– Zu Werner Söllners Gedicht „Liebende“ aus Werner Söllner: Kopfland. Passagen. –
WERNER SÖLLNER
Liebende
Sie wollen nichts als sein. Nicht mehr. Das Dach
ist ihnen Dach, die Last noch Lust. Noch ganz
die Silbe Wort, geteilt. Ein naher Glanz
macht sie für uns zu Fremden. Sie sind wach
und schlafen ruhig. Sie leben einen Traum,
als gäbe es fürs Leben keine Frist,
als wäre tot, was nur vergangen ist.
Sie tragen nichts; nur jenen einen Raum,
in dem der andre trägt. Allein zu zweit,
sind sie im Einen. Was hat die Endlichkeit
zu tun mit ihrer Zeit? Und welche Welt
ist so in ihrem Sein wie jener Schlaf,
der jedem sagt, was je den andern traf?
Sie liegen nah, sind ganz auf sich gestellt.
Werner Söllner, 1951 im rumänischen Horia geboren und seit zehn Jahren in der Bundesrepublik lebend, ist auf dem Weg, ein bedeutender Dichter zu werden. Kopfland. Passagen hieß der Band, mit dem er 1988 debütierte, Der Schlaf des Trommlers, sein zweites Gedichtbuch, wurde im Frühjahr 1992 veröffentlicht. Was zeichnet Söllners Verse aus? Bisher vor allem eine mühelos erscheinende, in Wahrheit streng erarbeitete Balance aus Ursprünglichkeit und Überlieferung.
Nein, dieser Poet gehört nicht zu den lyrischen Brachialgenies, die mit Aplomb auftreten, einen Sommer der Emphase erleben, dann erschöpft schweigen oder sich nur noch selbst kopieren. Andererseits ist sein Verhältnis zur Tradition frei von postmoderner Beliebigkeit. Ob er Heines Ton für seine Verse erprobt, ob er lyrisch mit Brecht konferiert oder Celans magisch-genaue Dunkelheiten aufscheinen läßt: unübersehbar ist der Respekt vor den Vorbildern. Dieser Respekt aber ist nur die Kehrseite von Söllners überaus ernsthafter und energischer Radikalität bei der Suche nach dem eigenen Stil.
Unschwer ist auch der Ahnherr des Sonetts „Liebende“ auszumachen: natürlich ists Rilke, wenn es glänzt. Und Glanz ist ein Schlüsselwort des Gedichts, jenes Leuchten, das stets zwei Menschen umgibt, die mitten im Alltagsgetriebe nichts kennen als ihre Umarmung:
Allein zu zweit,
sind sie im Einen.
An ihnen vorübergehend, sie unwillkürlich beobachtend, wird man zwangsläufig zum Voyeur. Im flüchtigen Anschauen der ebenso nahen wie fremden Innigkeit aber wird blitzartig auch eigenes Glück erinnert – und künftiges erhofft.
„Sehnt es dich aber, so singe die Liebenden; / lange noch nicht unsterblich genug ist ihr berühmtes Gefühl“, hatte Rilke in der ersten Duineser Elegie postuliert. Der Nachfahr Söllner nimmt den Auftrag an. Von seiner Sehnsucht ist dabei mit keinem Wort die Rede – im Dienst am Gesang ist sie anwesend genug. Ein Inbild der Liebe führen die Verse vor und halten es fest. Ruhig und fließend, fast traumwandlerisch sicher ist ihre Kunstfertigkeit. Mit Bedacht werden die Reim- und Rhythmusgebote des Sonetts erfüllt, mit Bedacht und ganz in Rilkes Sinn wird auch die einzige Abweichung vom strengen Schema inszeniert: der Zeilensprung vom zweiten Quartett zum ersten Terzett überspielt die traditionell harte Zäsur zwischen den beiden Hälften des Sonetts. Aus Entgegensetzung entsteht so Harmonie, aus den Zwängen des Genres erwächst die Freiheit zum Liebeslob.
Das Gedicht „Liebende“ ist singulär in Söllners Werk. Denn dieser Poet hat bislang vor allem Zwischenzustände vermessen. Dem Halbschlaf also galten seine Verse oder der halben Geliebten. Gerade auch auf seine wenigen Liebesgedichte traf die Formel zu, die für seine gesamte Lyrik charakteristisch scheint:
Ganz ist, wo Menschen sind, nichts.
Von aller Ambivalenz befreit sind einzig die Liebenden dieses Poems: Einheit und Ganzheit, ungeteilt und ungebrochen, gewährt ihnen Söllner vierzehn Zeilen lang – sein Beitrag zur Unsterblichkeit des berühmten Gefühls. Er bewahrt sich und uns damit eine letzte, eine unverzichtbare Utopie: die Utopie des Paars. Daß er darauf besteht, führt ihn zugleich über Rilke hinaus. Denn Bleiben ist nirgends: gegen Rilkes elegische Klage über die Flüchtigkeit der Liebe und des Paars setzt Söllner eine überwältigende Frage:
Was hat die Endlichkeit
zu tun mit ihrer Zeit?
Nichts. Ewigkeitsaugenblicke vergehen nicht, wenn sie enden.
Jochen Hieber, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993
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