DIE SPRACHE AN KONRAD DUDEN
Ach wenn Sie wüßten, Geheimrat! Da krieg ich von
aaaaaJahr zu Jahr neue
Stangenkorsetts, – damals Ihr Selbergeschneidertes
aaaaaging,
aber die neuen! Das Letzte hatte die Knöpfe nach
aaaaainnen,
keins paßt, der Reißverschluß kneift, jedes benimmt
aaaaamir die Luft.
„Du schreibst schon wieder Epigramme?“ so fragt – bei August Wilhelm Schlegel – der A. den B. Und der gibt zur Antwort:
Darin entladet sich des Zornes Flamme.
Denn, bleiben sie auch ungedruckt,
Der Blitz hat aus der Wolke doch gezuckt.
Man kann sie guten Freunden zeigen,
Die’s wohl nicht allzumal verschweigen;
Und wenn der Feind was munkeln hört,
So hat man seine Ruh verstört
Und braucht nicht weiter nachzujagen,
Noch gar mit Knüppeln dreinzuschlagen.
Man mag im hier gegebenen Zusammenhang versucht sein, dem Initial B., das der Epigrammatiker August Wilhelm Schlegel einsetzt, acht weitere Buchstaben hinzuzufügen – zumal einiges von dem, was dieser Herr B. geltend macht, ziemlich genau auf den Epigrammatiker Johannes Bobrowski zutrifft. Denn „ungedruckt“ blieb – zu Lebzeiten des Dichters – auch die überwiegende Mehrzahl der Bobrowskischen Epigramme. (Erst im letzten Lebensjahr hat Bobrowski den Plan einer Publikation ins Auge gefaßt – damals sind wohl auch Titel und Untertitel des nun vorliegenden Bandes festgelegt worden –; nicht aber waren bei seinem Tod die Vorbereitungsarbeiten schon abgeschlossen.) Zum anderen ging Bobrowski mit seinen „ganz neuen Xenien“ gar nicht etwa geheimnistuerisch um. Den (wenigen) „guten Freunden“ und (vielen) freundlichen Bekannten wurde jedenfalls mit einiger Regelmäßigkeit das jeweils Neueste vorgelesen; und da mochte es wohl auch der Fall gewesen sein, daß dann der eine oder andere von den Betroffenen „was munkeln“ gehört hat.
Indessen: Wo nicht B., sondern Johannes Bobrowski mit der eingangs gestellten Frage konfrontiert worden wäre, so hätte er gewiß nicht in gereimten Jamben geantwortet. Denn Bobrowski knüpfte in seiner Epigrammatik an einer Tradition an, der er im übrigen eher reserviert gegenüberstand: an Leistungen der Weimarer Klassik. Sowohl mit der Aufnahme des Xenien-Begriffs in den Untertitel der Sammlung als auch mit der durchgängigen Verwendung des Distichons wird dieser Traditionsbezug deutlich ausgewiesen – wie denn auch vom Thematischen her die Verbindung mit dem Xenienstreit Goethes und Schillers klar hervortritt. Die beiden Klassiker hatten sich – mit dem Blick auf Martial – in ihren „Xenien“ der strengen und anspruchsvollen Form des elegischen Distichons bedient und also in Anlehnung an bedeutende Zeugnisse der Antike eine Epigrammatik geschaffen, deren künstlerischer Rang maßgeblich dem Spannungsgegensatz entsprang, der sich aus der Verbindung von „hohen“ Form und satirisch-provokativ gerichtetem Inhalt ergab. Und eben dies mochte für den ebenso kunst- und formbewußten wie streitbar disponierten Bobrowski der Ansatzpunkt gewesen sein, von dem aus die Lust zur Epigrammatik geweckt beziehungsweise bestärkt und zugleich in eine festbestimmte formale Richtung gelenkt wurde. Jedenfalls trat in den letzten Lebensjahren die Neigung Bobrowskis zum Aphorismus in dem Maße in den Hintergrund, wie sich seine Aufmerksamkeit der (anfänglich nur sporadisch erprobten) Epigrammatik zuwandte. (Immerhin jedoch wurden die ersten Versuche mit dem Doppeldistichon bereits in den Jahren 1947/48 unternommen; und einige wenige der im vorliegenden Band vereinigten Epigramme gehen auf Gestaltungen jener Jahre zurück) Erst in der Xenie und mit der Beherrschung der Xenie konnte Bobrowski den ihm eigenen, im Aphorismus für ihn unrealisiert gebliebenen hohen Kunstanspruch einlösen. Tatsächlich erweist sich der Epigrammatiker Bobrowski als Meister im Umgang mit der schwierigen Form des Distichons; und ebenso, wie er sich im wesentlichen streng an die vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten hält, nutzt er sehr souverän die freien Möglichkeiten in der Taktgestaltung (Füllungsfreiheiten). Es zeigt sich aber nicht etwa lediglich ein beflissener Nachgestalter am Werk; denn Bobrowski schöpft keineswegs nur tradierte Möglichkeiten voll aus, sondern es gelingt ihm, die Xenie als eine ganz und gar frische, für ihn und sein Vorhaben authentische Form zu handhaben. Wesentlich hierfür ist eine Art Kontrapunktierung der hohen metrischen und rhythmischen Kunstfigur durch eine eigenwillige Sprache, die wiederum eine in sich sehr spannungsvolle Einheit darstellt – spannungsvoll, weil in ihr die Intellektualität einer humanistischen Gelehrsamkeit mit umgangssprachlichen Elementen und zum Teil auch mit einer ganz unvermittelten Rustikalität zusammengeschlossen wird. Daraus aber ergibt sich ein Kunstgebilde, dessen Reiz auf einer vielschichtigen ästhetischen Widersprüchlichkeit beruht – bestens geeignet somit, den zumeist Widerspruch formulierenden Kommentaren eine künstlerisch anspruchsvolle und adäquate Gestalt zu geben.
Gerichtet ist die überwiegende Mehrzahl dieser Kommentare auf das Literarische Klima. In den meisten von ihnen macht Bobrowski seine Stimme im literarischen Meinungsstreit geltend, und er nimmt Stellung zu kulturpolitischen Vorgängen. Hinter diesen Stücken steht ein Autor, der sich im Verlaufe der fünfziger Jahre seiner Eigenart und seines Kunstwollens höchst bewußt geworden ist und der an seine Arbeiten äußerst strenge Maßstäbe anlegte. Dabei vollzog sich die Ausbildung seines Künstlertums auf eine sehr eigenständige Weise: Zeittypischen literarischen Entwicklungen stand er ziemlich fremd, ja zum Teil ausgesprochen ablehnend gegenüber; weltanschaulich, ästhetisch und poetologisch bekannte er sich zu Traditionen, denen in jenen Jahren – nicht nur in der DDR – allgemein wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Ein bezeichnendes Bild vermittelt hier die Gruppe der Doppeldistichen, in denen sich Bobrowski mit dem Erbe auseinandersetzt. Als das aufschlußreichste dieser Epigramme gibt sich „Epilog auf Hamann“ zu erkennen – hervortretend bereits dadurch, daß in ihm mit den strengen Regeln der Form freier umgegangen und die festgefügte metrische und rhythmische Gesetzlichkeit des Pentameters kühn aufgesprengt wird: Nicht mehr vermag sie jene höchste Intensität der Rede zu fassen, die hier sich kundgibt. Das Ich dieses Epigramms, das die bitteren Worte Hamanns aufnimmt und – eingedenk eigener Erfahrung – mit gesteigertem Nachdruck ausspricht, artikuliert hier die Problematik einer in Schuld verstrickten Existenz, gebunden an eine Welt, „wo man nichts nichts nichts gedenkt“.
