des Dichters zurück, nach Pardubice, in die literarische Landschaft, die auch die Dichter Vladimír Vokolek, Petr Kabeš trug, und lassen zum Schluss Jiří Gruša selbst sprechen. Beim Abschied von Jiří Pištora im Oktober 1970 in der Prager Viola, sagte er:
Wir treffen uns nur noch aus Pietät. Wir sprechen nur noch, weil jemand sprechen muss, ein Verbliebener – zu Hinterbliebenen? Es verbinden uns am Ende nur die Toten. Die Toten ans unserer Mitte, unsere Toten? Sie erinnern daran, was wir gemeinsam sind.
Radek Fridrich, Vorwort
(Aus dem Tschechischen von Eleonora Jeřábková)
Dieser Band enthält die tschechischen Gedichte Jiří Grušas, soweit sie in den hier angeführten Ausgaben veröffentlicht worden sind:
Torna (Tornister), Mladá fronta, Praha 1962
Světlá lhůta (Helle Frist), Československý spisovatel, Praha 1964
Právo útrpné (Tortur), AKROPOLIS, Praha 2003
Cvičení mučení (Üben Martern), Československý spisovatel, Praha 1969
Modlitba k Janince 1969–1973 (Gebet an Jana 1969–1973), Český spisovatel, Praha 1994
Grušas Wacht am Rhein aneb Putovní ghetto. České texty 1973–1989 (Grušas Wacht am Rhein oder Wanderghetto. Tschechische Texte 1973–1989 ), Paseka, Praha – Litomyšl 2001
Aus den Bänden Tornister, Helle Frist und Tortur wurde von Eleonora und Mojmír Jeřábek sowie Eduard Schreiber eine Auswahl getroffen. Für Auswahl und Übertragung ins Deutsche wurde die Ausgabe Jiří Gruša, Právo útrpné, Verlag AKROPOLIS, Praha 2003, herangezogen. In dieser Ausgabe sind enthalten: Torna, Světlá lhůta, Právo útrpné (hier zum ersten Mal überhaupt veröffentlicht), Cvičení mučení , Modlitba k Janince. Modlitba k Janince erschien zwischen 1970 und 1989 in neun Samisdateditionen.
Die Bände Üben Martern und Gebet an Jana sind vollständig ins Deutsche übertragen.
Bei Grušas Wacht am Rhein oder Wanderghetto wurde auf die Gedichte „Gegen morgen“ (s. Anm. S. 191), sowie „Geschehen“ und „Stalo se“ verzichtet. Letztere sind als der von Gruša als misslungen beurteilte Versuch anzusehen, das eine (deutsche) in das andere (tschechische) zu übersetzen. Auch „Les Babylon“ (Der Babylonwald) wurde nicht aufgenommen, da eine von Gruša selbst verfasste deutsche Version existiert. Das „Totengebet 01. für Martin Gruša“ ist nicht übersetzbar.
Ausgewählte Originalgedichte aus den einzelnen Bänden sind synchron zu den deutschen Fassungen eingefügt.
Gruša mischt in einigen seiner Gedichte die Sprachen – es gibt deutsche, englische, französische, lateinische Wörter oder gar Verse, abgesehen von Ortsangaben, die auf die Entstehung eines Gedichts hinweisen.
Was von Gruša im tschechischen Original deutsch geschrieben wurde, erscheint in den Übertragungen stets kursiv, alle übrigen fremdsprachigen Einschiebsel bleiben unübersetzt in der jeweiligen Fremdsprache stehen, so wie sie im Original erscheinen.
Eigenheiten und Zeichen der Schreibweise Grušas wurden beibehalten, ebenso die Zeichensetzung. Abweichende Formen in den deutschen Fassungen sind gewollt.
Die deutschen Fassungen folgen konsequent der Kleinschreibung, um auch visuell dem tschechischen Original nahe zu sein.
