– Zu Johann Lippets fünf Gedichten zur Eröffnung eines Informativen Vorgangs aus Johann Lippet: Das Leben einer Akte. –
JOHANN LIPPET
Neue Literatur 4/1974
gewesener selbstmordgang der familie
(frei nach meiner urgroßmutter und meiner großmutter)
und ich glaube
daß ihr bewußtsein
sich gewandelt hat
da sie an feiertagen
die bäume weißen
und fahnen heraushängen
lange zeit hatten sie keine fahnen
als die todesfahne
die an der kirche hing
wenn jemand gestorben war
man sagte der selbstmord sei in der familie
weil viele selbstmord begangen haben
die tochter des bruders
meiner urgroßmutter
erhängte sich aus liebe für einen mann
alle die selbstmord begangen haben in unserer familie
erhängten sich
es erhängte sich mein urgroßvater
er war husar gewesen
erzählte mir meine urgroßmutter
er erhängte sich
als einer ihm ins gesicht schlug
als man ihm
seine eggen pflüge und seine sämaschine wegnahm
die er sich aus der schweiz hat schicken lassen
sagte meine urgroßmutter
er nahm den strick
hielt seine zeit damit fest
und sie beerdigten ihn
weil sie dem arzt zwei zentner weizen geschenkt hatten
und er ein christliches todeszeugnis ausstellte
erzählte meine urgroßmutter
es erhängte sich
ein anderes mädchen der familie
auch aus liebe
und sie beerdigten sie als jungfrau
sie war auf den strümpfen vom ball nach hause gelaufen
weil die eltern den jungen nicht wollten
mit dem sie getanzt hatte
sie nahm den strick
und hielt ihre liebe damit fest
es erhängte sich ein anderer aus der familie
weil er müde war
er durchschnitt sich mit dem großen messer die venen
lief dann auf den hausboden
und erhängte sich
mit durchgeschnittenen venen
er nahm das große messer und den strick
und hielt seine müdigkeit damit fest
es erhängten sich
noch drei aus der familie
sie waren schon alt
sie nahmen den strick
und hielten ihr alter damit fest
ich glaube daß sich jetzt
ihr bewußtsein gewandelt hat
seit jahrzehnten hat sich keiner mehr erhängt
wegen eggen pflügen sämaschinen
aus liebe
aus müdigkeit
aus alter
sie weißen ihre bäume an feiertagen
und hängen fahnen heraus1
Beim Lesen der Interpretation dazu im Bericht fiel mir auf, daß behauptet wird, ich würde in den Schlußzeilen des Gedichts zur Emigration aufrufen. Natürlich hatten die Informanten die Aufgabe, bei der Lektüre literarischer Texte nach Stellen zu suchen, die inkriminiert werden konnten. Aber woher diese Behauptung?
Ich erinnerte mich, daß das Gedicht einen anderen Schluß hatte, der eine Anspielung auf die Emigration der Deutschen aus Rumänien machte, in dieser Fassung aber nie erschienen war, ich selbst besitze die Originalfassung nicht mehr. Auf die stieß ich in meiner Akte und las, wenn auch in rumänischer Übersetzung, nach fast fünfunddreißig Jahren mein Gedicht in der Originalfassung wieder. Rückübersetzt lauteten die Schlußzeilen:
sie träumen jetzt von autos
viel geld
und es ist sehr gut daß sie träumen
einige wollen auswandern
Am 15.10.1973 berichtet Informant „Walter“ an Leutnant Herţa Gh., als Ort wird Haus Mara2 genannt, weitere Quellenangaben enthält der Briefkopf der getippten Abschrift, ein Durchschlag, nicht. „Hinsichtlich Lippet Johann“, mein Name ist handschriftlich eingetragen, „einem der jungen Dichter der Gruppe aus dem Banat, von der ich bereits in einer anderen Mitteilung berichtete, informiert Sie die Quelle über folgendes: Ich habe von den Studenten aus Temeswar publizierbares Material für die Nr. 12 der Zeitschrift Echinox (deutsche Seite) verlangt. Ich erhielt einen Umschlag, darin mehrere Gedichte und kurze Prosastücke von mehreren Autoren, der Absender war Richard Wagner (Name handschriftlich eingetragen). Unter den anderen Materialien, die ich in Nr. 12 veröffentlichen werde, befand sich auch das Gedicht des oben Genannten.“
Es folgt die Übersetzung des Gedichts in der Originalfassung, darauf ein Kommentar des Informanten.