Aus einer solchen, sich auf Hamann beziehenden Blickrichtung leitete Bobrowski das (weltanschaulich-moralische) Konzept für seine poetischen Bemühungen überhaupt ab; und wenngleich es in voller Bewußtheit wohl erst den Dichtungen der sechziger Jahre zugrunde gelegt wurde, so hat sich doch schon in den Jahren zuvor bei Bobrowski eine Lyrik ausgebildet, die sich sehr unbedingt auf Erfahrung gründete und vor allem die Erfahrung tradierter und eigener Verschuldungen benennt. Aus diesen von christlich-moralischem Impetus getragenen, an die Klopstocksche und Hölderlinsche Odentradition anknüpfenden Versen trat so ein stark subjektiv gerichteter, dabei suggestiv mahnender Erinnerungsgestus hervor – eine Lyrik, die in den fünfziger Jahren jedenfalls fremd erscheinen mußte und zu der nicht leicht eine Beziehung zu finden war. Aus dieser Konstellation ergaben sich Folgen, zuallererst für Bobrowski selbst: Vornehmlich bestanden sie darin, daß sich für mehrere Jahre Publikationsschwierigkeiten auftaten und also Bobrowski sich zeitweilig als ein Isolierter, auch als ein Unverstandener empfand. (Aus seinem Hamann schrieb sich Bobrowski den folgenden Satz ab: „Man überwindet leicht das doppelte Herzeleid, von seinen Zeitverwandten nicht verstanden, und dafür gemishandelt zu werden, durch den Geschmack an den Kräften einer besseren Nachwelt.“)
Ein gewisser Durchbruch gelang schließlich, als im Jahre 1961 endlich der Band Sarmatische Zeit publiziert werden konnte (ihm folgte dann ziemlich rasch der zweite Lyrikband, Schattenland Ströme). Die Reaktionen indes blieben relativ bescheiden und im wesentlichen begrenzt auf Äußerungen und Rezensionen, die entweder in der christlich gebundenen Presse erschienen oder aber von Autoren stammten, die unmittelbar dem Bekanntenkreis Bobrowskis zugehörig waren. Um so bedeutsamer mußte folglich für Bobrowski jene Auszeichnung werden, die ihm im Herbst 1962 zuteil wurde: die Verleihung des Preises der Gruppe 47. Es war dies für Bobrowski gewiß ein Ereignis; und so wird es verständlich, daß die Gruppe 47 sowie eine Reihe ihr zugehöriger Autoren in der Epigrammatik eine so beträchtliche Rolle spielen. (Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, daß Bobrowski schließlich gebeten worden ist, eine Kollektion von Doppeldistichen für den Stockholmer Katalog zur Gruppentagung im Herbst 1964 zur Verfügung zu stellen; offenbar ist eine Reihe der entsprechenden Epigramme eigens dafür geschrieben worden.) Viele dieser Epigramme sind nicht zuletzt dadurch aufschlußreich, als sich in ihnen – unbeschadet der sehr differenziert angelegten Xenien zu einzelnen Autoren – sehr genau die zwiespältige Einstellung Bobrowskis der „Gruppe“ gegenüber spiegelt. Denn neben die Genugtuung über die stark öffentlichkeitswirksame Anerkennung durch die „Gruppe“ war bei Bobrowski sehr bald das beunruhigende Gefühl getreten, daß es bei der Zuerkennung des Preises nicht ganz mit rechten Dingen zugegangen sein könnte. Noch Monate später mußte ihm Klaus Wagenbach beteuern, daß er seine Stimme aus freien Stücken für ihn abgegeben habe. Der – durch die Art der westlichen journalistischen Berichterstattung genährte – Zweifel jedoch, daß die Preisverleihung politisch motiviert gewesen sein könnte, ist in Bobrowski wohl nie ganz verstummt; und jedenfalls mußte sie schon insofern zur Auseinandersetzung herausfordern, als hinter ihr das Konzept einer „gesamtdeutschen“ Literatur stand. Bobrowski hat sich in seiner Epigrammatik dieser Herausforderung gestellt; und unschwer läßt sich erkennen, daß es ihm hier nicht nur darum ging, zur Tätigkeit und Wirksamkeit der „Gruppe“ ein sehr kritisches Verhältnis zu artikulieren, sondern daß er dem westdeutschen Literaturbetrieb überhaupt mit klarer und unmißverständlicher Distanz begegnet.
Vor anderem Hintergrund sind jene Epigramme zu sehen, die auf Erscheinungen der Literatur der DDR gerichtet sind. Zu erinnern ist hier an die besondere kulturpolitische und literarische Situation Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre (Bitterfelder Weg) und speziell auch daran, daß einmal bestimmte, auf Lukács zurückgehende Elemente einer verengenden Realismus-Auffassung noch immer nachwirkten und daß sich zum anderen eine Hoch-Zeit in der Brecht-Nachfolge abzeichnete. Zudem wäre auf einige (historisch erklärbare) Erscheinungsformen eines literarischen Provinzialismus zu verweisen. In dieser Situation hatte es Bobrowski gewiß nicht leicht, seiner eher leise redenden Stimme Gehör zu verschaffen. Um so heftiger freilich brach angesichts einer solchen Lage der Protest im Epigrammatiker Bobrowski hervor: der (nicht immer differenzierende) Zorn über eine literarische Landschaft, in der sich ihm wesentliche Züge einer lauten und zugleich lähmenden Eintönigkeit auszuprägen schienen. So begegnet sich in dieser Gruppe von Epigrammen die Aversion gegen eine kampagnehafte Verbreitung von „Erfolgstiteln“ mit seiner ohnedies tief eingewurzelten Skepsis gegenüber literarischen Arbeiten, die scheinbar mühelos ein breites öffentliches Interesse auf sich zu ziehen vermögen. Es ist dies ein Mißtrauen, das deutlich auch mit Bobrowskis Abneigung gegenüber solchen Künstlern korrespondiert, bei denen er meint, Spuren einer irgendwie „affirmativen“ Haltung auffinden zu können. Bobrowski erschienen jegliche „repräsentative“ Dichterexistenzen, gleich ob es sich um Goethe, um Thomas Mann oder Johannes R. Becher handelt, als fragwürdig und jedenfalls verdächtig.
Indessen: Gerade die auf Erscheinungsformen der DDR-Literatur gerichteten provokativen Stücke beweisen, wie sehr sich Bobrowski eben hier, im Land, zu dem er sich bekannte, in dem er lebte und schrieb, eine literarische Landschaft herbeiwünschte, in der er sich fest verwurzelt fühlen konnte. Denn obschon er sich – gleichsam trotzig – zu einer Art von literarischem Außenseiterstatus bekannte und ein solches Bekenntnis auch wesentlich mit der Spezifik seines Traditionsverständnisses korrespondierte, so wurde er im Grunde seines Wesens eben doch von der Wunschvorstellung einer Künstlerexistenz beherrscht, die nicht auf Isolation, sondern auf Kommunikation beruhte. Als schließlich Bobrowski – angeregt durch die beträchtliche Aufmerksamkeit, die sein Roman Levins Mühle hervorrief – die Möglichkeit einer solchen Künstlerexistenz und damit auch Anzeichen eines nicht gar so unfreundlichen „literarischen Klimas“ für sich zu entdecken beginnen konnte, war bereits sein letztes Lebensjahr angebrochen. Die wenigen Monate bis zum plötzlichen Tod Bobrowskis stellten eine allzu kurze Zeitspanne dar, als daß sich diese neue Erfahrung tiefergehend hätte befestigen und sich also in der Epigrammatik schon irgendwie hätte niederschlagen können.
So wird man Bobrowskis Epigramme nicht zuletzt auch als Zeugnisse künstlerischer Selbstverständigung zu begreifen haben. Aus ihnen tritt ein Autor hervor, der sich unablässig mit literarischen Erscheinungen, Traditionen und Positionen in Beziehung gesetzt und im wachen Verfolg des literarischen Prozesses insgesamt sowie in der Auseinandersetzung mit ihm seine künstlerische Individualität ausgebildet, überprüft und geltend gemacht hat. Zudem dürfte Bobrowskis epigrammatisch vorgetragene Polemik – auch dort noch, wo man zu Widerspruch neigen mag – dazu angetan sein, ein genaueres und kritischeres Verständnis literarhistorischer Erscheinungen und Entwicklungen befördern zu helfen (wobei sich im übrigen sehr leicht herausstellt, daß sich viele der Stücke keinesfalls in der Tagespolemik erschöpfen).
So sehr es freilich notwendig erscheint, dergestalt auf Ernsthaftigkeit und Produktivität der Epigrammatik Bobrowskis hinzuweisen, so fragwürdig wäre es, wollte man nichts anderes als „tiefere Hintergründe“ und „nützliche Denkanstöße“ aufzufinden suchen. Zu kurz käme, daß Johannes Bobrowski mit sichtlichem Vergnügen am epigrammatischen Werk war und daß er die Xenien als ein Arbeitsfeld begriff, wo sich die in seiner Lyrik nicht abzugeltende Lust am Spaß auf maßlos-maßvolle Weise entfalten konnte.
Der plötzliche Einfall, die kuriose Idee, die Freude an einer frechen Pointe, am Wortwitz, am Spiel mit der Sprache – im disziplinlos-disziplinierenden Epigramm bot sich für alles Raum. Es gibt kaum ein Register, das in der Sammlung nicht gezogen würde. Entwaffnender Humor wechselt mit derbem oder feinem Spott; bitterem Sarkasmus folgt schwereloser Esprit; gutmütig-freundlicher Stichelei steht ätzend-vernichtende Ironie gegenüber. Dementsprechend finden sich denn auch ganz und gar hintersinnige Epigramme neben solchen, bei denen Scherz, Satire, Ironie der tieferen Bedeutung entbehren (sosehr sie auch mitunter angetan erscheinen, den Leser zu Nachforschungen zu animieren). Insofern treibt Bobrowski in seinen Xenien zuweilen ein Spiel auch mit seiner „heimlichen Neigung zum Hermetismus“.