Eduard Schreiber
Jedes Gedicht hat einen Raum, den es mehr oder minder intensiv ausfüllt. Ist es ein Gedicht in einer fremden Sprache, so ist es für mich zunächst ein Klangraum, der mich horchen lässt – wie klingt es, wenn ich es mir laut vorlese, erst dann versuche ich sein Sagen zu erfassen. Ein Gedicht benennt etwas, was ich so noch nicht kenne. Ich betrete eine mir unbekannte Sprachlandschaft und versuche Klang, Rhythmus und Wörtern Bedeutungen zuzuschreiben oder aber auch zunächst nur Gefühle. Woher kommt das Gedicht, frage ich mich, aus welchem Anderswo in mein Haus – und wie betritt es mein Haus, wie führt es sich darin auf. Gleich wie, ich muss es willkommen heißen, der Gast kommt von Gott, sagen die Georgier, und wenn ich es gar aus einer mir fremden Sprache verstehen will, muss ich mich ihm mit Neugier, Geduld, Vorstellungskraft und Erfindungsgabe annähern.
Brauche ich eine Neigung, gar Sympathie für die Sprache, in der das Gedicht spricht, brauche ich Neigung oder Sympathie für den Dichter, der es geschrieben hat, muss ich neugierig sein?
Bei den Gedichten Grušas bestimmten Umstände das Unternehmen, die auf den ersten Blick möglicherweise zufällig erscheinen, dennoch sind es Fakten, die einer bestimmten Ironie der Geschichte nicht entbehren.
Seine Gedichte interessierten mich, auch weil sie in manchem aus dem tschechischen Kanon herausfielen, weil sie in ihrer Form offen, aber auch geheimnisvoll und weit entfernt von jeder ideologischen Verführung waren. Und sie interessierten mich, weil Gruša mit einigen anderen jungen Dichtern so etwas wie eine kleine Palastrevolution im hoffnungsvoll sich erneuernden tschechoslowakischen Literaturbetrieb in der Zeit des Prager Frühlings vom Zaun gebrochen hatte, Vorgänge, die aus meiner Perspektive damals, der Perspektive der DDR, schwer zu verstehen und noch weniger zu interpretieren waren.
Gruša und ich sind beinahe gleichaltrig, er ist mir ein halbes Jahr voraus, wir sind etwa 150 km voneinander entfernt geboren und aufgewachsen, er mit der tschechischen, ich mit der deutschen Sprache. Zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Gründen sind wir aus dem Land unserer Geburt vertrieben worden und haben beide später in die Sprache des anderen gefunden, Gruša auf einer für ihn existenziell gewordenen Ebene, ich eher auf der Ebene einer Nebenbeschäftigung. Also war von Anbeginn an nicht nur Neugier vorhanden. Die zwei oder drei Begegnungen, die wir hatten, haben diese Neugier befördert, aber nie mit der Erwartung, dies könnte einmal zu einer intensiven Beschäftigung führen.
Wenn ich beginne, ein Gedicht zu übersetzen – ich spreche lieber vom Übertragen –, heißt das, ich muss ihm Gewalt antun, ehe es in einer neuen, einer anderen Form wieder ersteht. Der Spielraum liegt im Ermessen und der Sensibilität dessen, der ein Gedicht in eine andere Sprache bringen will. Gedichte sind fragile Gebilde, die zärtlich berührt werden wollen. Aber zu zärtlich darf ich auch wieder nicht sein, manche Gedichte verweigern den Zugriff, ihre Haut ist rau, stachlig, hat Widerhaken, was auf viele Gedichte Grušas zutrifft. Ich muss in die Tiefe, ich muss ihre Haut aufreißen, muss in den Eingeweide wühlen. Ich muss mir bewusst sein, dass immer eine Kluft bleiben wird zwischen dem, was ich zu übertragen hatte, und dem, was am Ende als ein „anderes“ Gedicht gelesen wird. Dabei sollte der Interpretationsraum nicht zu eng aufgefasst werden – wie gehe ich mit den Erfindungen, den auch aus den Momenten eines schöpferischen Augenblicks heraus geborenen Worten um, von denen ich ahne, was sie meinen könnten, es aber nicht sagen kann. Das Gedicht hat dann nicht nur eine andere Form angenommen, die Wörter haben ein anderes Umfeld, der Leser stattet die Wörter mit anderen Erfahrungen aus, es klingt anders.
