Jörg Schuster: Zu Günter Eichs Gedicht „Veränderte Landschaft“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Veränderte Landschaft“ aus Günter Eich: Gesammelte Werke in vier Bänden. Band I: Die Gedichte. Die Maulwürfe

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Veränderte Landschaft

Die Schwermut kommt von Süden,
daß wir die Schneefelder sehen
und die Waldblößen,
die Stellen im Herzen,
die vergessen sind,
Baumgruppen des Zweifels,
die geschwungenen Wege der Zuversicht
und die Zäune der Armut.

Ob die Toten den Föhn spüren,
zeigen die Brachfelder an.
(Es ist verschieden
wie die Schneereste verschieden sind.)
Die Nachricht der Maulwurfshügel
wird noch weitergegeben,
aber nicht mehr gültig sind
die Namen der Dörfer.

 

Veränderte Landschaftslyrik

In seinem 1939 im Exil veröffentlichten Gedicht „An die Nachgeborenen“ drückte Bertolt Brecht sein Entsetzen über die historische Situation in der berühmt gewordenen Klage aus:

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist,
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!

Das „Gespräch über Bäume“ wurde in der deutschsprachigen Lyrik dennoch fortgesetzt. Gerade nach 1945 sind faszinierende Natur- und Landschaftsgedichte entstanden, denen die Gräuel der NS-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs eingeschrieben sind – nicht indem sie diese explizit benennen würden, sondern indem sich die dargestellte Natur der traditionellen Sinnstiftung verweigert und dem Anspruch harmonischer Ganzheitserfahrung entzieht. Bei Autoren wie Peter Huchel, Günter Eich oder Johannes Bobrowski werden Landschaften zu Chiffren völliger Sinnlosigkeit und Verzweiflung.
An den späten Gedichten Günter Eichs lässt sich dieser neue, desillusionierte Umgang mit der Natur besonders deutlich ablesen – umso mehr, als er damit sein eigenes früheres Schaffen in Frage stellt. „Viele meiner Gedichte hätte ich mir sparen können, ich hätte jetzt ein Kapital, könnte so ungereimt leben wie ich wollte. Das ewig nachgestammelte Naturgeheimnis. Nachtigallen kann auf die Dauer nur ertragen, wer schwerhörig ist“, schreibt Eich 1969.
Seine Abkehr von der mit der Aura des Magischen umgebenen Naturidylle erfolgt in der Tat ebenso spät wie radikal. Bis über die historische Zäsur des Jahres 1945 hinaus beschwört Eich, der sich als einer der erfolgreichsten Hörspielautoren des „Dritten Reichs“ korrumpiert hatte und dessen zivilisationskritische Haltung durchaus Berührungspunkte mit der NS-Ideologie besaß, geheimnisvoll-archaische Landschaftsbilder. Noch das Gedicht „Winterliche Fahrt“ von 1947 etwa schildert zunächst realistisch eine Winterlandschaft („Föhnwind färbt die Felderzeilen, / taut das Eis zu brauner Lauge“), um abschließend nach dem Geheimnis ,hinter den Dingen‘ zu fragen:

Nimmer faß ichs, ob das Feld,
Wald und Dorf und Baum und Winter,
Bild an Bild ergibt die Welt
oder was sich birgt dahinter.

Erst mit dem Gedichtband Botschaften des Regens von 1955 distanziert sich Eich von dieser Art Naturlyrik. So stellt das dort veröffentlichte Gedicht „Veränderte Landschaft“ eine Zurücknahme des acht Jahre zuvor veröffentlichten Winter-Gedichts dar. Landschaft und menschliche Zustände sind hier in einer komplizierten, paradoxen Weise aufeinander bezogen. Nicht der Föhnwind, sondern seine psychische Folge, die „Schwermut“, kommt, die traditionelle Symbolik der Himmelsrichtungen verkehrend, „von Süden“ und führt zu einer neuen Wahrnehmung der Landschaft, die ihrerseits eine Form der Erkenntnis darstellt. Der Blick wird auf lichte, leere Plätze gelenkt, auf Schneefelder und Lichtungen („Waldblößen“), um sich dann von außen nach innen zu wenden. Willkürlich werden, bis auf den einen optimistischen Kontrapunkt, „die geschwungenen Wege der Zuversicht“, alle Landschaftsbilder mit negativen Grunderfahrungen wie Vergessen, Zweifel und Armut verbunden.
Geht es in der ersten Strophe darum, eine melancholische Deutung auf eine Winterlandschaft zu projizieren, so ist die zweite noch weitaus resignativer. Die Zeichen der Landschaft erscheinen hier generell als sinnlos, unverständliche Nachrichten brechen ,von unten‘ hervor. Die Schneereste auf den Brachfeldern zeigen nun, wie es im kühlen Ton einer Feststellung heißt, ob die Toten den Föhn fühlen. Und die Maulwürfe – nicht zufällig Namensgeber einer später von Eich erfundenen Form des absurden Prosagedichts – untergraben nicht nur die Erde, sondern das herkömmliche Verständnis symbolischer Natursprache. Ihre Erdauswürfe übermitteln ja tatsächlich gerade keine intendierten „Nachrichten“. Auch sind sie im Gegensatz zum Gesang der Nachtigall ästhetisch reizlos und fordern nicht zur Identifikation oder zur Suche nach einem verborgenen Geheimnis heraus.
Der Versuch, die „Nachricht der Maulwurfshügel“ zu verstehen, erscheint als ebenso sinnlos wie die Tatsache, dass Schneefelder die Wetterfühligkeit der Toten anzeigen – plötzlich sehen wir uns einem subversiven Kommunikationssystem gegenüber, das keine nachvollziehbare Bedeutung mehr transportiert. Und da umgekehrt die alten, konventionellen „Namen der Dörfer“ nicht mehr gelten, scheint es um unsere Orientierung mittels der Sprache schlecht bestellt. Die hier präsentierte Naturszenerie ist zwar voller Zeichen und Nachrichten. Die Landschaft ist aber in dem Sinne verändert, dass wir nicht mehr über die Macht verfügen, ihre Zeichen zu deuten. Das Landschaftsgedicht stellt sich damit selbst in Frage und hinterlässt nichts anderes als Ratlosigkeit und Schrecken.

Jörg Schusteraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenunddreißigster Band, Insel Verlag, 2014

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