– Zu Johannes Bobrowskis Gedicht „Holunderblüte“ aus Johannes Bobrowski: Gesammelte Werk 1. Band – Die Gedichte. –
JOHANNES BOBROWSKI
Holunderblüte
Es kommt
Babel, Isaak.
Er sagt: Bei dem Pogrom,
als ich Kind war,
meiner Taube
riß man den Kopf ab.
Häuser in hölzerner Straße,
mit Zäunen, darüber Holunder.
Weiß gescheuert die Schwelle,
die kleine Treppe hinab –
Damals, weißt du,
die Blutspur.
Leute, ihr redet: Vergessen –
Es kommen die jungen Menschen,
ihr Lachen wie Büsche Holunders.
Leute, es möcht der Holunder
sterben
an eurer Vergeßlichkeit.
Erinnern ist, was vom Vergessen bleibt. Daß wir erinnern sollen, sagt dieses schwermütige Gedicht von Johannes Bobrowski, und daß Vergessen das Schlimmste sei. Bobrowskis Kronzeuge ist der 1894 in Odessa geborene Isaak Babel, ein Genie der russischen Literatur, für seine visionär-realistischen Erzählungen vom Feldzug des Kosakengenerals Budjonny auch bei uns bekannt und gerühmt. Babels Heimat Odessa wurde mehrfach von Pogromen heimgesucht, schrecklichen Rückfällen in die Barbarei, am schrecklichsten im Jahre 1905. Eine fanatische Menge, unter Führung fahnenschwingender orthodoxer Priester, verwüstete die Moldawanka, das alte Ghetto von Odessa. Isaak Babel war damals neun Jahre alt.
Seine Kindheit stand unter den Zeichen Angst, Verfolgung, Isolation. Weniger der quirlige Schwarzmeerhafen, das Meer, die Weite und der bessarabische Wein als die Monotonie jenes jüdischen Viertels, das Joseph Roth in seinem Aufsatz „Juden auf der Wanderschaft“ meisterlich beschrieben hat, ist Babels Welt. Der Taube des kleinen Isaak wird der Kopf abgerissen. Der Friede ist dahin. Bobrowski erinnert im Zwiegespräch mit Isaak Babel – „weißt du“ – die Blutspur des ermordeten Vogels auf der schmalen Treppe. Nur der Holunder, der über die Zäune hängt, birgt einen Glücksmoment.
Der Auftritt Isaak Babels – schon in der ersten Gedichtzeile – ist nicht von ungefähr. Bobrowski fühlte sich Babel verwandt, dem jüdischen Dichter nah. Babels Vermögen, Bibel und Revolution, Endzeit und Hoffnung zusammenzuspannen, faszinierte ihn. Die Parallelen zwischen dem in Tilsit geborenen Protestanten, der im Zweiten Weltkrieg Soldat war und erst 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach Ost-Berlin zurückkehrte, und seinem Moldawanka-Gefährten gehen bis in den Schreibstil hinein, der den Leser nicht zur Ruhe kommen läßt, der Parabel und romantische Wallung, Zynismus und gogolschen Witz hart nebeneinandersetzt.
Auch in diesem kurzen Gedicht arbeitet Bobrowski mit einem System der Unterbrechungen. Zwischen der geköpften Taube und der Blutspur auf der Treppe stehen vier Zeilen, die den magischen Ort der Kindheit beschwören – die Holzhäuser, die weiß gescheuerten Schwellen, den (weißen) Holunder, in einer Sprache, die lapidar ist, schön, unverbraucht und daher suggestiv. Die „Blutspur“ macht diese Bilder, kaum entstanden, verwundbar, zeichnet sie. Doch die Leute wollen von dieser Blutspur nichts wissen. Sie wollen vergessen. Lassen sich Greuel vergessen? Die jungen Menschen sind in eine andere Zeit geboren, sie sind ungebrochen, fröhlich, sie lachen – „ihr Lachen wie Büsche Holunders“. Aber der Holunder, so der Dichter, würde am liebsten sterben an dieser Vergeßlichkeit. Wenn es stimmt, daß ein gutes Gedicht ein Geheimnis hat, so liegt das Geheimnis dieses Gedichts in der rätselhaften Weisheit, die das Sterben des Holunders – der in diesen Zeilen ja auch der Holunder der Kindheit ist – mit der Vergeßlichkeit der Menschen verknüpft. Das Gedicht, so genau und fast ein wenig bedächtig es auf verschiedenen Ebenen die Dinge nennt, rast im Grunde auf diese drei Schlußzeilen zu. Sie klingen wie eine Reminiszenz an paradoxe Sentenzen eines Wunderrabbis.
Vielleicht hat Johannes Bobrowski aber auch nur in einem Kräuterbuch gelesen, daß den Beeren und Blüten des Holunders seit der Antike magische Kräfte zugeschrieben werden. So gab es im Mittelalter den Glauben, daß durch Berühren des Holunderbaums Krankheiten auf ihn übertragen werden können.
Wie immer, die Vergeßlichkeit ist ein Gift. Sie verkleinert das Territorium der Erinnerung. Sie ist auch ein Angriff auf die Dichtung selbst, auf das Gedicht. Wenn Erinnern ist, was vom Vergessen bleibt, dann ist es das Geschriebene, das Fixierte, welches letztlich vom Erinnern bleibt. Gute Gedichte sind ein Gegengift gegen das Vergessen. Das will uns Bobrowski sagen, wie Isaak Babel ein Ästhet inmitten der Barbarei, wie er ein Erinnerer inmitten von Gedankenlosigkeit und Lethargie.
Joachim Sartorius, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2004
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