Michael Hamburger, ein Dichter, den ich sehr verehre, erklärt Übersetzen zu einem Akt, der Eindeutigkeit verweigert. Für ihn, den nach England emigrierten deutschen Juden, der deutsche und englische Dichtung hin- und hergetragen hat, gibt es nie nur eine Lesart. Er, der leidenschaftliche Obstbauer, der sich in Suffolk, wie er sagt, auf den Anbau von fast ausgestorbenen Apfelsorten spezialisierte, hätte mir sicher zugestimmt, warum ich, um den Reim einer Apfelsorte auf Jungfrau zu finden – Gruša reimt Jungfrau, also Panny auf die Apfelsorte jonatány –, auf Graue Renette kam. Die Verse gehen so:
kdo ti do dělával
pod obrazem Panny
ze skříně se mu
po zádech
koulely jonatány
wer hat’s dir besorgt
unterm bild der Jungfrau
aus dem schrank
ihm auf den rücken
kullerten renetten grau //
Zunächst versuchte ich es mit dem Aargau-Apfel, da dies aber eine weniger bekannte Sorte ist, entschied ich mich für Renette, auch an Hrubíns Novelle Zlatá reneta (Goldrenette) von 1964 und den gleichnamigen Film Otakar Vávras denkend, und ganz in der Nähe von Pardubice, nämlich in Přelouč, im Garten der Großmutter von Ivan Diviš, standen die Renetten, die er in seinem Gedichtzyklus „Odchod z Čech“ (Weggang aus Böhmen) mit Mädchennamen versieht. So meinte ich, abgesehen vom Reim, ausreichend Gründe zu haben, um den Jonathan-Apfel in eine Graue Renette zu verwandeln.
Ich fühlte mich hier also weniger der exakten Widergabe des Sachverhalts verpflichtet (aber was bedeutet in einem Gedicht „exakt“) als der poetische Sprache Grušas. Im Verlauf der Arbeit habe ich mehr und mehr erfühlt, wie wichtig für Gruša Klang, Rhythmus und gelegentlich auch ein Reim sind. Seine Gedichte erlaubten mir, sie zu deuten, die Schichten seiner poetischen Sprache mit meinen Augen zu sehen, sie abzutasten und in meiner Sprache wiederzugeben. „Um dem übersetzten Text die Treue zu halten muß man sich auf der semantischen Ebene manchmal ein beträchtliches Maß an Freiheit zugestehen“, sagt Michael Hamburger. Die Beschaffenheit des Tschechischen, Syntax und Morphologie, unterscheidet sich stark vom Deutschen. So ist ein aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzter Text in der Regel immer länger, bei Gedichten oft noch durch das gewählte Versmaß verstärkt, wenn sich bei einem jambischen Anfang überflüssige und bedeutungslose einsilbige Wörter reihen. Insofern ist die Stringenz, die Gruša in seinen späten Gedichten erreicht, enorm.
Gute Gedichte sind immer mehrdeutig und so muss der „Übersetzer“ von Fall zu Fall entscheiden, was an einem Gedicht das für ihn Wesentliche ist. Die Mehrdeutigkeit ist erkennbar, ob sie deutbar ist, und damit auch sagbar – da sind Zweifel angebracht. Auch wenn der Dichter Gruša behauptet, „sprache steht / muss also füße haben“, damit auf die Standfestigkeit seiner Gedichte verweist, auch auf das Stehvermögen, sind diese Füße oft nicht zu entdecken, das heißt nicht, sie würden fehlen, nein sie sind nur versteckt – oder? In dem Gedicht „Beschwören“, eines der Gedichte, bei dem man sich zuerst hilflos fühlt, weil es ja diese Nonsens-Strophe gibt und ausgerechnet diese Nonsens-Strophe als Beweis herhalten soll, dass die Sprache wirklich steht. Ein Spiel mit zub (Zahn, auch Zacken, Zinke) und allen Ableitungen, die Zahn betreffen, auch zubatá (der Tod, Knochenmann, resp. die Knochenfrau, Sensenfrau), und záb – und zub und záb – welch Klang! – záb als erste Silbe von zábnout (kalt sein, frieren, Kälte leiden), záb als Morphem gibt es nicht und da za nicht nur Wortstamm sein kann, sondern auch weit verbreitetes Präfix ist, kämen endlos viele Wortkombination in Frage. Hier bleibt alles offen. Die Strophe bleibt dunkel. Der Dichter empfiehlt lediglich, alles noch mäusiger zu machen, bis man es singen könne.