Vor allem der Schluß des zitierten Gedichtes ist extrem tendenziös. Das Ineinandergreifen der Bilder von Feier und einer korrupten Realität ist gezielt auf die Schlußfolgerung der letzten Zeilen ausgerichtet. Ich möchte darauf hinweisen, daß das Gedicht noch nirgendwo veröffentlicht wurde.
Darunter steht getippt der Deckname ohne Unterschrift.
In der Anmerkung des Führungsoffiziers, getippt, heißt es: „Lippet Johann“ (Handschrift), „Student aus Temeswar, wurde uns schon mit interpretierbaren Arbeiten signalisiert, die Materialien wurden an das Kreisinspektorat Temesch gesandt. Die Mitteilung ist wichtig, geht als Kopie an diese Einheit mit dem Vermerk, daß in Klausenburg nur unsere Quelle von diesem Gedicht weiß.“
Am 25.12.1973 geht ein Schreiben, getippt, mit Briefkopf, Kreisinspektorat des Innenministeriums Klausenburg, an den Chef des Dienstes I des Kreisinspektorats Temesch des Innenministeriums, ein Name wird nicht genannt. Das Schreiben ist von Chefinspektor, Oberst Dan Constantin, und vom Chef des Dienstes, Oberstleutnant Musuroia Gheorghe, unterzeichnet und trägt den Stempel der Behörde.
Anbei schicken wir Ihnen zwei Mitteilungen unserer Quelle „Walter“ die sich auf Gedichte mit feindseligem Inhalt beziehen, deren Verfasser, (Namen handschriftlich eingetragen,) Richard Wagner, Gerhard Ortinau und Lippet Johann, sind Studenten der Philologiefakultät aus Temeswar und gehören einer Gruppe junger deutschsprachiger Autoren aus dem Banat an. Die Gedichte wurden im Laufe der Monate Oktober-Dezember laufenden Jahres zur Veröffentlichung an die Zeitschrift Echinox geschickt. Im Schreiben wird darauf hingewiesen, daß die Fälle auch der Direktion I Bukarest gemeldet wurden, und es schließt mit dem Hinweis: Das zugesandte Material enthält fünf Seiten.
Das Schreiben trifft am 28.12.1973 ein, hierzu gibt es eine Anordnung, an wen und von wem unleserlich, ohne Nennung des Rangs. In der vom 3.01.1974, Unterschrift unleserlich, ohne Angabe des Rangs, heißt es:
Genosse Major Ianto, legen Sie einen Bericht zum gesamten Material vor mit Vorschlägen zu jedem einzelnen Element, Termin 13.07.1974.
Die Meldung nach Temeswar zu meinem zitierten Gedicht umfaßt, einschließlich Übersetzung, drei Seiten, die anderen zwei Seiten beziehen sich auf je ein Gedicht von Richard Wagner und Gerhard Ortinau, einschließlich Übersetzung. Die Mitteilung zu den beiden Autoren und den Gedichten stammt vom 5.12.1973 der Quelle ,,Walter“ an Leutnant Herţa Gh. im Haus „Mara“.
In der Einleitung dazu heißt es:
Hinsichtlich der Gruppe junger Dichter aus dem Banat informiert Sie die Quelle, daß sie eine Aufstellung mit Gedichten in der Zeitschrift Echinox veröffentlichen wollen, hierzu wurden mir Gedichte von sieben Autoren (Wagner, Ortinau, Bossert, Bohn, Lippet, Totok und Kremm) zugeschickt.
Auf die von Richard Wagner und Gerhard Ortinau geht die Quelle dann näher ein.
