Jochen Hieber: Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Ich betrete nicht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Elisabeth Borchers Gedicht „Ich betrete nicht“ aus Elisabeth Borchers: Wer lebt. –

 

 

 

 

ELISABETH BORCHERS

Ich betrete nicht

Ich betrete nicht den Festsaal der Sätze
die Gemächer der vor Grazie
aaaaaaaaaaaasich biegenden Nebensätze
die würdigen Hügel des Partizips.
Ich überlasse mich nicht
aaaaaaaaaaaaden geschmeidigen Perioden
dem rauschhaften Absturz
den komödiantischen Untiefen.
Ich verweigere den Müßiggang der Addition
das Manöver der Unklarheit
die Dämmerung der Klarheit.
Ich stimme nicht an das Lied zur Verführung
aaaaaaaaaaaader minderjährigen Ewigkeit.
Ich lehne ab das Plagiat der Klage des Windes
aaaaaaaaaaaaund des Flächenbrandes.
Ich bediene mich der Notdürftigkeit:
Sie ist gestorben
verdorben
und verfalle der irdischen Einfalt
dem Trost des himmlischen Fests.

 

Die Last der Tradition

Ein idealer Ort, um über das Gedicht nachzudenken, ist das Gedicht selbst; kaum ein Dichter, der diese Möglichkeit nicht genutzt hätte. Durch Lyrik über Lyrik zu reden gehört mithin schon seit den Anfängen zum festen Bestand der Gattung: Es gibt kein anderes künstlerisches Genre, das es in Sachen Selbstreflexion mit ihr aufnehmen kann. Noch die Poetik, die das Wesen der Dichtkunst ergründen und lehren will, findet nicht selten dann zu den einleuchtendsten Resultaten, wenn sie zuhört, wie Poesie über Poesie räsoniert.
Auch „Ich betrete nicht“ ist ein Gedicht vom Gedicht – und Elisabeth Borchers eine gelehrte Poetin. Also kennt sie die Tradition des lyrischen Selbstgesprächs, gegen die sie ihr eigenes ästhetisches Programm bestimmen und behaupten muß. Entschiedenes Auftreten ist dafür nötig: sechsmal in sechzehn Versen das Ich gleich am Zeilenbeginn, fünfmal verbunden mit klaren Absagen an die Tradition. Und ihr gleichwohl von Anbeginn an unentrinnbar verhaftet. Denn was sie selbst poetisch wollen, haben die Dichter schon immer gern durch Verneinung ausgedrückt: „Buhlt länger nicht mit eitlem Wortgeklinge!“, lautete etwa Friedrich Schlegels Losung im Gedicht „An die Dichter“. Unter den Dichtern unserer Zeit ist die Negation fast epidemisch geworden, in jedem Fall aber gehört sie zum guten Ton des schlechten Gewissens: Schwer nämlich lastet spätestens seit Gottfried Kellers Stoßseufzer das „Loos der Epigonen“ auf jedem neuen Vers.
Die Zeilen der Elisabeth Borchers sind also ein durch selbstbewußte Verweigerung kunstvoll kaschiertes Lamento über die Last der Überlieferung. Wogegen treten sie an? Wenn sie das Plagiat der Klage des Windes und des Flächenbrandes ablehnen: gegen die jahrhundertealten Debatten um die Mimesis, die Nachahmung der Natur durch die Kunst. Wenn sie das Lied zur Verführung der minderjährigen Ewigkeit nicht anstimmen: gegen den Topos von der Unsterblichkeit der Poesie. Wenn sie sich den geschmeidigen Perioden / dem rauschhaften Absturz / den komödiantischen Untiefen nicht überlassen: gegen die wundervollen Perioden etwa eines Novalis, den Rausch der Verse Baudelaires, das Komödiantentum Heinrich Heines. Und wenn sie sich weigern, den Festsaal der Sätze zu betreten, die Gemächer der vor Grazie sich biegenden Nebensätze und die würdigen Hügel des Partizips: dann lehnen sich diese Verse auf gegen das, was vielen als das Kostbarste unserer Dichtung gilt: nicht zuletzt gegen Hölderlins Gesänge und Rilkes Ton.
Sie müssen sich auflehnen – um des Eigenen willen. Aber sie lehnen nicht ab. Im Gegenteil: Zur Ironie dieses Gedichts zählt, daß es bewundert und herrlich beschreibt, was es verdammt. Paralipse nennt die Rhetorik jene Stilfigur, die etwas gerade dadurch nachdrücklich hervorhebt, daß sie erklärt, es vollkommen übergehen zu wollen; die ersten elf Verse dieses Gedichts sind Paralipse par excellence. Und die restlichen fünf? Ein Bekenntnis zur armen Kunst und zur christlichen Demut. Hat das übrige lyrische Werk der Dichterin dieses Programm eingelöst? Gewiß, nur wenige und allemal schmale Bände hat sie in den vergangenen dreißig Jahren veröffentlicht, skrupulös war sie bei jedem Wort und äußerst sparsam mit poetischem Prunk. Und doch scheinen die Schlußzeilen allzu bescheiden. Ganz so, als habe die Last der Tradition ein letztes Mal obsiegt.
Dem aber widerspricht die Lyrik der Elisabeth Borchers sonst überall: Gerade auch in jenen Gedichten, die sich, widersetzlich und anerkennend zugleich, an traditionellen Motiven und Formen versuchen, hat sie das Epigonenlos keineswegs ereilt, hat sie höchst Eigenes zu finden, zu erfinden vermocht.

Jochen Hieberaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992

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