Zu befragen ist der Dichter nicht mehr und es bestehen Zweifel, ob er bereit gewesen wäre, es zu erklären. In einem Aufsatz von 1966 („Das, was im Gedicht geschwiegen wird…“) schreibt er:
Alles, was wir in einem Gedicht erklären können, ist sein unwesentlichster Bestandteil. Die Gesamtbedeutung eines Gedichts ist nicht die Summe der Bedeutungen der Wörter, aus denen das Gedicht mit Absicht zusammengesetzt ist (…) Als System von Bildern kann ein Gedicht nie ganz verständlich sein, weil ein Bild nie für sich selbst verständlich ist – letztendlich kann es nur emotional betrachtet werden.
Nur einmal hat sich der Dichter zu einem seiner Gedichte [„Padání“ – Im fallen) und dessen Übertragung ins Deutsche geäußert, in der Dresdner Poetik-Vorlesung kann man es nachverfolgen.
Wie überträgt man also einen Dichter in die Sprache, in der er später selbst Gedichte schreibt?
1818 veröffentlichte Jean Paul in Cottas Morgenblatt eine grammatische Untersuchung in 12 Briefen zu den deutschen Doppelwörtern, lobte die Möglichkeiten der deutschen Sprache und machte allerlei Vorschläge zur Verbesserung:
Besonders den Ausländern, die sich in unsere so verwickelte Sprache hineinwagen wollen, ist jetzo das ganze Dickicht der Doppelwörter so belichtet und ausgehauen…
In dieses Dickicht trat Gruša mit seinen beiden Gedichtbänden Der Babylonwald (1991) und Wandersteine (1994) ein. Und er kommt dort, auch für deutsche Muttersprachler, zu „augenberaubenden“ Wortschöpfungen wie lavalichtbrachfelder oder wegwerfwarnungen, entronnen dem Zwang des grammatischen Kanons der slawischen Sprachen, in der Regel solche „Doppelwörter“ nur mit einem Genitiv (etwa skřipot strojů – das geknirsche der maschinen – maschinengeknirsche“ im Gedicht „Beredsam“ [výřečně]) oder mit einer Präposition (etwa – vhodný na umření – sterbensfroh im Gedicht „Jirka again“) bilden zu können.
Die Freiheit, die Gruša für sich gewinnt, macht es seinen Übersetzern ins Tschechische schwer. Aus „kastanienkerzen“ im Gedicht „Schlossstiege“ (zámecké schody) „kastanienkerzen / getrieben mit gas //“ – wird „květy kaštanu / svítící na plyn“. Aus der Kerze ist eine Blüte (květ) geworden, die Assoziation Kerze – Gas geht verloren. Aus „lavalichtbrachfelder“ im Gedicht „Busfahrt nach Bunzlau“ (Busem do Boleslavi) „… před Brandejsem vysazeni na / lávovému úhor močí tu na jedinou lípu //“ „… vor Brandeis ausgesetzt auf / lavalichtbrachfeldern bepissend die einzige linde //“, bleibt das „licht“ in der tschechischen Übersetzung auf der Strecke – es sind dann nur noch lavabrachfelder, aber auch das noch eine beachtliche Kombination, aus Tanzstundenanzug wird „oblek z tanečních“ – da wird die Stunde unterschlagen und man denkt sofort an Hrabals Erzählung mit den schönen Titel Taneční hodiny pro starší a pokročilé (Tanzstunde für Erwachsene und Fortgeschrittene).