Auf die Interpretation der Gedichte folgt die Anmerkung des Führungsoffiziers:
Die Temeswarer Autoren wurden uns von der Quelle schon öfter mit Gedichten tendenziösen Inhalts signalisiert, vor allem Richard Wagner, die sie an die Zeitschrift Echinox schickten. Die Materialien wurden in Kopien ans Kreisinspektorat Temeswar weitergeleitet. Ich telefonierte mit dem Chef des Dienstes I/A, der uns mitteilte, daß die Gruppe unter seiner Beobachtung steht. Da er uns um weiteres informatives Material bittet, weisen wir darauf hin, daß die Quelle ,,Walter“ die Möglichkeit hätte (wenn man ihm Fahrtkosten bezahlt) nach Temeswar zu kommen, weil sie von den genannten Studenten eingeladen wurde.
Zwei weitere Mitteilungen an Leutnant Herţa Gh., getippt, sind dokumentiert, das Haus „Mara“ wird im Briefkopf nur in einer angeführt, in beiden jedoch die Kennziffer des Informanten, 18067, und die Anzahl der bisher gelieferten Berichte: 0034 bzw. 0035. Obwohl mein Name darin nicht genannt wird, wollen wir kurz darauf eingehen, weil es um eine Anthologie geht, in der ich auch vertreten bin. Am 8.03.1973 macht Informant „Walter“ Mitteilung über die Anthologie mit jungen deutschen Dichtern aus dem Banat Wortmeldungen, erschienen 1972 im Facla Verlag Temeswar. In dieser Mitteilung übersetzt und kommentiert er zwei Gedichte von Richard Wagner und eines von Gerhard Ortinau. In einer Anmerkung des Führungsoffiziers heißt es, daß die Quelle nach einer ersten Begegnung mit anderen Personen aus der Gruppe am 15.03.1973 erneut berichten wird.
Und die nächste Mitteilung erfolgt tatsächlich am 15.03.1973, nimmt Bezug auf die Anthologie Wortmeldungen. geht dann ausführlich auf Ernest Wichner ein. Die Quelle berichtet, unter welchen Umständen sie ihn vor zwei Jahren kennenlernte und was sie damals erfuhr: in Temeswar gebe es Banden, die gegen Zahlung von ungefähr 10.000 Dinar3 Leute über die Grenze schaffen, in PKWs und internationalen Fernlastern. Die Atmosphäre in Temeswar, meint der Informant, begünstigt das Phänomen der Landesflucht, das bestimmt nicht ohne Einfluß auf die jungen Autoren bleiben wird. Von Ernest Wichner weiß er zu berichten, daß dieser sich mit solchen Gedanken trägt, ohne jedoch schon konkrete Pläne zu haben.
Der Führungsoffizier weist in einer Anmerkung darauf hin, daß diese Mitteilung als Kopie an die Direktion I Bukarest und an das Kreisinspektorat Temesch des Innenministeriums geht.
Ich bin auf diese Mitteilung, die nicht mich zum Gegenstand hat, eingegangen, weil darin das Verlassen des Landes angesprochen wird, und weil dieser Aspekt die Securitate auch in meinem Fall über all die Jahre beschäftigen wird: Informanten sollen in Erfahrung bringen, ob ich zu emigrieren beabsichtige.4
Zurück zur Eröffnung des informativen Vorgangs und zum zweiten inkriminierten Gedicht, das in der Aufstellung der „Aktionsgruppe Banat“ erschien und über das festgehalten wird, daß es einen allegorischen Kampf mit der Realität des Landes beinhaltet, vergleichbar mit dem des Don Quijote:
Neue Literatur 4/1974
Don Quijote, Sancha Panza und ich
als Don Quijote erkannte,
daß er gegen die wirklichkeit gekämpft hatte,
daß alles wirklichkeit ist,
stieg er von Rocinante
und ging zu fuß in den tod.
