Joachim Sartorius: Keiner gefriert anders

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Joachim Sartorius: Keiner gefriert anders

Sartorius-Keiner gefriert anders

VI

Du prüfst die Landkarte,
die ich gekauft haben muß.
In einem Tag sinken die toten Blätter
auf den Grund des Pools.
Hier oben: Aufgedrehte Blätter, Wind.
Das Kind macht eine Liste schneller Wolken
über den Kreuzungen.

Als ob Himmel plus Sonne Wege gäben.

 

 

 

„Auswendiges Gedicht der Augen“

heißt ein Vers aus dem Zyklus „Was im Turm begann“ im vorliegenden, dritten Gedichtband von Joachim Sartorius.
Zwischen den Bildern, die unmittelbar verständlich scheinen, haften bleiben und doch entschlüsselt werden müssen, und den Worten, die den Sinn sammeln und dennoch die Selbstgenügsamkeit der Bilder nie ganz erreichen können, bewegen sich die Gedichte dieses Bandes.
Der zweite Zyklus „Alexandria“, mit dem der Band schließt, ist der Gestalt von Konstantin Kavafis, dem Lyriker und Gelehrten, der zu Lebzeiten kein Buch veröffentlichte, und seiner Heimatstadt Alexandria gewidmet. In der Existenz dieses großen Dichters und seiner Poetik, wie sie Sartorius entwirft, zeichnet sich etwas von der sinnlichen Fülle und dem Glück, der Gelehrsamkeit und Belesenheit, der Erinnerungslust und dem Verlangen, dem Wissen um die Vergeblichkeit und der Todesangst ab, die als Motive auch Sartorius Gedichte bestimmen.
Ihre anspielungsreiche, von Verweisen und Zitaten durchsetzte, vielstimmige Sprache bewegt sich zwischen Nennen und Erzählen, auf kleinstem Raum wie in literarischer, historischer und geographischer Weite.

Kiepenheuer & Witsch, Ankündigung

 

Maler mit der glücklichen Hand

– Noch einmal mit Kavafis: Gedichte von Joachim Sartorius. –

Joachim Sartorius liebt es, seine Gedichtbände aufeinander zu beziehen. Der Titel seines neuen Buches Keiner gefriert anders zitiert einen Vers aus dem Gedicht „Stilleben in Lapithos“, das in dem vielbeachteten Debütband Sage ich zu wem (1988) zu lesen ist; den vier Gedichte umfassenden Zyklus „Alexandria“ auf Konstantin Kavafis, der seinen zweiten Gedichtband Der Tisch wird kalt (1992) eröffnet, hat Sartorius jetzt auf sechzehn Gedichte erweitert, die sein neues Buch abschließen. Diese Kommunikation der Gedichtbände untereinander ist Ausdruck Poesie gewordener Lebenskontinuität, einer Lebensreise in poetischer Verdichtung.
Auch thematisch ist Sartorius sich treu geblieben. Seine Gedichte handeln von der Liebe, von der Erlebnisfülle und den Sinnesreizen fremder Städte und Landschaften, von der Dichtung selbst. Von Deutschland und deutscher Geschichte sprechen dagegen nur wenige seiner Gedichte („Gräber, Nach Paretz“); es sind nicht die besten des Buchs. Das Gedicht sei, so hat Sartorius 1995 im Vorwort zu seinem Atlas der neuen Poesie geschrieben, „einer der stärkstmöglichen Ausdrücke von Intimität“. Seine eigenen Gedichte sind dort am überzeugendsten, wo sie dieser Definition besonders nahe kommen.
So in den achtzehn lyrischen Miniaturen des Zyklus „Was im Turm begann“, in dem Sartorius jeweils wenige intensiv wahrgenommene Dinge der Vergänglichkeit entzieht, indem er sie zu poetischen Bildern fügt:

Wie anders hier.
Der Maler hat eine glückliche Hand.
Wenig ist sicher
außer diesen Terrassen, Mauern,
das Haus:
Auswendiges Gedächtnis der Augen.