Mit den neuen sprachlichen Möglichkeiten, die sich Gruša erarbeitet, die er auch durchleidet, geht eine Verknappung seines Ausdrucks einher, seine Verse werden kurz und kürzer, schwinden oft auf nur ein Wort, das zur Assoziation herausfordert, dem Leser einen Tiefenraum bietet (was auch zu Missverständnissen führt), der Vers bekommt Schwingung, bei der man mitunter die Lust ahnt, die Möglichkeiten der neuen Sprache bis auf das Äußerste auszureizen und sich dabei Bauch und Intellekt im intuitiven Schöpfungsakt die Waage halten. Folgt man der Chronologie seiner hier übertragenen sechs Gedichtsammlungen, wird sichtbar, wie Gruša zunehmend, auch innerhalb dieser Bände, eine Sprachökonomie entfaltet, die Verse reichen von relativ langen Versen wie
Die nächsten gingen fort wie wald nur gehen kann
in wiegenden schraffuren langsam und gemessen
(Ti bližní odešli jak umí chodit les
v houopavých šrafách pomalu a stroze)
aus „Lied vom windbaum“ in Helle Frist, über die langen Verszeilen in Üben Martern bei Gedichten wie „Das wort akra“ oder „Bereuen“:
mögen sie kein recht haben dass du mich überholst
mögen sie kein recht haben dass du früher sterben wirst als ich
mögen sie kein recht haben dass du lange im sterben liegst
(at’ nemají pravdu že mě předběhneš
at’ nemají pravdu že umřeš dřív než já
at’ nemají pravdu že umíráš dlouho),
wo er einer experimentellen Lyrik folgt, wie sie vor allem Emil Juliš in den 1960er Jahren mit den permutativen Gedichten schrieb. Aber schon in diesem Band findet er zu Formen, die im Rückgriff auf Volkslieder, wie sie Karel Jaromir Erben gesammelt hat, oder Kinderreime und Abzählverse sehr knapp und liedhaft gehalten sind, etwa
heimkehrt ein feiner herr
herr postillion
(vrací se panáček
poštovský pán)
in „Feste“. In einem Gedicht wie „Klee“ wird diese Synthese besonders deutlich, unterstützt auch vom Reim.
Im Band Gebet an Jana taucht eine neue Form auf, einzelne Gedichte sind dialogisch, ein Sprechen mit sich, ein Sprechen mit einer weiblichen Figur, die sowohl die vom lyrischen Ich angesprochene Geliebte als auch die Todfrau sein kann.
Schon in seinem ersten Gedichtband begegnet der Leser dem Todesgedanken und dieses Motiv wird von nun an zu einem ständigen Thema im Schreiben Grušas, sowohl in der Prosa als auch in der Dichtung, wenn auch in seinen deutschen Gedichten in veränderter Form (nicht nur, weil Tod im Deutschen männlichen Geschlechts ist). In „Dr. Kokes – Meister der Jungfrau“ heißt es, „dass sie er ist“, sie „die Tod“, tschechisch „smrt“, ist er, der Tod. Tod – männlichen oder weiblichen Geschlechts, eine schwierige Frage für den Übersetzer, wenn das Geschlecht in Ausgangs- und Zielsprache verschieden ist. Der italienische Autor Giorgio Voghera, spricht den Tod als Frau an, „nostra signora morte“, die schweigende, allgegenwärtige Dame, und wenn er vom Tod träumt, ist es immer eine Frau oder ein junges Mädchen. Mir fällt Paveses berühmtes Gedicht ein „Verrà la morte e avrà i tuoi occhi“ – (der Tod wird kommen und deine Augen haben). Bei Gruša erscheint Tod – ich lasse den deutschen Artikel weg – in vielerlei Gestalt: am häufigsten als „zimorodka“, aber auch als „smrtlenka“, „smrtholka“, als „všesmrtice“, als „smrtka ztopořená“ und in noch weiteren Benennungen. Tod assoziiert Gruša stets mit Kälte, Frost, Winter, „zima“ („Kälte“, „Winter“), so läge eine Übersetzung wie Winterkind nahe, denn „rodka“ kann auch als weibliche Form von „rodák“ (Eingeborener, Landeskind) verstanden werden. Für „zimorodka“ gibt es auch die Übersetzung Eisvogel („ledňáček“), das aus dem Polnischen kommt. Mir schien dann aber Winterkind doch ein wenig zu harmlos, so wählte ich Eisvogel für die Todesfrau, auch mit den Vogelmetaphern bei Gruša spielend. Selbst Sensenfrau ist eine Möglichkeit, zumal Sense im Deutschen weiblichen Geschlechts ist.
