Joachim Sartorius: Zu Christine Lavants Gedicht „Wieder brach er bei dem Nachbar ein“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Christine Lavants Gedicht „Wieder brach er bei dem Nachbar ein“ aus Christine Lavant: Die Bettlerschale. –

 

 

 

 

CHRISTINE LAVANT

Wieder brach er bei dem Nachbar ein

Wieder brach er bei dem Nachbar ein,
und ich hatte Tür und Fenster offen,
meine Augen waren vollgesoffen
wie zwei Schwämme vom Verlassensein.

Dumm verknäulte sich in meinem Mund
Schluchzen, Bitten und verbohrtes Drohen,
während drüben schon die Hühner flohen
samt der Katze und dem alten Hund.

Doch er kam nicht, nahm sich wieder nur
einen, der noch gerne leben wollte,
und die Monduhr, die verrückte, rollte
meine Stunde rasch aus seiner Spur.

Bitter trocknen mir die Augen ein,
bitter rinnt der Schlaftrunk durch die Kehle,
bitter bet’ ich für die arme Seele
und zerkaue mein Verlassensein.

 

Schwermütiger Zauberspruch

Die ersten beiden Strophen hält Christine Lavant noch in der Schwebe. Wer bricht da beim Nachbar ein? Ein Räuber? Ein wildes Tier? Ein Liebhaber? Ein Menetekel, vor dem Hund und Hühner fliehen? Die Wartende die spricht, ist eine Erwartende. Sie sehnt sich nach dem Ende ihrer Verlassenheit, nach Erlösung, einer seltsamen Wärme. Sie will den Einbrecher zu sich lenken. Sie hat ja Tür und Fenster weit offen gelassen! Aber die dritte Strophe wird dann deutlich: Es ist der Tod, der beim Nachbar einbricht und ihn mit sich nimmt. Die Monduhr hat den Tod auf eine andere Spur, nicht die ihre, gelenkt. Ungerecht findet sie das, denn dieser Nachbar ist einer, „der noch gerne leben wollte“. Ihr dagegen scheint vom Tod genommen zu werden wie das Ende aller Qualen; Erlösung eben. Doch das Schluchzen und Bitten hat nicht geholfen. Es bleibt etwas wie Neid auf die, die der Tod holt, und es bleibt das eigene Verlassensein, das sie „zerkaut“ wie ein dreifach bitteres Los.
Dies sind Themen, die im Werk der Christine Lavant immer wieder aufleuchten, gerade auch in dem 1956 erschienenen Gedichtband Die Bettlerschale, der ihren Ruhm als Lyrikerin begründete. Sie wuchs in einem Kärntner Tal in ärmsten Verhältnissen auf, kränkelte ein Leben lang und verdiente sich den Unterhalt, wie ihre Mutter, als Strickerin. Sie las, was ihr unter die Augen kam. Rilke hatte anfangs großen Einfluss auf sie, wohl auch Trakl.
Aber sie war letztlich eine lyrische Begabung ganz eigener, ganz ursprünglicher Art. Das Dichten „überkam“ sie. In einer raren Selbstauskunft sagte sie über ihr Schreiben:

Das Schreibenkönnen kommt nur als Zustand über mich und führt dann aus, was weder in meinem Gehirn noch in meinem Gemüt je wissentlich geplant ist… Wenn besagter Zustand nachlässt, verfalle ich in eine schöpferische Schwermut, die nichts mehr will als den Tod.

Dieses Gedicht scheint von einem solchen Schwermutszustand zu berichten. Doch was uns aufhorchen lässt und letztlich gefangen nimmt, ist nicht der Inhalt – Einsamkeit, Todessehnsucht –, sondern die melodiöse, fast schon einschmeichelnde Form. Das Versmaß ist regelmäßig, mit einem festgesetzten Reimschema in jeder Strophe. Der halluzinatorische Effekt entsteht dadurch, dass die Worte nicht nur Bedeutung transportieren, sondern fast noch stärker als Tonträger wirken. So betonen zum Beispiel alle Endreime in der zweiten und dritten Strophe die dunklen Vokale o und u. Das dunkel Beschwörende, Zauberspruchartige wird noch verstärkt durch das insistierende, dreimalige „bitter“ in der Schlussstrophe. Diese dreimalige Wiederholung wirkt wie das spitze, unausweichliche Echo eines dunklen Schicksalsgongs. Die Augen, „vollgesoffen“, gerade noch zwei Schwämme, trocknen aus. Nun rinnt einzig der Schlaftrunk durch die Kehle. So bleibt am Ende das Dämmern, das fortgesetzte Warten, dass der Tod das nächste Mal ihr offenes Fenster findet.

Joachim Sartoriusaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfunddreißigster Band, Insel Verlag, 2012

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