Zusammen ergeben sie ein den flüchtigen Impressionen eines mediterranen Sommers abgewonnenes „System winziger Erinnerungen“, in dem sich aber, wie in jedem guten Stilleben, die Erinnerung an das Leben mit derjenigen an den Tod verbindet:

Plötzlich gibt es Schatten zuhauf
Schatten die sich auf die Nacht
einstellen und Vertrauen fassen
zu deiner Angst die rast.

In diesem Zyklus kommt Sartorius jedenfalls, in knapper, konzentrierter poetischer Diktion, jener Ästhetik des Stillebens sehr nahe, die er in seinem Gedicht „Auf ein altes Bild“ entwirft:

Fülle zu zeigen, die verschwinden kann,
wie sie erschienen ist.

Wie die Gedichte von Konstantin Kavafis geprägt sind von den geschichtlichen Erinnerungen der Stadt Alexandria, in der er gelebt hat, so ist für Sartorius in „Alexandria“, dem zweiten großen Zyklus des Buchs, die Atmosphäre der Stadt gekennzeichnet von der Erinnerung an den großen Dichter Kavafis. In seiner lyrischen Spurensuche läßt Sartorius in der Wahrnehmung Alexandrias und in konzentrierten Erinnerungsbildern die Gestalt des Dichters in einer Sprache aufscheinen, die sich in ihrer Prosanähe und Schmucklosigkeit an der des Griechen orientiert: „Das Gedicht mag keine Verzierung“, so heißt es in „Poetik“, dem letzten Gedicht des Buchs, einem der vier von Sartorius fingierten „unveröffentlichten Gedichte aus dem Nachlaß“ des Kavafis. Die Spiegelung in Kavafis wird für Sartorius zum Medium poetischer Selbstverständigung, die fiktive Poetik – ironischer Ausdruck der Selbstreferentialität aller modernen Poesie – gibt eine Leseanweisung für die eigenen Gedichte:

Ein Gedicht ist für niemanden.
Ich schicke es meinen Freunden,
die Freiheit, es zu verstehen
oder nicht zu verstehen.

Ernst Osterkamp, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.6.1997

Joachim Sartorius: Keiner gefriert anders

Der Sturm, den die irische Herbstflut hervorrief, übertönte vielleicht ein wenig, dass der heurige Bücherherbst auch ein Herbst der deutschen Lyrik war. Markante schmale Bände liegen vor: von Franz Wurm, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Sarah Kirsch oder Thomas Kling. Die grosse Entdeckung dieses Jahres  sind die unerbittlichen Gedichte von Inge Müller (1925–1966), die mit zum Besten zählen, was die deutsche Nachkriegslyrik hervorgebracht hat.
In die Reihe dieser erstklassigen Neuerscheinungen aus dem Bereich der deutschen Lyrik gehört auch Keiner gefriert anders von Joachim Sartorius (*1946). Sartorius schreibt eine männliche Lyrik, die über einen ungemeinen Feinsinn verfügt. Eine erdige Lyrik, altes Gelände berührend. So greift er im Zyklus „Alexandria“, dem Herzstück des neuen Bandes, den Mythos um den Brand der Bibliothek von Alexandria auf: Beim Passieren der Ruinen eines Hammam fällt ihm bei, dass derselbe „wie 4000 andere öffentliche Bäder / Sechs ganze Monate“ lang mit den Bücherrollen aus der grossen Bibliothek beheizt wurde, bis alle Bücher im Dampf „um die fettgrauen Leiber der Eroberer“ zerstoben waren. Zieht man Sartorius’ Äusserung über Alexandria aus einem Gespräch mit John Ashbery bei: „Alexandria ist ein Ort des Vergessens, des Verwischens, des Todes“, so gerät der Bücherbrand zum exemplarischen Denkbild für die moderne Gedächtnisrodung. Dagegen schreibt Sartorius an.
Einer Gestalt widmet er sich dabei besonders: Konstantin Kavafis, dem aus Alexandria stammenden Begründer der modernen neugriechischen Lyrik. Er wird zum Alter ego des Dichters. Angesichts der erreichten Nähe zu dem Ton und den Motiven des Kavafis ist es nur konsequent, dass ihm Sartorius im Anhang 4 eigene Gedichte zuschreibt. Darin heisst es:

Er schätzte die Schreiber,
bei denen es kein Vergessen gab.
Nur dort hatte das Gedächtnis einen Ort,
ausser den Gräbern,
und er gehörte ihm und jedem allein.