Der folgende Band Grusas Wacht am Rhein oder Wanderghetto, der Gedichte aus den Jahren von 1973 bis 1989 versammelt, unterscheidet sich in vielfacher Weise von den vorangegangenen fünf Gedichtsammlungen. Das ist bereits am Titel ablesbar, der zu einem Teil deutsch (der vordere Teil) ist. Zudem hat der Titel einen ironischen Untertext und provoziert. Der Band ist der Abschied Grušas von seiner tschechisch geschriebenen Dichtung. Hier mischen sich tschechische, deutsche und englische Verse, es ist der lange Anlauf zu einem großen Sprung. Einen der Meister dieser Sprachmischung besucht er im Herbst 1981 in England – es ist der tschechische Dichter Ivan Blatný, der 1948 dorthin emigriert war und seit vielen Jahren in psychiatrischen Heilanstalten lebt. Diese Dichtung, auch als makkaronische Dichtung bezeichnet, bei der Worte und Phrasen einer fremden Sprache, und bei Blatný sind das manchmal auch drei bis vier Sprachen in einem Gedicht, in die Muttersprache gemischt werden, kommt Gruša bei seinem Ausbruch aus seiner Muttersprache entgegen.
1991 erschien sein erster deutsch geschriebener Gedichtband (dies sollte fortan so bleiben) Der Babylonwald mit Gedichten, die ab 1988 entstanden waren. Der Übergang ist gleitend, es gibt in beiden Bänden Vor- und Rückgriffe.
Der Formenkanon erweitert sich. Die starke Reduktion der Verse, oftmals bis auf ein Wort pro Vers, ließ das Pendel auf die andere Seite ausschlagen – hin zum Prosagedicht, bei Gruša ausschließlich Erzählgedichte, einige davon Träume, die in der tschechischen Poesie seit Mácha nie aufgehört haben, Interesse bei den Dichtern zu finden. In allen seinen Gedichtsammlungen finden sie sich, zunächst nur sparsam, dann immer häufiger. Der Zyklus „Totengebet für Martin Gruša“ setzt den Schlusspunkt. Der Punkt zum Absprung ist gekommen, der Abschied vom tschechisch gefühlten, gedachten, geschriebenen Vers wird vollzogen.
Der Gang in die neue Sprache hat sich als existenz- und lebensbedrohlich herausgestellt, Gruša das andere Ufer erreicht.
Es ist eine alte Erkenntnis, dass niemand einen Text so genau liest wie derjenige, der ihn übersetzt. Übersetzen ist eine tiefere Würdigung eines Gedichts, als jedes Analysieren und Schreiben darüber. Es wäre ein Glück gewesen, hätten Gruša und ich diese Arbeit gemeinsam unternehmen können. So musste ich andere Kundige um Rat fragen, vor allem Eleonora und Mojmír Jeřábek aus Brno. Aber auch Štepán Benda, Berlin sowie Jaromír Typlt und Václav Maidl, Prag, verdanke ich manchen Hinweis.
Der Deutsche Übersetzerfond hat mit einem Stipendium meine Arbeit unterstützt. Ihnen allen gilt mein Dank.
Radonitzer, Nachwort
We have to go against getting speechless. Our opinion has to be that words don’t become the nomenclature of silence, or the prophetic slogans of hate.
(Jiří Gruša, Rede anlässlich der Wahl zum Präsidenten des International P.E.N, Mexico 2003)
„Wir müssen dagegen ankämpfen, sprachlos zu werden.“ Der Dichter, der der Stille die Sprache abringt. Der Humanist, der in Haft genommen wird, weil er jenen seine Stimme verleiht, die bereits ihre Stimme eingebüßt haben, der Diplomat, der die Jugend ermuntert, die Stimme der Hoffnung, die Stimme der Verantwortung, die Stimme der Vernunft zu erheben: im kleinen Kreis, in der Heimat, auf der großen Weltbühne, mit ihren Auftritten und Abgängen, mit ihren Inszenierungen und ihren Senkbühnen, mit ihren Schaustellern und Domteuren.
