– Zu Herbert Achternbuschs Gedicht „Wandert das Gelb“ aus Helmut Heißenbüttel und Franz Mon (Hrsg.): Antianthologie. –
HERBERT ACHTERNBUSCH
Wandert das Gelb
Wandert das Gelb?
Gelb kichert nicht.
Hat keine Haut. Ist trocken.
Gießt man es, wird es grünlich.
Gelb gelacht, ohne verderbendes Rot.
Aus sich gelb. Gelbe Genüge.
Gelb wie ein Vogel.
Wie Fisch, das Blatt, das er ist.
Gelb hat einen Rand.
Was heiliger ist als der Schein
des Heiligenscheins, gelber, ist gelb.
Kein Herbst ist gelb. Kein Jahr.
Gott mag gelb sein, sein Mantel.
Das Gelb wandert. Ein
gelber Hüne. Arm aus Gelb,
die Haare darauf, staubiges Gelb.
Bald zwanzig Jahre ist es her, daß ich dieses Gedicht eines mir damals unbekannten Autors in den Akzenten fand (1964). Es nahm sofort von mir Besitz und tut das seither immer wieder.
Ein plötzliches Entzücken, das in einem aufsteigt wie Erröten; dann ein kleines Suchtgefühl, das einen wieder und wieder das kurze Stück lesen und schmecken läßt. Und dann, spätestens, möchte man wissen, was denn dieses Hingerissensein bewirkt hat. Die probateste Methode, das herauszufinden, ist immer noch: ganz langsam lesen. Denn das ist ja nicht zuletzt das Humane an der Sprachkunst, daß sie mir geduldig mein Wahrnehmungstempo läßt (anders als die Musik: man kann nicht in verschiedenen Geschwindigkeiten hören).
Achternbusch sah etwas Gelbes, das sich bewegte. Blätter vielleicht im Wind, jedenfalls wohl etwas Pflanzliches:
Gießt man es, wird es grünlich.
Aber was es ist, scheint nicht so wichtig, entscheidend ist, daß es gelb ist, und zwar nichts als gelb, gelb an sich.
„Gelb wie“ Vergleiche werden gesucht: was ist so gelb wie Gelb? „… ein Vogel.“ (Pirol?) Aber ebensogut dessen Gegenteil, der Fisch. Gelbe Fische? Wird’s unernst? Durchaus nicht („Gelb kichert nicht.“):
… das Blatt, das er ist.
Die Form also brachte den Vergleich, und daß es wohl doch ein Baum war, den Achternbusch gesehen hatte. Ein Herbstgedicht?
Noch gelber jedenfalls muß es werden, denn dieses Gelb ist göttlich und also das Göttliche gelb. Nicht die Jahreszeit, nicht die Zeit an sich, wohl aber das, was in ihr sich zeigt: das Wesen. „Als es wieder einmal geschah, daß der liebe Gott zu den Menschen ging und auf Erden wandelte…“ Und siehe, da geht er vorüber, der „Grüne Gott“ im Herbst, ein „gelber Hüne“, den Wanderstaub im Haar.
Ein Herbstgedicht also doch, vor allem aber ein Gedicht über eine Farbe: Gelb. Und das derart insistierend (fünfzehnmal taucht das Wort in den wenigen Strophen auf), daß im Verlauf das ganze Gedicht gelb eingefärbt erscheint und am Ende auch dem Leser sehr gelb im Gemüt wird. Zu gelb?
Man kennt das: Wer ein dutzendmal hintereinander recht intensiv das Wort „Badewanne“ spricht, weiß nicht mehr, was die Laute sagen wollen. Und auch das kennt man: Daß man bisweilen einem geläufig bekannten Menschen ins Gesicht blickt, und sekunden(minuten)lang lassen sich die Züge nicht mehr zu dem vertrauten Bild zusammensetzen: ein Fremder schaut einen an. Es sind diese Luftlöcher in der Realität, die uns verunsichern und eben dadurch den Sinnen Erkenntnischancen geben. Gedichte können das – mit ihren Mitteln – auch.
PS. „Im gelben Fleck liegt die ausschließlich Zapfen tragende Sehgruppe (Forea centralis) als Stelle des schärfsten Sehens“ (Meyer Enzyklopädisches Lexikon). In der Tat.
Und jetzt lesen Sie das Gedicht bitte noch einmal.
Jochen Jung, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983
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