Alexandria, entstanden während der letzten 10 Jahre, stellt Sartorius’ Versuch dar, diesem Anspruch gerecht zu werden – bei aller Vergeblichkeit, allem reflektierten Scheitern des Gedichts:

Auf seinem Weg hat es
Splitter des Nichts gesammelt,
um blendend
dazustehen am Ende
.

Florian Vetsch, carpe librum

Schmetterlingssammler, Haareraufer und Ästhet

(…)
Kaum emphatisch dagegen sind die wohlkalkulierten Metaphern des Joachim Sartorius. Sie spiegeln nicht die Welt, bilden sie nicht partiell ab, wie in der Regel die Momentaufnahmen Harald Hartungs, sondern erschaffen eine neue, poetische Welt:

Mit Licht stützten wir die Wände ab
verzählen die Mückenknoten.

Kaum Erinnern der Akustik, dafür ein „Gedächtnis der Augen“. Joachim Sartorius’ Verse haben eine Affinität zur Malerei mit ihren Farben, Perspektiven, Lichtverhältnissen und Schattierungen, mit Formen und Strukturen, die zerfasern, sich auflösen und wieder neu bilden in Synonymen für Unruhe, Leere, Schmerz, Verzweiflung, Apathie oder Trauer. Eine Bestandsaufnahme, eine Lebensbilanz ganz anderer Art. Ein Ich bewegt sich im Strom der Zeit und erfährt über das sinnliche Erfassen von entstehenden und sich wieder auflösenden Selbst.
Alles ist schnörkelfrei, auf wesentliche Reibungsmomente zwischen Ich und Welt konzentriert. Die Poetik, die Sartorius dem griechischen Dichter Konstantin Kafavis fiktiv in den Mund legt, ist seine eigene:

… Das Gedicht
mag keine Verzierung. Es ist
auf Stilisierung aus: Plissée,
das die Stärke
der Wölbung verrät.

Ein Gedicht ist für niemanden.
Ich schicke es meinen Freunden,
die Freiheit, es zu verstehen
oder nicht zu verstehen.

Auf seinem Weg hat es
Splitter des Nichts gesammelt,
um blendend
dazustehen am Ende.

Sartorius’ Poesie ist die der vollkommenen Illusion und der Desillusionierung zugleich, eine ernüchternde und zugleich berauschende Dichtung der letzten Bilder:

Wind haut auf Zapfen, die Knochen lachen.

Was machts, daß die besten Passagen Zitate der Moderne assoziieren? Eines hat er den beiden anderen voraus: das Erotische in den Liebesgedichten. Wo Hartung nur selbstironisch abwinkt, allenthalben Eifersucht auf den Kater bekundet, Haufs sich redlich an der Dauer einer Zweisamkeit abrackert, ist Sartorius souverän im minutiösen sprachlichen Erzeugen von sinnlichen Spannungen, Bewegungen, Widersprüchen. Da knistert es in den Sprachbildern, da macht das Lesen Spaß.

Dorothea von Törne, neue deutsche literatur, Heft 512, März/April 1997

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Michael Basse: Grannen des Nichts
Süddeutsche Zeitung, 6. 11. 1996

Alexander von Bormann: Fülle zu zeigen, die verschwinden kann
Frankfurter Rundschau, 30. 11. 1996

 

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Rüdiger Schaper: Das Lächeln des Dichters
Der Tagesspiegel, 18.3.2016

Thomas Steinfeld: Freund und froh
Süddeutsche Zeitung, 17.3.2016

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Joachim Sartorius liest auf dem VIII. International Poetry Festival von Medellín 1998.

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