Sancho Panza stieg von seinem maulesel,
senkte seine lanze
und stieß den schlachtruf seines herrn aus.
ich reite auf der wirklichkeit
aaahurre, hurre,
aaahopp, hopp,
aaaaaahopp
und wär jetzt fast gefallen
aaaaaahopp
aaaaaaich reite
die wirklichkeit zwischen den beinen
aaaaaaho
aaaaaaho
nur nicht scheu werden
beim versuch
dich in worten zu fassen5
Zu diesem Gedicht existieren in meinem Dossier keine Unterlagen: weder Übersetzung noch Kommentar. Das ist auf Lücken in den mir von CNSAS zur Verfügung gestellten Unterlagen zurückzuführen. Es muß aber die Mitteilung eines Informanten gegeben haben, denn die Securitate bezog sich in ihren Analyseberichten immer auf die Quellen, übernahm deren Einschätzung, oft bis in den Wortlaut.
Diese Veröffentlichung der „Aktionsgruppe Banat“ in NL 4/1974 versetzte die Securitate in Alarmbereitschaft, ihre Informanten traten in Aktion.
Bukarest, 22.07.1974, „Puiu“ der Deckname des Informanten, steht am Schluß der drei Seiten umfassenden Mitteilung: getippte Abschrift, die Namen handschriftlich eingetragen, Briefkopf, Ministerium des Inneren, Direktion 1, keine weiteren Quellenangaben, der Name des Securitate-Offiziers ist nicht genannt.
„Die Quelle informiert“, beginnt die Mitteilung, „daß die Gedichtaufstellung in Neue Literatur 4/1974 unter dem Titel ,Aktionsgruppe Banat – Wire Wegbereiter‘6 von der Form her eine Nachahmung literarischer moderner Ausdrucksweisen aus Deutschland der Jahre 1920–1930 ist. Sie hat weder mit Avantgarde noch mit gegenwärtigen Formen von Protest zu tun wie in westlichen Ländern üblich, vor allem in Westdeutschland. Der Informant ist davon überzeugt, daß die Veröffentlichungen sich gewollt modernistisch geben, von einem größeren Publikum nicht verstanden werden, und fügt hinzu, daß von einer breiten Leserschaft schon deshalb nicht die Rede sein kann, weil die Zeitschrift nur in 1.500 Exemplaren erscheint, wovon 800 nicht verkauft werden. Einige dieser literarischen Erzeugnisse, meint der Informant, beinhalten so etwas wie Protest, dieser richtet sich aber in den meisten Fällen gegen Engstirnigkeit, Unverständnis, Routine usw. Man könnte diesem Protest aber auch eine politische Absicht unterstellen.“
Der Informant geht anschließend auf einen Text von Werner Kremm ein und legt dar, welche Anspielung dahinter stecken könnte, im Text von Rolf Bossert entdeckt er eine auf die Auswanderung der Banater Schwaben, einen anderen Text von Werner Kremm stuft er als reaktionär ein, den von Albert Bohn als kritisch, aber nicht apokalyptisch, von einem Gedicht Gerhard Ortinaus heißt es, es könnte sowohl positiv als auch negativ verstanden werden.
Mein Gedicht „gewesener selbstmordgang der familie“ interpretiert der Informant als eine Persiflage auf die Gegenwart. „Früher begingen die Leute aus Liebe, wegen Erbschaft und anderem Selbstmord, erhängten sich, heute weißen sie die Bäume und hängen Fahnen heraus“, begründet er seine Einschätzung und macht darauf aufmerksam, daß erhängen/hängen ein zweideutiges Wortspiel ist.
Die Mitteilung geht noch auf den Begleittext von Gerhardt Csejka7 ein, zu dem es heißt, daß der Redakteur der Zeitschrift die jungen Autoren nicht in Schutz nimmt, sondern die Leser dazu auffordert, über das Gelesene nachzudenken, es nicht vornweg abzulehnen. Abschließend kritisiert der Informant die Redaktion der Zeitschrift, denn er findet einen der darin abgedruckten Aphorismen von Karl Krauss, den er übersetzt, völlig fehl am Platz und reaktionär. Im Original lautet er:
Eine Heimat zu haben, habe ich stets für rühmlich gehalten. Wenn man dazu noch ein Vaterland hat, so muß man das nicht gerade bereuen, aber zum Hochmut ist kein Grund vorhanden, und sich gar so zu benehmen, als ob man allein eines hätte und die anderen keins, erscheint mir verfehlt.