Es fällt schwer, sich von alledem nicht anstecken zu lassen.
Und am Ende könnte man sich gar versucht fühlen, einen Menschen wie etwa Scheerbart ein Weilchen noch warten zu lassen auf sein Bier. Jedenfalls könnte man ihn einfach für eine halbe Minute zur Seite setzen.
Und sagen könnte man:
Besten Dank, Herr Verleger, nun ist also, der ein Gerücht war,
einhundert Seiten lang da, vorn nicht und nirgends erklärt.
Seht ihr, er sitzt da und grient. – Ihr habt etwas andres erwartet?
Hört einfach zu und zensiert selbst euch den Spaß nicht, – das war’s,
Bernd Leistner, Nachwort, Mai 1976
– Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung. –
Bobrowskis einundachtzig Doppeldistichen sind in zwei Textzusammenstellungen erhalten, an denen er offenbar in den letzten beiden Lebensjahren abwechselnd gearbeitet hat. Die eine besteht aus sorgfältigen Handschriften auf den Blättern eines kleinen schwarzen Soennecken-Ringbuchs (künftig H), die andere überwiegend aus Typoskripten auf Blättern eines dunkelblauen DIN A5-Ordners (künftig T); beide sind querformatig geschrieben.
T enthält zehn Doppeldistichen, die in H nicht enthalten sind, davon neun als Handschriften, dazu das handschriftliche Titelblatt „Literarisches Klima / Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung“. H ohne Titelblatt hat drei Doppeldistichen, die in T fehlen.
Auf Drängen des Union Verlages folgte der Abdruck der Edition des Verlages von 1977, die von T ausging und von Gerhard Rostin besorgt wurde. T läßt nicht durchweg eine so sinnvolle Textanordnung wie H erkennen; außerdem besitzen drei Texte in T handschriftliche Korrekturen, die in H schon als Reinschrift erscheinen und damit diese als die spätere Fassung ausweisen („Inquisition“, „Weitgereist“, „Weitere Aussichten“). Das entspricht der mündlichen Überlieferung, daß Bobrowski das kleine handschriftliche Ringbuch im Jackentaschenformat zum Vorlesen gern bei sich trug und offenbar als eigentlich verbindlich betrachtete.
Die Typoskriptzusammenstellung geschah vermutlich mit Blick auf eine spätere Veröffentlichung. Wann die neun handschriftlichen Doppeldistichen und das Titelblatt eingelegt wurden und warum sie in H fehlen, läßt sich nicht mehr klären. Eine deutliche Komposition besitzt weder H noch T.
Die fünf ältesten Doppeldistichen sind bereits im Sommer 1947 in der sowjetischen Gefangenschaft entstanden und 1950 aus dem Gedächtnis niedergeschrieben worden, als Bobrowski die Gesamtmasse der Gedichte jener Jahre rekonstruierte. Schon 1942/43 waren siebenundzwanzig Epigramme entstanden, von denen aber keines in die Sammlung von 1964/65 Aufnahme fand. Von den eigentlich literarischen Doppeldistichen sind die ersten frühestens 1962, wahrscheinlich erst 1963 entstanden (vgl. z.B. „Scheerbarts Dichterische Hauptwerke“); die meisten gelten Büchern, die erst 1963 oder 1964 erschienen und kaum immer sofort in Bobrowskis Hände kamen (manche besaß er offenbar selbst nie). Als der Schriftsteller Hubert Fichte im Winter 1963/64 Bobrowski häufig besuchte, bat er ihn um (weitere) satirische Distichen auf Mitglieder der Gruppe 47, von denen dann siebzehn im Stockholmer Katalog zur Tagung der Gruppe 47 im Herbst 1964 (hg. von der Schwedisch-Deutschen Gesellschaft und dem deutschen Kulturinstitut Stockholm. Zusammengestellt von Hubert Fichte). veröffentlicht wurden. In einem undatierten Brief schrieb Fichte:
Wir haben alle sehr über Deine Disticha gelacht. Vielleicht fallen Dir ja noch ein paar böse, gewürzte ein. Es gibt ja noch Lettau, Johnson, Kaiser, Meyer, Kramer, Reich Ranicki
worauf Bobrowski am 8.4.64 antwortete:
Zu den genannten Epigramm-Anwärtern Johnson, Mayer, Reich-R. kann ich von hier kaum was sagen; hier ist noch eins über Enzensberger.
Im offenbar nächsten undatierten Brief schrieb Fichte:
Ich habe inzwischen auch Jens gesprochen. Er meint Du solltest über ihn ruhig giftig aber konzise ein Verslein machen. Ich wünschte Dir fiele noch etwas mildes zu Meyer ein – auch Johnson wäre fein.
Auf einer Lesung im Westberliner Studentendorf Siegmundshof am 13. November 1964 las Bobrowski etliche der Distichen vor. Vermutlich im Zusammenhang mit diesen Epigrammen entstanden als Gegenstücke die Epigramme auf Schriftsteller in der DDR. 1965 vereinbarte Bobrowski mündlich mit dem Verlag Klaus Wagenbach eine teilweise Drucklegung der Doppeldistichen (mit ironisch-gelehrtem Kommentar von K. Wagenbach und Zeichnungen von Günter Grass), die nicht mehr realisiert wurde (im Mai 1964 war an den Graphiker Paul Flora gedacht). Einzelne Distichen oder kleine Gruppen gelangten von 1965 bis 1971 mehrfach zum Druck. Nach vielerlei – politisch bedingten – Schwierigkeiten kam die Gesamtedition erst 1977 zustande: Johannes Bobrowski, Literarisches Klima. Ganz neue Xenien, doppelte Ausführung. Union Verlag Berlin (1977) (Mit einem Nachwort von Bernd Leistner und Illustrationen von Klaus Ensikat. Diese Ausgabe folgt in Orthographie und Interpunktion dem Manuskript im Nachlaß des Dichters. Den Textvergleich sowie die Anordnung der Epigramme besorgte Gerhard Rostin.). Nicht aufgenommen und verschwiegen wurden die Doppeldistichen „Pasternak“ und „Praeceptor mundi“.
(…)
Eberhard Haufe, aus Johannes Bobrowski: Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlass, Gesammelte Werke Band 5, Deutsche Verlags-Anstalt, 1998
Leichtfertig sagte ich zu, einen Vortrag zu halten, und zwar die
Xenien, dachte ich mir, sollten der Gegenstand sein.
Über Bobrowski, so dachte ich weiter, ward viel schon geschrieben;
aber die Xenien hat stets man am Rand nur erwähnt.
Also ein Desiderat!, und munter begann ich zu sammeln,
was sich fürs Referat irgend als brauchbar empfahl.
Aber mir wurde, indem ich dies tat, bald mulmig zumute.
Ob wohl, so fragte ich mich, professoraler Sermon
wirklich das Rechte denn sei für Bobrowskis xenialische Späße?;
manchmal hatte ich gar leis sein Gelächter im Ohr.
Und es gab, dies Gelächter, mir deutlich genug zu verstehen,
daß ihm, was ich da trieb, blähsüchtig-komisch erschien.
Untrüglich hörte ich aus dem Gelächter, das mich verfolgte,
just den Xeniasten heraus, den als Objekt ich erwählt,
hörte den Spott, mit dem er so viele der Geister bedachte,
die, versiert und gewandt, kritische Urteile fäll’n.
„An Arno Schmidt“ ist ja eines der kräftigen Sprüchlein gerichtet;
der hatte Hiebe, und wie!, nach vielen Seiten verteilt,
doch hat er Literaturprofessoren beim Prügeln bevorzugt:
alle zusammen – und hoch lobte ihn nun der Xeniast:
„Schimpf noch gewaltiger immer, und schmäh, wen du schmähen willst, stets noch
trafst du den Richtigen, den wir allzu lange geschont;
völlig grundlos natürlich, jetzt sehn wir es selber, und recht hast
du nur: der Schimpfer. Ab heut schimpfen wir alle, wie du.“
Als das Gelächter indes diese Xenie mir wachrief, da sank zwar
erst mir der Mut nur noch mehr, aber sodann sprach ich: Halt!
Jedenfalls sah ich ihn nun, den Dichter des Spruchs, in der Klemme.
Schmidt? Der hatte doch auch Klopstocks Gedichte beschimpft!
Na, so dachte ich laut, das ist eine schöne Bescherung:
Klopstock – kein „Zuchtmeister“ mehr, nichts mehr von Vaterfigur?
Tückisch von hinten her nun dieser Dolchstoß? Und überhaupt: der
Mayer-Spruch etwa! Ich hielt eifernd auch den ihm gleich vor:
„Schönste Grüße von – allen! Ich, der aus der Zeit bourgeoiser
Revolutionen kommt, ich – Mayer – ich rede auch so.
