– Zu Durs Grünbeins Gedicht „,Si me amas‘“ aus Durs Grünbein: Strophen für übermorgen. –
DURS GRÜNBEIN
„Si me amas“
Für Michael Hofmann
Ihr geliebten Dinge, die kein Blick mehr stört
In Vitrinen – Terrakotten, Tintenfäßchen, goldne Fibeln.
Dieser Silberspiegel hat zu einer Frau aus Kos gehört.
In der Bronzeschale lagen Feigen, glänzten Zwiebeln.
Säulenschaft, um dich strich ein Kinäde, lüstern,
Lang bevor der Wärter schnarchend Platz nahm nebenan.
Eine Vase, aus dem Innern dringt intimes Flüstern –
„Süßer, stoß mich!“ „Akte, komm, mir tropft der Zahn.“
Treibgut seid ihr, Kleinkram, den die Erde nicht behielt.
Von den Leibern, die euch an sich drückten, keine Spur.
Daß sie reichlich aßen, sich verwöhnten, wie verspielt
Sie waren, den Besitzerstolz, zeigt die Gravur.
„Si me amas“ – mir zuliebe, ritzte jemand in sein Glas.
Frauenhand und Männerklaue: kommt, ihr Graphologen,
Seht den Unbekannten, von der Zeit verschluckt, en face.
Psyche ging. Es blieb, aus Stein, der Schulterbogen.
Wir alle haben archäologische Museen besucht, in Italien, in Griechenland, Provinzmuseen oft in der Nähe der Ausgrabungsstätten. Durs Grünbein destilliert in seinem Gedicht diese Museumsgänge, unser Wandern an Vitrinen entlang, das Bestaunen all dieser dem Erdreich entrissenen Statuen und Artefakte. In Grünbeins weit gespanntem Œuvre spielt die Antike, die antike Mythologie eine große Rolle, sei es, dass er sich alte Stoffe aneignet und durchleuchtet oder römische Dichter wie Petronius oder Juvenal zu seinen intimen Dialoggefährten werden lässt. In diesem Gedicht geht es nicht um die alten Dichter, nicht um Ovid’sche Mythen oder gewalttätige Herrscher wie Tiberius. Das Sujet ist kleiner und zugleich gewaltiger. Es geht schlicht um die Vergänglichkeit.
Auch ein Grundthema des Gedichtbandes Strophen für übermorgen, aus dem dieser Text stammt, ist die Vergänglichkeit, und auch dieses Gedicht ist eine Vergänglichkeitsklage, doch wunderbar unangestrengt, von einer schwebenden Eleganz von Reim zu Reim. Wenn es das gibt, elegante Untröstlichkeit, hier ist sie – erzeugt durch ein Ineinander von Schmerz, Musikalität, Körperlichkeit und Wissen um das Ende. Grünbein zoomt die Gegenstände in den Vitrinen für uns heran. Die toten Dinge, Inbilder der irdischen Hinfälligkeit, sind dem Dichter nicht Menetekel, sondern Anlass zu frechen Assoziationen und erotischen Vorstellungen. Die männliche Hetäre streicht um den Säulenschaft. Der Silberspiegel erinnert an die Frau aus Kos. Aus dem Innern der Vase flüstert’s:
Süßer, stoß mich!
So entsteht ein hinreißender Kontrast zwischen der Stimme der leblosen Dinge und dem hellwachen Beobachter, zwischen den allen körperlichen Kontextes beraubten Ausstellungsgegenständen – „Von den Leibern (…) keine Spur“ – und dem Körper des Besuchers, dem Pochen des Blutes in den eigenen Schläfen.
Woher rührt die Intensität, mit der Durs Grünbein diese Dinge angeht? Warum ist für ihn – das legt auch dieses Gedicht nahe – überall Pompeji und der künftige Untergang schon in die Lavaströme der Zeit geprägt? Mehr noch als für Seume, Goethe, Tischbein, Winckelmann muss für den jungen Durs Grünbein, in Dresden geboren, lange Jahre in der DDR eingesperrt, in überheizten Bibliotheken sich mit Bildungsgut überfrachtend, Italien der Sehnsuchtsraum schlechthin gewesen sein. Dann war das Reisen plötzlich möglich. „Die Überreste aus glorreicher Zeit“ – eine Grünbein’sche Formulierung in einem Essay zu Eugen Gottlob Winkler – veränderten sein Leben. Die Antike wird ihm zum begehbaren Gedächtnis, das Metaphern und Modelle der Selbstvergewisserung bereithält. Der Umgang mit der Antike hat zwei Aspekte: nach diesen Modellen suchen mit höchster sprachlicher und gedanklicher Anspannung und der irreversiblen Trauer Ausdruck geben. Hier, in diesem Gedicht, steht die Vergänglichkeit, die Trauer darüber im Vordergrund. Amors Gefährtin Psyche, also griechisch der „Hauch“, die „Seele“, das „Leben“, ist längst gegangen. Nur der steinerne Schulterbogen bleibt. Aber Grünbein schildert das so, als glühe in diesem Schulterbogen, in allem Zurückgebliebenen, ein radioaktiver Rest. Es muss mit dem Magnetismus der kleinen Objekte in den Vitrinen zu tun haben, mit der in das Glas geritzten Zeile: „Si me amas“. Ob es nun eine „Frauenhand“ oder eine „Männerklaue“ gewesen war, die unbekannte Person, die es geschrieben hat, ist „von der Zeit verschluckt“ und doch – in dieser Spur, in diesen Zeichen – ungemein präsent. In unserer Vorstellung sehen wir sie en face, von Angesicht zu Angesicht.
Joachim Sartorius, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011
Schreibe einen Kommentar