Abschließend heißt es:
Der Informant wurde um diese Mitteilung gebeten, damit wir uns ein besseres Urteil über die in der Zeitschrift Neue Literatur veröffentlichten Materialien bilden können. Die Originalfassung der Mitteilung wird im Vorgang verwertet. Der Informant wurde instruiert, uns mitzuteilen, ob es zu Meinungsäußerungen kommt, von wem und wie.
In seinem Bericht vom 10.10.1974 entwirft Informant „Sandu“ aus Temeswar eine kurze Geschichte der „Aktionsgruppe Banat“, sie umfaßt vier Seiten, in Schreibmaschinenschrift, und ist als Kopie ausgewiesen. Im Briefkopf wird der Deckname des Informanten genannt, und es ist vermerkt, daß Major Ianto Petru diese Mitteilung an Stelle von Oberstleutnant Minciu entgegennimmt. „Gegenstand: Hochschulwesen“, ansonsten keine weiteren Quellenangaben.
„Unter dem Namen ,Aktionsgruppe Banat‘“ (so im Original, in Klammer steht die Übersetzung) „kennt man zur Zeit eine Gruppe junger deutschsprachiger Dichter aus dem Banat“, beginnt Informant „Sandu“ seine Mitteilung. Er weist im weiteren darauf hin, daß die Mitglieder der Gruppe schon als Schüler veröffentlichten, später als Studenten in der Universitas-Beilage der Neuen Banater Zeitung und in der Zeitschrift Neue Literatur, daß es zu Überwerfungen mit dem Chefredakteur der Neuen Banater Zeitung, Nikolaus Berwanger, kam, daß die Gruppe ihren eigenen Literaturkreis im Studentenkulturhaus gründete und nun vorwiegend in der Neuen Literatur veröffentlicht, wo sie in Redakteur Gerhardt Csejka einen Unterstützer fand, der eine Gruppenaufstellung in Nummer 4/1974 publizierte.
Die Gruppe ist keine Organisation8 mit Statut, sondern ein Freundeskreis gleichen Alters und Berufs, Studenten der Philologie oder gegenwärtig schon Lehrer, der sich aber anderen jüngeren Schriftstellern gegenüber diskriminierend verhält. Es scheint, daß ihnen die Bezeichnung „Aktionsgruppe Banat“ von der deutschsprachigen Presse des Landes verliehen wurde, sie sich selbst anfangs nicht so nannten.9
Nach diesen Hinweisen zählt Informant „Sandu“ alle Autoren auf, die in der NL 4/1974 veröffentlichten, und er weiß genau Bescheid: daß Werner Kremm, Balthasar Waitz und ich inzwischen das Germanistikstudium absolviert haben und wo wir Lehrer sind, in welchem Studienjahr derselben Fachrichtung sich Richard Wagner, Gerhard Ortinau, William Totok, Ernest Wichner befinden, daß Albert Bohn dieses Studium aufnehmen wird, daß Rolf Bossert ihm in Bukarest nachgeht, Anton Sterbling Bauwesen in Reschitza studiert.
Der Informant meint in Richard Wagner den Kopf der Gruppe ausgemacht zu haben, weist darauf hin, daß er als einziger bereits ein Buch veröffentlicht hat, 1973 den Gedichtband Klartext. Im weiteren liefert der Informant eine Einschätzung der Gruppe: „intelligent, belesen, vertraut mit der zeitgenössischen rumänischen Literatur, der zeitgenössischen deutschsprachigen aus der DDR, der Bundesrepublik und Österreich. Die schriftstellerischen Anlagen der Mitglieder der Gruppe sind vorwiegend in der Lyrik auszumachen, bloß Ansätze von Prosa“, fährt der Informant fort und meint, daß ihre literarischen Versuche von den Neuerungen in der Literatur beeinflußt sind, und daß man ihr daher vorwerfen könnte, zu avantgardistisch und hermetisch zu sein. Darin sieht der Informant die Ursachen für die Ablehnung der Gruppe durch die älteren deutschsprachigen Schriftsteller aus Temeswar und nennt die Ziele, die sich die jüngeren Autoren gesetzt haben: Überwindung des Provinzialismus in der deutschsprachigen Literatur Rumäniens durch Anknüpfung an die literarische Moderne.