Wie wenigen ist es wohl vergönnt, von den Erkundungen des allzu Menschlichen bis zu den Zurschaustellungen der Abgründe brutalster Unmenschlichkeit, den Nächsten, die Nächsten, sich selbst zu begleiten: als Poet, als Politiker, als Diplomat, als Funktionär. Der Dichter, der die Welt gestaltet, den die Welt gestaltet. Der homo ludens, der mit Worten das Spiel der Mächtigen herausfordert, den das System im Kerker die Todesnähe fühlen lässt, der Dichter, dessen Worte Systeme ins Wanken bringen, der Suchende und vom Weltgeschehen Mitgerissene, ehe man sich’s versieht. Masse, Macht, System, Individuum. Sprachüberschreitungen, Interpretationen, Missverständnisse, Gestaltungen. Ein Siebenzehntel eines Jahrhunderts. Des „Europäischen Jahrhunderts“? Des Jahrhunderts jenes Kontinents, von dem zwei Weltkriege ausgingen, Nationalsozialismus, Holocaust, „reale“, surreale, irreale „Ismen“. Visionen und ihre Selbstzerstörungen. Der Dichter hat alles miterlebt, mitbeobachtet, zu Worte gebracht, oder eben auch nicht. Dort, wo jedes Wort dem Abgrund nur einen beschönigenden Dienst erwiesen hätte. „Sprachlos zu werden“, ist die Gefahr, nicht nur für den Dichter, aber gerade für ihn. In Zeiten, in denen das System zur Sprachlosigkeit verlockt, zwingt, das Wort in Krieg und Vernichtung in Gaskammern und in Gulags zum Ersticken verdammt ist. Ist Dichtung dann noch möglich? Erst recht notwendig? Die Frage hat die Geschichte beantwortet. Europa ist heute neu erstanden. Hat nach Jahrtausenden von Gemetzel, Menschenverachtung, Grausamkeit und Krieg, ständig im Wettstreit mit der Stimme der Vernunft, der Verantwortung, der Menschenwürde sich durchgerungen zu einem Friedenskonstrukt: zu einer Gemeinschaft, in der der Wert des menschlichen Lebens über die Rache einer Todesstrafe, über die kriegerische Durchsetzung expansionistischen Cäsarenwahns gesiegt hat. Heute. Und morgen? „Morgen, nein / Morgen ist nicht die andere Seite der Nacht / Wer Hoffnungen hegt / Ist ein Verbrecher“, so das vernichtende Resümee des chinesischen Dichters Bei Dao auf die Irrwege kulturrevolutionärer Experimente zu einem „Neuen Menschen“ hin. Mit wie vielen Abermillionen Toten sind die Experimente um die „Neuen Menschen“ in der Geschichte der Spezies „Mensch“ begleitet? Wie viele Hexen, kühne Geister, Wahrheitsgläubige und Visionäre, Kriegsdienstverweigerer und Menschen qua ihrer Herkunft mussten ihr Leben den Teufelsaustreibern, den Feigen, den Lügnern und Verbohrten, den Kriegshetzern und Übermenschen opfern? „Freiheit ist nur der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem“, sagt abermals der Dichter Bei Dao. Und weiter:
In den plötzlich geöffneten Augen
Blieb ein Mörder das letzte Portrait
Ich sage Dir, Welt, Ich – glaube – nicht! Selbst wenn zu deinen Füßen tausend Herausforderer liegen, Zähle mich als tausendundeins
Welch Welten liegen zwischen solch Abrechungen mit der Zeit, der Nation, dem Sein im 20. versus 3. Jahrhundert! China nach der Kulturrevolution. Siebzehnhundert Jahre zuvor, keineswegs eine Zeit ohne Krieg und Morden, siebzehnhundert Jahre zuvor also vermochte ein anderer chinesischer Dichter, Lu Ji, noch an die Schöpferkraft des Wortes glauben. An den Poeten, dessen Geist der Welten Pole durchstreift, dessen Herz zehntausend Maß durchmisst.
Er fasst das Wort, von hundert Menschenleben nicht ergriffen
er pflückt den Reim, seit tausend Jahren nicht verwandt.