Jeden belehre ich, ganze Länder und Städte und Dörfer, –
hat mich erst jeder gehört, geh ich in Rowohlts Verlag.“
Mayer, soeben verjagt und Zuflucht findend im Westen –
war’s wohl geziemend und fair, ihm diesen Hieb anzutun?
Ach, nun einmal in Fahrt, so fragte ich gleich auch noch weiter.
Hat denn der alte Hans Franck wirklich solch Rempeln verdient?:
„Auf denn, ans Welk! Wer ist dran, Freund Goethe? Nein, war schon. Dann eben
weiter im Alphabet, Wurstteig und Darme sind stets
fertig, die Kundschaft erwartet ja meine berühmt ungewürzte
Brühwurst für Zahnlose, seht: jede ist schön wie ich selbst!“
Weit über Achtzig war er, der Mann, und immer noch schrieb er,
schöngeistig harmloser Seim floß aus der Feder ihm raus;
und, keine Frage, als Lektor dem Manne dienen zu müssen,
lustvoll war’s nicht, das Geschäft, Spaß hat’s fürwahr nicht gemacht.
Aber den zahnlosen schreibenden Greis, der,
gewiß doch, den alten zahnlosen Damen gefiel,
so zu verhöhnen, das war
übel gespaßt; denn einen so hoch Bejahrten, den läßt man
schlechterdings milde in Ruh, wenn er auch immer noch schreibt.
Freilich, ich kam nicht recht an, es blieb das leise Gelächter;
daß ich ein Kleinkrittler sei, gab es mir dreist zu verstehn,
Dabei, es hörte und hörte nicht auf, beschlich der Verdacht mich,
hinweisen wolle es mich auch auf ein Schiller-Bonmot,
also auf jene Stelle im Brief vom August sechsundneunzig,
wo Schiller wieder einmal sich mit dem Xenienproblem
grübelnd herumschlug und gegenüber dem Weimarer Schreibfreund
schließlich die Meinung vertrat, jedweder einzelne Spruch
werde entschuldigt durchs Ganze; es sei der Humor dieses Ganzen,
der jedes einzelne Stück heiter entgifte und so
neutralisiere. Just Schiller nun also. Bei dem ich indessen
ziemlich im Zweifel bin, ob, was er schrieb, denn so stimmt.
Und im übrigen: Vorher, bis diese „Ganz neuen Xenien“
kamen, galt Schiller nichts, nichts, wie auch Goethe nichts galt.
Immer die grollende Klassikerskepsis, die Unlust an ihnen,
nun dagegen der Drang, ihnen der Nachfahr zu sein.
Unverkennbar ein Widerspruch: Ausgerechnet die beiden,
brummte ich laut vor mich hin, plötzlich zum Vorbild erwählt!
Wieder jedoch war all mein Räsonnement ganz vergebens,
dieses Gelächter, es blieb fortwährend unirritiert,
Und ich vermeinte, ihm neuerlich Spott entnehmen zu können,
Spott, der mich heiter beschied, daß ich Dogmatiker sei.
Außerdem, so das Signal: Ich solle doch dies mit bedenken,
daß das xenialische Tun einst schon Pennälerlust war.
Nun, ich nahm dies zur Kenntnis – und sicher, das waren noch Zeiten,
als man im deutschen Pennal Distichen fröhlich geübt.
Klassische Bildung: Im alten Gymnasium gab’s die doch mal, und
Schüler wandten sie an, machten sich mancherlei Spaß,
das, was sie lernten, herunterzuholen vom hohen Podeste,
zogen xenialisch auch oft über die Lehrerschaft her.
Wär’s folglich so, daß am Anfang die alte Schülerlust wirkte?
War es der Spaßkeim von einst, aus dem das Spätere wuchs?
Und der dies Spätere schrieb, er hätte von Goethe, von Schiller
demnach gar nicht direkt sich die Idee hergeholt?
Ach, als Antwort erhielt ich nur wieder das leise Gelächter.
Ob aber Täuschung, ob nicht: Halbwegs nach Zustimmung klang’s.
Drüber hinaus, so schien mir’s, schwang heitere Kopfschüttelei mit.
Denen ihr’s – und das von ihm: Endlich doch sollt ich einmal
Bündel mit Bündel vergleichen. Da könnt’ ich vielleicht was bemerken,
was einem Blick sich verbirgt, der nur aufs einzelne stiert.
Gut denn, die Bündel. Ich legte sie nebeneinander und sah’s mir,
dieses mit jenem Paket also vergleichend, nun an.
Hätte ich’s aber, beim Zeus, nicht eher schon aufspüren können?
Hält der Unterschied doch gar nicht sich etwa versteckt.
„Kriegserklärung gegen die Halbheit“: So steht’s im Brief, den
Goethe, ziemlich ergrimmt, Schillern nach Jena einst schrieb.
Fünf Wochen später dann kam ihm die Xenienidee; und die Spruchform,
gleich wurde sie rekrutiert, wurde bestimmt für den Krieg.
Und von „Pfählen ins Fleisch“ der „Kollegen“ sprach dann auch Schiller;
seinerseits ging er mit Grimm, Hiebkraft und Jagdlust ans Werk.
„Guerre ouverte“ hieß eine der klassischen Xenien, der Einzel-
Titel könnte durchaus über dem Ganzen auch stehn.
Und mit jenem Humor, den Schiller schließlich hervorhob,
damit verhielt sich’s gewiß einigermaßen prekär.
Nun, und wie friedlich dagegen das Gros der neueren Sprüche;
brennt’s auch bei einem mal durch, bleibt der ein Einzelgeschoß.
Spitzen werden verteilt, na sicher, und wie es läuft am
literarischen Markt; spottkräftig wird’s kommentiert.
Aber grimmige Pfahltreiberei ins Fleisch der Kollegen,
mächtige Züchtigungswut, derlei, fürwahr, gibt es nicht.
Und also auch keine Lieblingsfeinde, wie Nicolai oder
Reichardt es seinerzeit war’n; keiner kriegt Senge en masse.
Dafür öfters ein Loblied mit mancherlei Rühmung, und Vauo
Stomps, der Drucker, bekommt auch eins – verbunden mit Dank:
„Edelste Kunst des Druckers: die richtigen Fehler zu setzen –
niemand meistert sie so, Lieber, Verehrter, wie Du.
Liegender weiblicher Abt und Straßenverkehrer und andres
Schönes, – was hätten wir wohl, hätten wir das nicht – und Dich!“
Da freilich ist es auch schwer, vom Gelächter unangesteckt zu
bleiben, und – nun gab ich’s auf, weiter den Klügler zu spieln,
gab es erst recht auf, als ich, grindlich durchheitert, die Sprüche
wiederlas alle, die, Kernstück des ganzen Pakets,
sich den Siebenundvierzigern widmen, denen, die Richters
Gruppe waren und doch, wie man’s nun hört, grade nicht:
„Eine Gruppe ist eine Gruppe ist zwar eine Gruppe,
diese ist keine, es sind Leute, die kennen sich, denn
keine Gruppe ist keine Gruppe ist gar keine Gruppe –
Hans Werner Richter erklärts deutlich und klar: wie’s hier steht.“
„Definition“ heißt der Spruch, und von Toni handelt der nächste;
sie, so weiß man es nun, sie war der Nichtgruppenboß:
„Ist er der Präsident, so ist sie die Kaiserin nämlich;
ob konstitutionell, das ist noch gar nicht so klar
in dieser Monarchie, wo der Chef selber äußert, bekanntlich:
Demokratie, sowas gibts hier nicht, bis jetzt nicht, und Schluß!“
Freilich, dies gibt’s dann auch zu vernehmen, daß auf der offnen
Bühne DIE Majestät eine ganz andere war:
„Einige kommen vom Wasser, und die aus der Luft, und die leben
sonst in Wäldern – das ist alles für Tage nun hier,
redend in ihren Sprachen und schweigend mit einmal: es nahte
kinderäugig des Fests Herrin, Undine erschien.“
Und wie die Huldigung, die der umschwärmten Bachmann zuteil ward,
kaum noch an Grenzen sich hielt, dies sagt ein weiterer Spruch:
„Eben nahm die Bewunderte Platz, – nun seht, wie die dünnen
und erst die dickeren Herrn kreisend umziehn ihr Idol,
gleich den Planeten, nur flüsternd, und wie zu Musik aus den Sphären
– –
Alles, sagt Aichinger still, alles fast führt schon zu weit.“
Nun aber, da ich angelangt war bei der Aichinger-Zeile,
wußt’ ich zugleich: Den Spruch krieg ich gewiß nicht mehr los.
Was für’n heiter-prägnantes Gemälde: dies Gruppenbild mit den
Damen, den beiden, und dem sich der beleibte Xeniast
selber mit eingemalt hat; das Ohr an der Aichinger, kurvt er,
einer der Dicken, ja mit. So ein Vierzeilentableau
schlägt alles Sinnen und Trachten und Reden glatt in den Wind, und
gar keine Frage nun mehr: Nein, ich halt’ kein Referat!