Der Informant weist darauf hin, daß die Mitglieder der Gruppe großes Interesse für innen- und außenpolitische Ereignisse zeigen, führt als Beispiel eine Veranstaltung im Studentenkulturhaus an, als Texte zum Thema Solidarität mit dem chilenischen Volk gelesen wurden.10 In persönlichen Gesprächen mit Mitgliedern der Gruppe will der Informant erfahren haben, „daß sie sich dem Staat verbunden fühlen, eine engagierte Literatur schreiben wollen. Wiederholt wiesen sie darauf hin, daß über alles gesprochen oder geschrieben werden soll, es keine Tabuthemen geben darf. Aus diesem Grund distanzieren sie sich kategorisch von der Literatur der fünfziger Jahre und lehnen dadurch indirekt einige Praktiken jener Jahre ab.“
Daraufhin berichtet der Informant, daß sich Mitglieder der Gruppe auch „unverstanden“ (im Original in Anführungszeichen) glaubten, beispielsweise die Anordnung des Dekanats, sich die Haare schneiden zu lassen, ignorierten und dazu gezwungen werden mußten. „Das ist natürlich nicht das Hauptproblem“, räumt der Informant ein, und führt andere Beispiele an. „So fühlte man sich ,unverstanden‘ als Werner Kremm, damals noch Student, eine Textmontage, aus ihren literarischen Arbeiten zusammengestellt, aufführen wollte, es aber, soviel ich weiß, nicht dazu kam, weil die lokalen Behörden keine Genehmigung erteilten. Andererseits veröffentlichte die Neue Literatur diese Arbeiten. Ein ähnlicher Fall ereignete sich vor Jahren, als J. Lippet. damals noch Student, im Literaturkreis Adam Müller Guttenbrunn las (geleitet von den ,Alten‘ Franz Liebhard, Nikolaus Berwanger, Hans Kehrer, Ludwig Schwarz) und seine Gedichte wegen ihrer nihilistischen Einstellung, worüber sich streiten ließe, von Nikolaus Berwanger heftig kritisiert wurden. (Der Vorfall trug, wie es scheint, wesentlich zum ,Bruch‘ bei.) Gleichzeitig aber veröffentlichte die Neue Literatur eben diese Gedichte.“
Im folgenden weist die Quelle darauf hin, daß die jungen Autoren von der Zeitschrift gefördert werden, speziell von Gerhardt Csejka, der die Aufstellung in der NL 4/1974 lobte. Zu den veröffentlichten Texten:
Hauptmerkmale, was die künstlerische Verwirklichung betrifft, sind Wortspiele, formale Künstlichkeit, nicht immer im besten Sinne des Wortes, so daß ein Verständnis sehr schwierig wird, nur für Eingeweihte, aber die jungen Autoren der „Aktionsgruppe Banat“ sind noch auf der Suche.
Abschließend heißt es:
Eine seriöse Analyse über die Tätigkeit der „Aktionsgruppe Banat“ wurde noch nicht gemacht, auch ich erhebe diesen Anspruch nicht, vielleicht auch deshalb, weil die Tätigkeit der Gruppe nicht von allen Schöpfern und Liebhabern von Literatur in deutscher Sprache bei uns ernst genommen wurde.
Dieser Bericht des Informanten „Sandu“ aus Temeswar kann wie der des Informanten „Puiu“ aus Bukarest als „Expertise“ angesehen werden. Derartige Gutachten dienten in einem Gerichtsverfahren als Beweismaterial, es kann also davon ausgegangen werden, daß eine Anklage vorbereitet wurde. Darauf deutet der Hinweis in der Anmerkung zum Bericht des Informanten „Puiu“ hin, wo es heißt, daß die Originalfassung der Mitteilung im Vorgang ausgewertet wird, ohne jedoch zu präzisieren, um welchen Vorgang es geht. Und Informant „Sandu“ weist ausdrücklich darauf hin, daß wir keine organisierte Gruppe sind, was die Securitate natürlich lieber anders gesehen hätte, weil das für eine Anklage ein wichtiger Punkt gewesen wäre.