Bedurfte es an die zweitausend Jahre, bis der Dichter jedweden Glauben verlor? Bedurfte es zweitausend Jahre, ehe sich der Genius der Poesie, einst „in hohen Lüften schwebend“ nun im tod-erstarrten Auge des Erschossenen wiederfinden sollte? Bedurfte es zweitausend Jahre, ehe des Dichters gedankenvolles Versinken, sein „stilles Treiben in Himmelstiefen“ zum Selbstbekenntnis eines Komplizen „mit der Geschichte im Spiegel“ verkommen ist? Der Dichter, zu Wort gewordene Kulturgeschichte des Verfalls, Ästhetik als Dekonstruktion des Glaubens an „Den Menschen“. Nicht „den neuen“, vielmehr den immerwährenden.
Projekt Dichtung, 3. Jahrhundert, China:
Es wägt das Nichts und ringt ihm ab das Sein. Es fordert von der Stille ab den Ton.
Konstrukt Dichter:
Mag sein, er folgt dem Zweig und rührt die Blätter
mag sein, den Wellen nach dringt er zur Quelle vor
mag sein, Verborgenes zur Klärung wird geführt
mag sein, das klar Gewähnte, alsbald verschließt es sich
mag sein, des Tigers Wandel all Getier erschreckt
mag sein, dass angesichts des Drachens der Vögel Woge sich erhebt
mag sein, auf sich’rem Pfad das Ziel wird leicht erreicht
mag sein, auf holprig Wegen Unruhe um sich greift.
Lu Ji, der Dichter, zweifelt an sich selbst. Welch ein Poet! Dao, der Dichter, zweifelt an der Welt! Welch eine Welt!
Das Schweigen des Poeten. Ein Aufschrei? Die Taubheit des Genies, Eine Tragödie:
sprecht lauter
schreyt, denn
ich bin taub
Die erschütternsten Worte in Beethovens Heiligenstädter Testament. „O ihr Menschen die ihr mich für feindselig und störrisch oder misanthropisch haltet oder erklärt, wie unrecht thut ihr mir“, ,,wie ein Verbannter muß ich leben“. Das Genie, das seine eigene Schöpfung nur mehr im Schaffen, nicht im Erschaffenen wahrzunehmen imstande ist. Ist es nicht eine Grausamkeit der Natur, dem Genius mehr abzuverlangen, als der Körper zu geben vermag? Und ist es nicht auch eine andere Art an Grausamkeit, wenn die höchsten Höhenflüge des Meisters als Hehlergut feilgeboten werden? Die Welt der Dichter, Komponisten, der Schöpfer und Konstrukteure. Die Welt der Tauben, Blinden, Dilettanten und Selbstgefälligen. Mögen zweitausend Jahre dazwischen liegen, möge es bloß ein Atemzug sein. Der „Wortkunst“ steht „kein Hindernis im Weg“, „und hunderttausend Jahren legt sie eine Furt“, „ihr ist kein Weg zu weit, als wär’ er nicht durchmessbar, kein Denkprinzip zu klein, als ließ es sich nicht fassen“.
Den Himmel und die Erde sperrt er ein in einer Form
und in des Pinsels Spitze zwingt er alle Ding’
So, Lu Ji noch einmal zum Dichter. Zu sich selbst.
Der Dichter, der dem Kerker des Systems entstiegen, zu Minister- und anderen Ehren gelangt, er kennt das Schweigen und das Nicht-Schweigen-Können, das Nicht-Schweigen-Dürfen und das Zum-Schweigen-gebracht-Werden. Der Dichtung – wie wohl auch der Musik – „ist kein Weg zu weit, als wär’ er nicht durchmessbar“, er führt heraus aus den Gefängnissen der Zeit. Mit der Zeit. Für eine Zeit. Danach und Jetzt. Freiheit ist nicht nur der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem. Freiheit ist auch Stille, ist auch Ton. Ist auch, Ton der Stille abzufordern.
Anmerkung: Die Übersetzungen von Gedichten von Bei Dao (geb. 1949) stammen von Wolfgang Kubin: Nachrichten von der Hauptstadt der Sonne, Suhrkamp 1985; die Übersetzungen von Lu Ji (261–303) von Richard Trappl.
Richard Trappl, aus Wolfgang Greisenegger & Wolfgang Lederhaas (Hrsg.): Antworten. Jiří Gruša zum 70. Geburtstag, Wieser Verlag, 2008
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