Bernd Leistner, aus: Dietmar Albrecht, Andreas Degen, Helmut Peitsch, Klaus Völker (Hrsg.): Unverschmerzt. Johannes Bobrowski – Leben und Werk, Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, 2004
Jerry Glenn: Johannes Bobrowski: Literarisches Klima
GDR Bulletin, 1979
Gerhard Schmolze: Bobrowskis nachgelassene Xenien
Süddeutsche Zeitung, 13. 9. 1977
Richard Wernshauser: Johannes Bobrowski: „Literarisches Klima“
Neue Deutsche Hefte, Heft 159, 1978
Man sagt das so leicht – und fordert’s vom Dichter: den eigenen Ton, die eigene Stimme gar. Aber wie wenige erreichen das und so, dass es andere merken! Johannes Bobrowski hat das schließlich, nach vielen Mappen voller sorgfältig und schön geschriebener Gedichte, erreicht, das hat Eberhard Haufes Ausgabe der Gesammelten Werke und zumal der Band mit den unveröffentlichten Gedichten gezeigt. Mit der „Pruzzischen Elegie“ von 1952 (damals war Bobrowski ein Mittdreißiger) ist Bobrowski, sein Thema prägnanter, gültiger fassend, der eigene Ton und mit ihm die Form zum ersten Mal und dann immer öfter und imponierender gelungen, so dass er in den sechziger Jahren, einmal wahrgenommen, zu den prägenden deutschen Dichtern wurde, jemand, den man sofort, und gerade, mit einem gewissen Schauer, als deutschen, unter den vielen anderen ausmachen konnte, vom ersten Ton an, mit dem Klang dieser Stimme, die man da vom Blatt las.
Viele Dichternamen tauchen in seinen Gedichten auf; nicht wenige hat er angedichtet, Dylan Thomas zum Beispiel, den trinkfreudigen und schwermütigen Waliser, oder, unter den Prosaschriftstellern, den ebenso schwermütigen Pathetiker des Meeres und der Flaute Joseph Conrad, den Engländer aus Polen. Aber eigentlich war seine dichterische Herkunft klassisch deutsch. „An Klopstock“ eröffnete 1962 die Lesung vor der Gruppe 47, die ihm den Ruhm brachte:
Wenn ich das Wirkliche nicht
wollte, dieses: ich sag
Strom und Wald,
ich hab in die Sinne aber
gebunden die Finsternis,
Stimme des eilenden Vogels, den Pfeilstoß
Licht um den Abhang
und die tönenden Wasser –
wie wollt ich
sagen deinen Namen,
wenn mich ein kleiner Ruhm
fände – ich hab
aufgehoben, dran ich vorüberging,
Schattenfabel von den Verschuldungen
und der Sühnung:
so als den Taten
trau ich – du führtest sie – trau ich
der Vergeßlichen Sprache,
sag ich hinab in die Winter
ungeflügelt, aus Röhricht
ihr Wort.
Dies Selbsturteil, seine Form, der damit aufgenommene hohe Ton Klopstocks und Hölderlins, mit seinen beschwerten Anfängen, dem Oden-Anfangston, die den Spannungsbogen des Satzes, die wichtig nehmende Sammlung ankündigt, seine Führung durch Atemwenden und Sprachreflexion zum großen Zusammenklang – das faszinierte die an die Moderne und ihre Erfindungen und Methoden verlorene Diskussion, und auch, weil hier die Dichter-Legende wieder ganz andere und irgendwie altvertraute, deutsch-eigentümliche und anrührende, aufs Neue viel versprechende Nahrung erhielt, ohne das frisch erworbene Stigma der deutschen Geschichte, ihre unzählbare Schuld und schwer nennbare Verantwortung, zu versäumen. Bobrowski, der erklärte Christ und Kommunist, der auf dem Königsberger humanistischen Gymnasium Gebildete, der nach zehn Jahren Krieg und russischer Gefangenschaft, aber eben nicht in seine verlorene nähere Heimat, Zurückgekehrte, Mitglied im Kirchenchor und der CDU in der DDR, Lektor (lange für Kinder- und Jugendbücher) und Familienvater (mit vier Kindern, Tieren und Hausmusik), dessen Seele das Clavichord, die Ottomane, die Ikonen, diese „kleinen Fenster in die Ewigkeit“, die Freunde zum Klaren im Arbeitszimmer brauchte, dessen knapp zwei umfänglichen Zentner die besonderen Cordhosen und dessen traurige Nilpferdaugen Landschaft und Menschen brauchten, der Metrum und Notenschrift lesen und schreiben konnte – dieser Bobrowski war Inbild und Inbegriff des musikalischen Deutschen, wie es ihn lange und wie für die Ewigkeit gegeben hatte; und dieser Bobrowski sagte auch noch, dass er seine Deutschen liebe.
Es ist seine historische Leistung, dass er die Deutschen und ihr Liebenswertes wie selbstverständlich der furchtbaren Bestimmung durch das Nationalsozialistische entzog und ihnen zu ihrer östlichen Heimat die wirkliche Geschichte dichtete, in der sie unter dem neuen alten Land-Namen Sarmatien mit Litauern, Polen, Juden, Letten und all den andern Völkerschaften zusammenleben und bescheidener Gestalt werden, so, dass man nun die Anderen, und gerade die Ermordeten, wahrnehmen und in der sie alle fassenden Landschaft lieben und um sie trauern kann.
Ein großes Vorhaben; und was davon ausgeführt wurde, wird wohl, jedenfalls für die deutsche Literaturgeschichte, unvergänglich sein. Das Pathos, das von daher kommt, liest man in den Gedichten mit. Und so ist man ein wenig erstaunt, wenn man Tonaufnahmen von Bobrowskis Lesungen hört, wie wenig Vollton er laut werden lässt, wie artikuliert, wie herabgestimmt, ja fast geschäftsmäßig, wie professionell kühl sie sich anhören. (So dass mir vorkam: Die Prosa gewinnt, die Verse verlieren durch seinen Vortrag.) Das Zutrauen zur Sprache (wie zur Geschichte) der Deutschen, der, wenn man so will, menschliche Gegenentwurf zum Verstummen und Schweigen, wie Adorno und Beckett und Celan und viele westliche Autoren als ultima ratio nach dem Geschichtsbruch nahe legten: Die Tradition der Verletzlichkeit also will nicht harmlos klingen, sondern fest im formal Gekonnten, aus der Tradition Geerbten und Geprüften der Dichtung und am Sinn der Geschichte: an der menschlichen Anwesenheit auf dieser Erde festhalten – und sie weiter dichten…
Kurz, hier wirkt geschichts- und selbstbewusstes, authentisches Urteil. Und so ist es nicht verwunderlich, dass dies Urteil sich umsah und dafür eine anspruchsvolle Form suchte. Merkwürdigerweise freilich im, die Konkurrenz aufnehmenden, Anschluss an den sonst eher reserviert betrachteten Goethe und dessen und Schillers Xenien (auch dies schon mit längerem Anlauf seit den vierziger Jahren), in einer (spöttischen, parodierenden) Steigerung als Xenien in „doppelter Ausführung“, listig als „Ganz neue“ apostrophiert (und so mit dem Neuen gleich auch das Moderne ein wenig abfertigend), kommen diese Urteilssprüche daher. Epigramme für Zeitgenossen (doch wie fürs Geschichtsbuch), die Spannung zwischen der hergebrachten hohen Form und ihren vielen recht nichtigen Anlässen heute ausspielend. Genauere Regeln seines Epigrammatischen, wie etwa gemäß Lessings „Zerstreuten Anmerkungen über das Epigramm“ die pointierte Spannung von Erwartung und Aufschluss, die sich aus der Doppelung gesteigert ergeben könnten, habe ich selten ausgemacht. Bobrowski hat seine Xenien gelegentlich, in Distanz und in Reaktion auf das offizielle und öffentliche literarische Leben, geschrieben und trug sie manchmal Freunden oder in feuchtfroher Runde vor, so dass sie als beflügeltes Ondit in die Welt kamen und dort durchaus wirkten. Man lud ihn ein, aus seinem Privatvergnügen ein allgemeines zu machen und solche Distichen 1964 zur Stockholmer Tagung der Gruppe 47 zu verfassen, heißt es.
Und so haben wir 81 Doppelxenien Bobrowskis zum „Literarischen Klima“, die nach seinem frühen Tod (1965) Gerhard Rostin, dem Manuskript im Nachlass folgend, angeordnet und, versehen mit einem instruktiven Nachwort Bernd Leistners, in Ost und West herausgegeben hat. Die Hexameter zu 15 bis 17, die Pentameter zu 13 oder 14 Silben, und alle Hebungen recht treu gesetzt.