An die Einschätzung meines Textes „mutmaßliche überlegungen eines banater schwaben nach der ansiedlung, gründung der wirtschaft und der familie“ (frei nach einem volkslied) aus dem Bericht über die Eröffnung des informativen Vorgangs „Luca“ Mai 1982, sei erinnert: Er schildert die Gründung der Wirtschaft durch einen schwäbischen Kolonisten, der Text will verdeutlichen, daß der Schwabe, als er kolonisiert wurde, arm war, aber ein Vaterland hatte, jetzt aber, nachdem er sich alles erwirtschaftet hat, kein Vaterland mehr hat. Hier der Text wie er im Original erschien.
Neue Literatur 11/1974
mutmaßliche überlegungen eines banater schwaben nach der ansiedlung, gründung der wirtschaft und der familie.
(frei nach einem volkslied)
I
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da gab man mir ein stück land
und ich benannte es
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
land
II
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da baute ich mir ein haus
und benannte es
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
haus
land
III
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da nahm ich mir einen hund
und benannte ihn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
hund
haus
land
IV
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da kaufte ich mir einen hahn
und benannte ihn
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
hahn
hund
haus
land
V
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da erwarb ich mir eine gans
und benannte sie
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
gans
hahn
hund
haus
land
VI
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da erarbeitete ich mir ein schwein
und benannte es
unrein
hieß mein schwein
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
schwein
gans
hahn
hund
haus
land
VII
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da schenkte man mir ein schaf
und ich benannte es
brav
hieß mein schaf
unrein
hieß mein schwein
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
schaf
schwein
gans
hahn
hund
haus
land
VIII
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da kaufte ich mir eine kuh
und benannte sie
aufundzu
hieß meine kuh
brav
hieß mein schaf
unrein
hieß mein schwein
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
kuh
schaf
schwein
gans
hahn
hund
haus
land
IX
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da erarbeitete ich mir ein pferd
und benannte es
geldwert
hieß mein pferd
aufundzu
hieß meine kuh
brav
hieß mein schaf
unrein
hieß mein schwein
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
pferd
kuh
schaf
schwein
gans
hahn
hund
haus
land
X
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da erwarb ich mir ein weib
und benannte es
stolzerleib
heiß mein weib
geldwert
hieß mein pferd
aufundzu
hieß meine kuh
brav
hieß mein schaf
unrein
hieß mein schwein
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hochhinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
weib
pferd
kuh
schaf
schwein
gans
hahn
hund
haus
land
XI
als ich in dieses land gekommen bin
war ich ein armer mann
da schenkte mein weib mir ein kind
und ich benannte es
schwabenkind
hieß mein kind
stolzerleib
hieß mein weib
geldwert
hieß mein pferd
aufundzu
hieß meine kuh
brav
hieß mein schaf
unrein
hieß mein schwein
weißerschwanz
hieß meine gans
feuermahn
hieß mein hahn
ungesund
hieß mein hund
hoch hinaus
hieß mein haus
sumpfstrand
hieß mein land
und zählte an den fingern
kind
weib
pferd
kuh
schaf
schwein
gans
hahn
hund
haus
land11
Obwohl es zu diesem Text besagte Einschätzung gibt, die von einem Informanten stammen muß, der wahrscheinlich den Text auch übersetzt hat, fehlen die Unterlagen in meinem Dossier, zum Text gibt es aber eine andere Mitteilung, getippte Abschrift.
Kopie, Nr. 22943/I/003, Datum 07.01.1975, Quelle: Mitarbeiter „Thomas; Empfänger: Major Köpe R., Gegenstand: Faschistische Deutsche Elemente, steht im Briefkopf dieses Schriftstücks. Die Quelle informiert, beginnt die Mitteilung, daß sie am 6.01.1975 mit Lippet Johann, Lehrer an der Allgemeinschule Nr. 8 Temeswar,12 sprach hinsichtlich des Gedichtes „mutmaßliche überlegungen eines banater schwaben nach der ansiedlung, gründung der wirtschaft und der familie; veröffentlicht in der Zeitschrift Neue Literatur Nr. 11/1974.
