– Zu Kurt Drawerts Gedicht „Mit Heine“ aus Kurt Drawert: Wo es war. –
KURT DRAWERT
Mit Heine
Dies Land, von dem die Rede geht,
es war einst nur in Mauern groß,
dies Land, von Lüge zugeweht,
ich glaubte schon, ich wär es los.
Ich glaubte schon, es wär entschieden,
daß wer nur geht, auch gut vergißt.
Doch war nun auch ein Ort gemieden,
der tief ins Fleisch gedrungen ist.
Als fremder Brief mit sieben Siegeln
ist mir im Herzen fern das Land.
Doch hinter allen starken Riegeln
ist mir sein Name eingebrannt.
Dieses Gedicht spricht vom Leiden an einem Land. Dies Land ist „von Lüge zugeweht“. Einst hatte es Bedeutung, war, als es von Mauern umgeben war, „groß“ gewesen. Unmißverständlich wird hier auf die DDR Bezug genommen. Kurt Drawert hat sie 1993, als es sie schon nicht mehr gab, verlassen. Den November 1989 hatte er in Leipzig erlebt. Als Kind der DDR, wie er einmal selbst sagte, knüpfte er an Mauerfall und Wiedervereinigung große Hoffnungen. Doch wurden sie offenbar enttäuscht. Er fühlte sich einer Utopie aufgesessen – denn im Mittelbau blieben die alten Kader, die unterdrückte Sprache blieb unterdrückt –, so daß er aus dem real gar nicht mehr existierenden Land wegging und mit diesem Weggehen auch vergessen wollte. Dieses Vergessen gelingt dem lyrischen Ich nicht. Das Gedicht schließt mit dem sich aufs „Land“ reimenden, starken Wort: „eingebrannt“. Es spricht in seinen beiden letzten Strophen von einer unschließbaren Wunde. Es sagt uns: Du wirst deine Chiffre aus Herkunft und Heimat nicht los.
Das Nachdenken über Heimat ist etwas sehr Deutsches.
Denk ich an Deutschland in der Nacht,
Dann bin ich um den Schlaf gebracht,
Ich kann nicht mehr die Augen schließen,
Und meine heißen Tränen fließen.
So steht es in Heines „Nachtgedanken“, die er noch in neun weiteren Strophen ausgebreitet hat. Seither macht es sich in Reden und Leitartikeln, auch in Gedichten, immer wieder gut, die durch Politik oder Herbst in Deutschland hervorgerufenen Schlafstörungen breitenwirksam mit Heines angeblicher Sentimentalität zu adeln. Denn die wenigstens wissen, daß es sich hier um ein Mißverständnis größeren Ausmaßes handelt. Wer Heines Gedicht weiterliest – die letzten beiden Zeilen lauten: „Es kommt mein Weib, schön wie der Morgen, / Und lächelt fort die deutschen Sorgen“ –, erfährt, daß es ihm nicht darauf ankam, besondere Sensibilität oder politische Wachsamkeit an den Tag zu legen. Im Grunde ironisiert er sie. Tatsächlich ging es ihm darum, sein Heimweh lyrisch zu gestalten. Heine verließ Deutschland 1831, lebte fortan in Paris. Beide, Heine und Drawert, empfinden sich als Emigranten, über mehr als 150 Jahre hinweg. Drawert übt, mit bewundernswertem Kunstverstand für die Heinesche Tonlage, den Schulterschluß mit dem Dichter in Paris in einem zentralen Punkt. Die Ferne der fremd gemachten Heimat bedeutet nicht, sie auch aus sich entfernen zu können. Die Erstschrift der Seele – für Drawert schrieb sie die DDR – ist unauslöschlich.
All dies wird in einer melodischen, höchst kunstfertigen, durch den jeweils eine Zeile überspringenden Reim leicht ziehenden Sprache gesagt. Es war sicherlich viel Arbeit an diesem Text, doch spüren wir sie nicht. Als wolle Drawert uns sagen, daß Heimat – falls es so etwas noch gibt – am ehesten als Sprache definiert werden muß. Wenn es stimmt, daß die Form die Wahrheit des Gedankens ist, dann haben wir es hier mit dem seltenen Fall der Übereinstimmung von Gestalt, Musik, Empfindung und Reflexion zu tun. Das Gedicht tritt in der ganzen Selbstverständlichkeit seiner Sprache auf. Deshalb scheint es uns auch so geglückt.
Joachim Sartorius, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechsundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2003
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