In der schlanken pointierten Form der Gattung sind Tendenz und Nostalgie, Mut und Übermut leicht mitgeschrieben, auch wenn der Text einmal nicht darauflos wollte; und der Grabspruch, das signalisiert schon die Doppelung, ist nicht scheu, ja oft genug genussvoll. Auf parteiliche Richtsprüche also kann der Leser, je nach Temperament, gefasst sein oder sich freuen. Dafür gibt es zwei Orientierungen: das geistige Erbe des 18. Jahrhunderts aus Königsberg: Kant, Hamann, Herder und was damals dort etwas galt: Klopstock, Lessing: die vorklassische oder anders klassische Tradition also (Goethe wird ja eben durch die ganz neuen Xenien gleichsam, spaßeshalber sozusagen, ein wenig beiseite gedrängt).
EPILOG AUF HAMANN
Taumeln hat mich gemacht der Geruch meiner eignen Verwesung,
ohnmächtig für eine Zeit, dem Esrahiten hab ich
nachgegirrt von der Schwachheit der Elenden, ich hab gelebt im
Land, das ich nenne nicht: dort wo man nichts nichts nichts gedenkt.
Und zum andern die (eher West-)Berliner Bohème, das Milieu, das der offiziell gewürdigten Hochliteratur die Stirn bietet, wovon der erste und gleichsam überhundertprozentige Repräsentant Günter Bruno Fuchs ist.
GÜNTER BRUNO FUCHS
Dies ist der Dichter der Dichter, der Künstler der Künstler, der
Freund der Freunde, der Leichteste der Leichten, der Schwerste der Schwer’n – –
Ach, wer versteht das denn schon. Artisten stehn eben nun einmal
einer dem andern und sich selber genau auf dem Kopf.
Zwei Orientierungen, die sich durchaus gegenseitig irritieren könnten, aber in Bobrowskis Umarmung eine Weile zusammen weiterkommen, angesichts der öffentlichen Gewichtungen dessen, was gegenwärtig Literatur sein soll.
NEUE TALENTE
Nett und friedlich die Straßen, hier kann nichts passieren; verfehlst du
einmal den Weiß-Boulevard, kommt gleich die Lettau-Allee.
Stets gelangst du zum Park mit dem Landmesser-Denkmal und mit dem
Josef K.-Monument. Ruhbänke gibts jetzt dort auch.
Das öffentlich Geförderte und Geforderte gerät unter Verdacht und Beschuss. Kein Wunder vielleicht bei einem Autor, der so lange im Verborgenen schrieb und, auf andere Weise als Lektor Erfahrungen sammelnd, im kulturpolitischen Auftrag der DDR arbeitete: Die Attitüden der Autoren-Helden des sozialsozialistischen Realismus auf dem Bitterfelder Weg waren ihm allzu bekannt.
KOSTÜMFEST
Unseren Gottfried Keller – nämlich Marchwitza – und unsern
Thomas Mann – nämlich Schulz – haben wir, haben sogar
unseren Ganghofer – nämlich Herbert Nachbar –, es fehlt uns
nichts, nichtmal Goethe: als der ruft Walter Victor sich aus.
Wie sehr und wie ernsthaft Bobrowski sich mit poetologischen Vorgaben auseinandersetzte, kann man vielleicht seiner Prosa besser ablesen als diesen streitbaren Richtsprüchen: Die mit einfachen Grundformen des Erzählens experimentierende chronikale Gebärde, die fast im Subtext verschwindenden Pointen streben auf einen musikalischen Text zu, der sich und seine Gattung neu und eigen gründen will. Durchaus gibt es da Nachbarschaften zu Lettau und anderen Neulingen der Gruppe 47, wie es später Nachbarschaften Peter Bichsels zu Bobrowski gibt. (Die westliche Nachbarstrecke führte die Avantgarde zum „Tod der Literatur“, die östliche zum „Nachdenken über Christa T.“, zugespitzt.)
In dem Moment, wo er nicht nur Ton und Stimme finden will, sondern auch seine Helden, gleichsam seine bevorzugte figürliche Konkretion (wen soll ich mir in dieser Situation vorstellen, mit wem geht es weiter?), bemerkt man, wie schwach die Stelle des Ich in Bobrowskis Werken besetzt ist (vielleicht: noch besetzt ist; denn er ist sehr früh gestorben). Der Autor bleibt Teil der Tradition. Der Mensch bleibt Teil der Umgebung, der Landschaft und in ihr und mit ihr immer auch teilweise verborgen und tritt nicht eigens vor. Darin liegt ein vermiedenes Wagnis, wie einige Xenien zu Autoren der Gruppe 47 spüren lassen und besonders jenes zu Max Frisch, der darauf frontal mit der so genannten Identitätsproblematik zuschreibt.
NAMENSWECHSEL
Also sein Name sei Gantenbein, will er und will sich drapieren
mit einem Bettlertrick: blind bringt ja mehr Groschen als lahm.
Keiner dann tritt ihm zu nah, nur er selber greift um so geriebner
andern ins Kleidchen… Herr Frisch, nein, forthin heißen Sie Frosch.
Sei kein Frosch! heißt das; und: Übertreib auch nicht deine Bücher-Existenz, ein zwei Bücherschränke genügen! wohl das andere zu Canetti:
CANETTIS BLENDUNG
Alle Wände hinauf, zu Hunderten, Tausenden: Bücher,
Bücher und Bücher, es wird regelmäßig entstaubt.
Und was da sonst noch vorging, im Buche stehts gleichfalls zu Buche –
Was für ein Buch ist ein Buch mit soviel Büchern darin!
Nun sind Warnungen vor zu viel Empfindsamkeit (Larmoyanz!) und Intellektualität Topoi zumal trinkfreudiger Autoren, also hervorgelockt von den Situationen, in denen sie wirken sollen. Und gewiss sind sie auch der Sorge des ostdeutschen Autors geschuldet, der als gesamtdeutsches Alibi für die westdeutsche Gruppe 47 vereinnahmt zu werden fürchtete (und deshalb dem Preis der Gruppe, der ihm 1962 zugesprochen wurde, nicht ganz traute). Und gewiss fühlt sich ein aufrichtiger und inspirierter Erbe des Klassischen in einem plötzlich wahrgehabten Wandel des literarischen Klimas, in einem anderen, fremden Fortschritt ein wenig verlassen.
BEFÄHIGTE EPOCHE
Schreibt, so leicht war das Schreiben noch nie, da liegen die Muster
feil am Markt, und wer will, kriegt sie, bequemer, frei Haus.
Freilich, eins muß man vermeiden, sonst gehts nicht so gut oder gar nicht:
daß einem Thema, Sujet – soetwas zwischengerät.
Aber im Grunde ist die Wahl der Form, dass man Xenien wie vor 170 Jahren schreiben – und gültig schreiben könne, eine Vorentscheidung über ihren Rang. So etwas wie ein nostalgisches formales Prokrustesbrett scheinen sie doch, ein fortgesetztes Gesellschaftsspiel, eine aus der Mode gekommene Sportart vor zerstreutem Publikum, das sich ab und an der Ranküne oder auch nur der Bissigkeit freut, die hinter der ritterlichen Form hervor oder unter ihr durch sich öffentlich Bahn bricht, um Verwundete oder gar Erledigte mit einem lässig-erlesenen Schildchen versehen zurückgelassen zu sehen. Brecht und die Brechtianer, Becher und Strittmatter, ebenso wie Grass, Walser und Co. (Xenien, die sich zum Motto oder Anlass dieses oder jenes Autoren-Porträts nehmen ließen), ja sogar Goethe noch im Nachtrag und mancher, der es heute kaum noch glauben kann (z.B. Peter Hamm), sind hier artig zugerichtet; aber ob da das literarische Klima der späten fünfziger, frühen sechziger Jahre hier von den Versfüßen aufsteigt – das zu entscheiden bleibt wohl den Kritikern vorbehalten, deren epochale, in Verdrängung der Autoren übergehende Herrschaft damals, erbitternd und entzückend, begann.
OCHSENFROSCH
Viel verbreitet die Meinung: grad er sei der allerstärkste
Diskutierer im Land – aber was sagt er denn schon?
Lautstark ist er und rüde schimpft er, das aber doch nur, weil
er für die Diskussion stets in der Sache zu schwach.
KRITIKER KAISER
Oh welch ein Anblick! Auf Flügeln schwebt er daher des Gesanges,
halb geschlossenen Augs, halb gespitzten Gehörs.
Fasziniert schaut sein Opfer entgegen ihm, und dieser Luftgeist
lenkt ihm aus Gold einen Pfeil schlankweg und tödlich ins Herz.
Das alles ist trefflich, aber im Vergleich etwa zu dem ein halbes Jahrhundert früher geschriebenen „Großen Bestiarium der modernen Literatur“ Franz Bleis noch possierlicher – so possierlich, dass man es wie eine bedrohte Art in Schutz nehmen möchte.
