– Zu Heiner Müllers Gedicht „Herz der Finsternis nach Joseph Conrad“ aus Heiner Müller: Werke. Band I: Die Gedichte. –
HEINER MÜLLER
Herz der Finsternis nach Joseph Conrad
Für Gregor Gysi
Schaurige Welt kapitalistische Welt
(Gottfried Benn nach einem Radiogespräch mit Johannes R. Becher 1930)
In der Valuta-Bar des Hotels METROPOL
Berlin Hauptstadt der DDR bemüht sich
Eine polnische Hure Gastarbeiterin
Um einen Greis mit Schnupfen
Zwischen den Kapiteln seines Vortrags
Über die Freiheit in den USA
Rotzt er ins Taschentuch und schreit nach einem Abfalleimer
Noch im Griff des Mitleids mit ihrem schweren Beruf
Höre ich zwei Geschäftsreisende
Bayern dem Geräusch nach
Asien verteilen: ALSO MALAYSIA TÄT MIR GFALLN
THAILAND AUCH KOREA GHÖRT DAZU
ALSO DAS KREUZSCHIENENSYSTEM FÜR DEN JEMEN
TÄT ICH NOCH PLANEN DANN
HAT SICH DIE SACHE
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaCHINA GHÖRT AUCH DAZU
CHINA IST ALS EINZIGES PROJEKT VERKAUFT WORDN
In der S-Bahn ZOOLOGISCHER GARTEN FRIEDRICHSTRASSE
Habe ich zwei DDR-Bürger kennengelernt
Einer erzählt Mein Sohn drei Wochen alt
Wurde geboren mit einem Schild vor der Brust
ICH WAR AM NEUNTEN NOVEMBER IM WESTEN
Meine Tochter gleichaltrig Ich habe Zwillinge
Trägt die Aufschrift ICH AUCH
THE HORROR THE HORROR THE HORROR
Heiner Müller hat, wenn man schrecklich vereinfacht, zwei Sorten von Gedichten geschrieben: lyrische, einfache im Heine-Ton und zeitgeschichtliche Collagen. Hier haben wir es mit einem herausragenden Produkt des politischen Collagisten Heiner Müller zu tun, der einen kalten, einen heißen Blick auf das Räderwerk der Geschichte am Ende des zu Ende gegangenen Jahrhunderts wirft. Die Sehnsucht nach einem Tacitus oder Sallust, die sich des Untergangs der DDR annähmen, bläht diese verzweifelt um Kontrolle bemühten Zeilen.
Der Bezüge sind so viele, daß sich auch für den Kommentaristen das Prinzip der Collage empfiehlt. Das Gedicht ist Gregor Gysi gewidmet. Heiner Müller schätzte Gysi, weil er in ihm die Zukunft einer intelligenten Linksorientierung aufgehoben sah. Ein Zitat von Gottfried Benn – aus einem 1930, also vor der Machtergreifung Hitlers geführten Gespräch mit dem späteren Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher – ist dem Gedicht vorangestellt. In diesem nie publizierten, von Heiner Müller wieder entdeckten „Radiogespräch“ wirft Benn dem früheren expressionistischen Weggenossen vor, sich ganz in die Arme des Moskauer Tyrannen zu begeben. Becher, der nach eigenem Bekunden „ein Benn hätte werden können“, wirft seinerseits diesem Benn Abmüdung, Dekadenz, Nihilismus vor. Einig sind sich die beiden nur in der Ablehnung der kapitalistischen Raubwelt – kabarettistisch exemplifiziert am Dialog der zwei bayerischen Geschäftsreisenden im Hotel Metropol. Dieses Gespräch zwischen Benn und Becher, Zusammenstoß von zwei Systemen bien avant la lettre, gibt die Folie, auf der Heiner Müller seine Wahrnehmungen, ob in der Valuta-Bar oder in der S-Bahn, ordnet. Die Zeichen stehen auf Zusammenbruch der DDR und auf den Sieg eines Systems, das für Heiner Müller Finsternis und Schrecken bedeutet.
Diesem Gedicht fehlt die Gelassenheit, auch die Ironie, die sonst die späten Gedichte Heiner Müllers auszeichnen. Der Polyphonie der Stimmen entspricht eine nüchterne Musikalität. Die Fülle des Textes zwingt den Leser, von den Einzelheiten zurückzutreten: Er nimmt das Siechtum einer Epoche, das Ende einer Utopie in den zitierten Worten wahr. Es geht hier nicht nur um eine „Wahrheit“, die man zu glauben besaß. Es geht genauso um die Skepsis dem Neuen gegenüber, um die Geißelung der Landsleute, die einschwenken. Aber das schreckliche Wahrheitszentrum des Gedichts birgt die drittletzte Zeile. Heiner Müller hat seine kleine Tochter innig geliebt. Auch sie trägt, ob sie es will oder nicht, ob er es will oder nicht, das „Mal“ des 9. November. THE HORROR. So verschränken sich Elemente unseres Jahrhunderts in lakonisch persönlichster Form: Ideologie und. Niederlage, Hoffnung und allergrößte Verzweiflung.
Viele Gedichte Heiner Müllers sind ein Aufstand der Toten gegen das Vergessen der Lebenden. Seine Hoffnung war, daß die Schubkraft des Erinnerns explosionsartig das Kontinuum der Geschichte aufbrechen könnte. Hier ist es umgekehrt, und das macht dieses Gedicht so bewegend: Die gerade Geborenen wissen nichts von der Geschichte. Das Erinnern mag insofern nichts ausrichten können. Hier spricht einer, der in der Erfahrung der Wendezeit seine Hoffnungen betrogen sieht, der die Maske der Gelassenheit zur Seite legt, der nicht mehr fähig ist zum „kältesten Einblick“. Das rührt uns und macht dieses Gedicht in seiner Tiefenschicht – als autobiographische Metapher – zu einem bemerkenswerten lyrischen Dokument.
Joachim Sartorius, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002
Schreibe einen Kommentar