Es folgt die Übersetzung des Titels ins Rumänische, der Originaltitel ist handschriftlich, in Großbuchstaben.
Aus dem Untertitel geht hervor, daß es sich um die Bearbeitung eines Volksliedes handelt, der Text ist ein Fragment aus einer größeren Arbeit. Die Quelle äußerte Kritik an der Form dieses Gedichtes, weil sie literarisch wertlos ist. Sie weiß zudem, daß das Gedicht noch keine endgültige Fassung hat und noch fortgeschrieben werden wird.
Die Mitteilung bezieht sich im weiteren auf zwei andere Gedichte, die ebenfalls in dieser Nummer der NL erschienen. ,,Eins, zwei, drei“ spricht die Quelle jegliche literarische Qualität ab, ,,Sommersonnenaufgänge auf der Banater Heide“ hält sie „vom literarischen und ästhetischen Standpunkt für gelungen.“ Zum Schluß: „Die Quelle weist darauf hin, daß sie mit oben Genanntem ihre Kindheit verbrachte, und daß sie Klassenkollegen von der fünften bis in die zwölfte waren.“ Temeswar, 7.01.1975 ss. „Thomas“ steht darunter, dann folgt von Seiten des Führungsoffiziers:
Anmerkungen, Aufgaben und Maßnahmen wie in der Originalmitteilung vermerkt, ss. Major Köpe Rudolf.
Zu den beiden letzten inkriminierten Gedichten im Bericht über die Eröffnung des informativen Vorgangs heißt es:
Sie haben vom politischen Standpunkt aus einen interpretierbaren Inhalt.
Wie im Fall von „Don Quijote, Sancho Panza und ich“ gibt es dazu in den mir zur Verfügung gestellten Unterlagen keine Mitteilung eines Informanten. Sie müssen der Securitate aber wenigstens in Übersetzung vorgelegen haben, da sie Erwähnung in diesem wichtigen Dokument finden.
Neue Banater Zeitung-Wortmeldungen ’82 (10.02.1982)13
Vom seltsamen Haus und vom seltsamen Mann
seltsames haus, in dem ich wohne,
das ich mir nicht ausgesucht,
seltsames haus, in dem ich lebe.
durchs haus wehen die winde:
der ostwind ist heiter,
der westwind gescheiter,
der südwind ist lau,
der nordwind ganz schlau.
seltsamer mann, der du das haus bewohnst:
mit den himmelsrichtungen an füßen und händen,
mit den winden in den taschenenden.
seltsames haus, in dem ich wohne,
das ich mir nicht ausgesucht,
seltsames haus, in dem ich lebe:
mit dem osten ganz weit,
mit dem westen bereit,
mit dem süden ganz munter,
mit dem norden noch bunter.
seltsames haus, in dem ich wohne.
mein gesichtskreis das ende der welt.14
Wintergefühl 1981
die raben ziehen ihre runden unter dem himmel.
die schwalben sind weg, die weltreisenden,
die störche entflohen, die richtungsweisenden,
die sperlinge, die ausharrenden, richten sich ein
für den winter.
es werden die tage, die meinen, kürzer,
es werden die nächte, auch meine, länger,
der winter ist da.
der meine bricht los.15
Fünf Gedichte werden im Bericht über die Eröffnung des informativen Vorgangs vom 3.05.1982 als Beweise meiner staatsfeindlichen schriftstellerischen Tätigkeit aufgeführt, zudem wird auf meine kritische Haltung zu sozial-politischen Aspekten des Landes hingewiesen, auf meine Mitgliedschaft im Literaturkreis Adam Müller-Guttenbrunn und die Beziehungen zu meinen Temeswarer Schriftstellerkollegen. Doch nicht allein darauf beschränkte sich das Wissen der Securitate, wie Mitteilungen von Informanten zu mir und der „Aktionsgruppe Banat“ belegen, die bisher Erwähnung fanden. Was die Securitate bis 1982 noch wußte und welche Maßnahmen sie ergriff, dokumentieren Schriftstücke, die im folgenden näher beleuchtet werden sollen.
Aus Johann Lippet: Das Leben einer Akte. Chronologie einer Bespitzelung, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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