Natürlich nicht unbedingt die persönlich Betroffenen; aber das war immer der Trost der Autoren.
Eine Doppelxenie habe ich mir noch notiert.
INQUISITION
Fragt ihn, ihr Herren, wer sind des Jahrhunderts bedeutendste Dichter?
Sagt er: Kavafis, Genet, Trakl und Hans Henny Jahnn,
liegt es doch nah, auf besondere Neigungen bei dem Befragten
freundlich zu schließen; doch was, wenn er nun kein Päderast?
Kavafis wurde, so bezeugt Gerhard Wolf in seinem schönen Bobrowski-Buch Beschreibung eines Zimmers, ein wenig staunend von Bobrowski bewundert, wie Klopstock vielleicht. Und wer von Kavafis’ „historischen“ Gedichten auf Bobrowskis sarmatische Dichtungen sieht, wird vielleicht das Nahen einer wirklichen Erkenntnis ahnen. Wenn also in Bobrowskis Nachlass eine Doppelxenie gefunden würde, in der man schließlich Aufschluss darüber erhielte, dass Königsberg künftig einmal sein Alexandria heißen könnte – dann, ja dann wären wir überwältigt.
Hugo Dittberner, aus Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): TEXT+KRITIK, Johannes Bobrowski, Heft 165, Januar 2005
Vor 35 Jahren war er ein berühmter Dichter, ein Mittvierziger, der noch viel für die Zukunft versprach. Innerhalb kurzer Zeit drei Gedichtbücher, zwei Romane, ein Band mit Erzählungen. Dann der Tod mit 48, nach Abschluß des zweiten Romans. (Zwei Tage nach der letzten Korrektur muß er ins Krankenhaus, das er nicht mehr verlassen wird.) Und das Seltsamste daran: das unerwartete Ende kam zu dem Zeitpunkt, da Bobrowski sich entschieden hatte, das Thema seiner Arbeit zu wechseln. Er wollte nicht mehr über Ostpreußen und den europäischen Osten schreiben; ihm schwebte für die nächsten Jahre ein autobiographisches Buch über seine Zeit in sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1945–1949 vor.
Ein früh unterbrochenes, nicht sehr umfangreiches Werk, trotzdem kein „unvollständiges“, fragmentarisches. Bobrowski ist mit seinen Gedichten und Erzählungen zum Dichter einer Region geworden, die damals von Leuten politisch instrumentalisiert wurde, deren Gemeinschaft er wahrhaftig nicht suchte. Der Vortrag eines Bobrowski-Gedichts auf einer der unzähligen „Heimat“- und „Vertriebenentreffen“, wäre das denkbar gewesen? Man sollte keine Illusionen haben: Wenn man es nicht sehr genau nimmt mit dem Wort – ja, es wäre möglich gewesen. Gegen die Vereinnahmung durch falsche Bundesgenossen ist Literatur nur schwer zu schützen. Da helfen höchstens Genauigkeit und Wahrhaftigkeit – auf seiten des Autors wie des Lesers. Es war ganz sicher ein Wagnis, eine durch den Krieg verlorene Region literarisch heraufzubeschwören. Das konnte leicht mißverstanden werden; nicht nur von den notorischen Reaktionären. Selbst ein so geschulter Leser wie Franz Fühmann sah „anfangs“ in Bobrowskis Lyrik „etwas Unerlaubtes: das Wachhalten, vielleicht sogar Wiedererwecken von Gefühlen, die aussterben mußten“. (Fühmann hat sein Urteil später revidiert – im Tagebuch Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens von 1973 – und bekannt, daß er zunächst engstirnig-politisch geurteilt habe.) Für Bobrowski war das Sprechen über die Vergangenheit kein „Wagnis“, es war sein Thema, der Erfahrungsgrund, der ihn über die ersten Anfänge hinaus zum Schriftsteller machte.
Die Formierung des Themas und das Finden des eigenen Tons, der eigenen lyrischen Sprache: daß das zusammengehört und nicht willentlicher Beliebigkeit folgt, kann man bei Bobrowski sehr genau beobachten. Seine Lyrik ist in ihrem ersten, starken Impuls ein Heraufbeschwören, ein Anrufen des Verlorenen und Vergangenen.
Wilna, Eiche
du –
meine Birke,
Nowgorod –
einst in Wäldern aufflog
meiner Frühlinge Schrei, meiner Tage
Schritt erscholl überm Fluß.
Bobrowskis Wahrnehmung der Gegenwart ist ganz unter diese Erinnerung gebeugt. Daß das für den Autor selbst wahrscheinlich ein psychischer Balanceakt war, geben die ruhigen, ernsten Gedichte nicht zu erkennen. Manchmal schlüpft die Bedrängung durch, die drohende Leere zeigt sich – oder wird erahnbar –, die solch eine retrospektive Haltung hinterlassen kann.
Dörfer,
wie will ich leben
noch?
Die nun zwölf Jahre nach den Gesammelten Werken erschienenen Erläuterungen zu den Gedichten und zur Prosa geben einen sehr genauen Einblick in die „Entstehung“ des Schriftstellers Bobrowski. So geradlinig und unverhofft, wie es vielen Zeitgenossen damals vorkam, war es doch nicht. Es gab eine Entwicklung, es gab auch Gegenwind und die unausweichlichen Selbstzweifel. Hätte Peter Huchel, der einzige Gegenwartslyriker, den Bobrowski uneingeschränkt verehrte, ihn 1953 nicht in Sinn und Form gedruckt und zugleich brieflich ermuntert… Mit Sicherheit wurde Bobrowski gerade durch diesen Zuspruch bestärkt, und da Sinn und Form in Ost und West großes Ansehen genoß, war damit auch der Weg für weitere Veröffentlichungen geebnet.
Die Anfänge fallen in die Zeit des Krieges; 1941/42 an der Ostfront am Ilmensee, nicht allzuweit von den baltischen Ländern, schreibt er seine ersten Gedichte. Der Wehrmachtssoldat ist – unfreiwillig – in seiner Landschaft, und die Konstellation ist die typische einer tausendjährigen Geschichte: die von Bobrowski später beklagte „Schuld der Deutschen gegenüber ihren östlichen Nachbarvölkern“. Dieser doppelte Erlebnishintergrund bestimmt seine Dichtung: die eigene Kindheit im „Osten“, dann die persönliche Verstrickung in den Eroberungskrieg gegen die slawischen Völker.
Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten. Weil ich um die Memel herum aufgewachsen bin, wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit. Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung, seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht.
Vor allem in seinem ersten Gedichtband, Sarmatische Zeit (1961), etwas abgeschwächter im zweiten, Schattenland Ströme (1962), ist die Trauer über das Verlorene allgegenwärtig. Der stärkste Ausdruck dieser Gedichte ist die Trauer, der Verlustschmerz:
Dort war ich. In alter Zeit. Neues hat nie begonnen. (So im Schlußgedicht von Sarmatische Zeit.)
Man sollte also skeptisch sein gegenüber den zitierten Sätzen über das „Thema“. Sie stimmen, sind ohne weiteres verifizierbar – und sagen doch zu wenig über diese Gedichte. Damals, als Bobrowski sie für eine Anthologie schrieb, haben sie gewiß klärend gewirkt, Mißverständnissen vorgebeugt; heute, angesichts einer unbestreitbaren Ferne Bobrowskis, wirken sie eher hemmend. Denn seine Lyrik ist mehr als das geschichtliche Kaleidoskop einer Epoche und Region; sie ist durchaus klein und privat, aber in einem ganz ursprünglichen und dadurch sehr weiten Sinn. Ihr „Ich“, das ist der Autor selbst, und ist jeder, der diese Gedichte liest. Das Besondere der Sozialisation, der Mentalitäten und Charaktere im „europäischen Osten“ (mit dem tiefsinnigen Akzent auf der „Judenheit“: „Jeder Jude ist mir ein Beweis der göttlichen Weltordnung“): das ist gestaltete und angerufene Welt (oder Gegenwelt?), ein Modell, ein Entwurf – wie man will.
Bobrowskis Lyrik kennt noch nicht den Sprachzweifel, den grundlegenden Zweifel an der Einheit von Wort und Sache bzw. daran, daß das gefundene Wort die Sache erst wirklich im menschlichen Bewußtsein befestigt. Dieser Zweifel hat der Lyrik ganz neue Wege gewiesen, auch experimentelle mit einer völligen Zerschlagung der natürlichen Redeweise; Bobrowski ist sie nicht mitgegangen. Daher erscheint er manchem als traditioneller oder auch ,altmodischer‘ Dichter, der die Härte des modernen Gedichts gar nicht kennt. (So urteilte der Kritiker Joachim Kaiser über die Gedichte, Helmut Heißenbüttel entsprechend über den Erzähler.) Bobrowskis formales Ideal war nicht der Gegenpol zur üblichen Rede oder lyrischen Tradition, sondern die sinnliche Anschaulichkeit. „Sprich, daß ich dich sehe!“ Er bezieht sich hierbei auf Herder und vor allem auf Gedanken seines geliebten Sonderlings J.G. Hamann, den Lehrer Herders und Kritiker Kants. (Übrigens allesamt Ostpreußen und Königsberger wie er selbst.) Bobrowskis Gedichte stehen nicht vor dem Verstummen oder verlassen bewußt den Weg, den andere vor ihm gegangen sind. Sie kennen noch das Ausschwingen einer Gefühlslage, das Pathos, den Anruf. Es sind schöne und ernste Gedichte; manchmal kommt ein Moment von Zerknirschung hinzu.
Was seine Erzählungen und Romane betrifft, so wirken sie auf den ersten Blick viel „moderner“, geradezu experimentell. Die Absicht Bobrowskis ist hier die gleiche: Sinnlichkeit und Anschaulichkeit. Die vermißte er in der deutschen Gegenwartsprosa und strebte nach einer Erneuerung der Literatursprache durch ein dem natürlichen Sprechen nachempfundenes Schreiben. Bobrowski wollte auch als Erzähler nicht „modern“ sein; im Gegenteil? er griff gewissermaßen hinter die Moderne zurück, um die Quellen natürlichen Sprechens, auch des Dialekts, fruchtbar zu machen. Das Ergebnis ist ein unnachahmliches Gemisch aus mündlich-volkstümlichem Erzählen und klassischer literarischer Tradition. Die Nachahmer Bobrowskis sind an dem Mißverständnis gescheitert, Alltagsjargon sei der Zauberstab, mit dem man die Sprache zum Leben erwecken könne.
Es sagt sich so leicht hin über Schriftsteller oder Künstler, daß sie unvergleichlich sind, daß sie nur für sich stehen. Bobrowski ist unvergleichlich; er ist eine vollkommen eigenständige Erscheinung in der deutschen Literatur. Ich erinnere mich gut an die Seminare und Vorlesungen an der Leipziger Universität zu Anfang der siebziger Jahre. Bobrowski wurde besprochen, auch respektvoll gelobt – aber wie sollte man ihn in die „Tendenzen und Beispiele“ einer klar definierten ,Entwicklung der DDR-Literatur‘ einreihen? Er gehörte nicht zur sogenannten Lyrikwelle um 1960 (Braun, Sarah und Rainer Kirsch, Mickel), auch nicht zur neuen Generation in der Prosaliteratur, die von Christa Wolf am stärksten repräsentiert wurde. Bobrowski gehörte nicht dazu, obwohl er zeitgleich debütierte. Genausowenig ließ er sich „auf westdeutsch firmieren“ (Brief an Peter Jokostra, 5.10.1959). Paul Celan, Ingeborg Bachmann, die zornigen Gedichte des jungen Enzensberger: sie gaben damals den Ton an in der westdeutschen Lyrik. Bobrowski las sie alle; in seinen Doppel-Xenien, „Literarisches Klima“, hat er sie kommentiert, dabei mit Spott und Ironie nicht gespart. Er verfolgte die westdeutsche Diskussion um ,das moderne Gedicht‘; er war mit Günter Grass befreundet, kannte Walter Höllerer gut, wurde – ein Ausnahmeprivileg für einen DDR-Schriftsteller – zu Tagungen der Gruppe 47 eingeladen (1962 erhielt er deren angesehenen Preis). Das alles brachte ihn nicht ab von dem Weg, den er vor diesen Begegnungen eingeschlagen hatte.
Offenbar machte es ihm keine allzu große Mühe, sich aus den ideologischen Gefechten des kalten Krieges herauszuhalten. Keine offenen Briefe (bei Ost- wie Westschriftstellern damals sehr beliebt), keine Polemik, keine politischen Erklärungen, lediglich einige Loyalitätserklärungen in Interviews und der ausweichende Artikel Fortgeführte Überlegungen aus dem letzten Lebensjahr, den er nicht aus eigenem Antrieb schrieb. Es gab immer wieder Sticheleien aus der CDU-Spitze – Bobrowski war Mitglied der DDR-CDU –, die sich im Frühjahr 1963 zu einem offenen Angriff formierten. Anlaß dazu boten Bobrowskis zahlreiche Westkontakte. „In einer vergifteten Luft leben“, so schrieb er in einem Brief an seinen Freund Max Hölzer vom 11.6.1963. Wie hätte er die nächsten Jahre überstanden? Durch seinen frühen Tod bleibt das Bild eines Schriftstellers zwischen Ost und West, nicht abzubringen von dem „redlichen Versuch“, „deutsche Gedichte zu machen“ („Mein Thema“ und Brief an P. Jokostra, 5.10. 1959).
Andreas Schrade, aus Peter Gosse, Roland Opitz, Klaus Werner (Hrsg.): Was ist das Bleibende? Zwanzig Einmischungen von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern, edition ost, 1999
(…)
Das „Abseits“, in dem seine Dichtungen entstanden, war sehr wahrscheinlich die Vorbedingung für ihren unverwechselbaren Ton, den die Schnellfertigen und Vorkämpfer des Zeitgemäßen als „Gegenwartsabgewandtheit“ brandmarkten. Heine ähnlich war Bobrowski kein gradliniger, auf ein Dogma, Stil oder eine glatte Form festgelegter Poet, mit der Sprache nicht auf du und du, sondern in wilder Ehe lebend, sich herausreden kam für ihn nicht in Frage. Mit einem Heine-Zitat konstatierte er:
Ich habe immer die ganze Vergangenheit, die ganze Gegenwart und die ganze Zukunft vor mir und auf dem Halse gehfühlt.
1955 wurde Bobrowski mit dem Dichter und Neruda-Übersetzer Erich Arendt bekannt, der ihn auf die Zeitschrift Sinn und Form und ihren Chefredakteur Peter Huchel als für ihn passende Adresse hinwies, eine Empfehlung, die sich als richtig und folgenreich erwies, denn für Huchel waren die Gedichte dieses ihm bisher unbekannten Autors eine Offenbarung. Die Gespräche mit Huchel und bald auch mit Stephan Hermlin beförderten nun maßgeblich sein poetisches Selbstvertrauen und seine Schreiblust. Anfang 1958 berichtete er:
Mit Huchel hab ich eine Nacht verredet, Hermlin war auch dabei. Sie gehen mit mir um wie mit einer bekannten Größe.
Für Hermlin empfand er eine nie nachlassende Sympathie, er war ihm in Angelegenheiten des politischen Alltags ein verlässlicher Ratgeber, und in literarischen Fragen war ihm sein Urteil, auch wenn er es nicht teilte, sehr wichtig, weil es auf einer unbestechlich eigenständigen Meinung beruhte. Im zunehmend engstirnigen, kunstfeindlichen, provinziell vermieften literarischen Klima der DDR nach dem Mauerbau war Hermlin für Bobrowski der bewunderte homme de lettre, einer, der sich mit den Funktionären der Partei mutig auseinandersetzte. „Hermlin steht hier wie eine Eins“, versicherte er Christoph Meckel, den er 1960 als einen jüngeren poetischen Gesinnungsbruder kennen und schätzen lernte, nachdem er kurz zuvor schon Verbindung zu den Westberliner Malerpoeten Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell aufgenommen hatte. 1960 verließ er sein Friedrichshagener Refugium einige Male und reiste zur Frankfurter Buchmesse, zu V.O. Stomps und dessen Eremitenpresse nach Stierstadt und nahm erstmals auch an einer Tagung der Gruppe 47 in Aschaffenburg teil. Mit Überzeugtheit und Entschiedenheit setzten sich die neu gewonnenen Freunde Christoph Meckel, Peter Hamm, Max Hölzer und andere bei ihren Verlagen oder Redaktionen für die Lyrik des Friedrichshagener Poeten ein. Sie alle waren dann herzlich empfangene Gäste in der Ahornallee, dem Ort, der ihm die Welt war und wo die Heimat, die ihn geprägt hatte, schreibend zur Welt werden lassen konnte.
Aber wenn du träumst, wie reden da die Leute, wie sehen die Wege aus, aus welchem Haus kommst du, in welches gehst du hinein? Die Traumhäuser sind aus Holz, aber nicht alle, und das ist es auch nicht. Und die Wege? Ein eingefahrener Sandweg. Ohne Gräben. Wie breit ist er, kann man das sagen? Er geht über in die Wiese. Oder die Wiese hört auf. Oder geht über in einen Weg. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zu Ende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben.
Zur poetischen Praxis Bobrowskis gehörte auch seine Freude an Kirchenmusik und das Singen im Chor der Kirchgemeinde von Friedrichshagen. Erstmals sang er in einem vorweihnachtlichen Konzert des Chors im Dezember 1951 geistliche Kantaten von Buxtehude und Bach, und im Jahr darauf standen die Kantaten Lauda Sion Salvatorem von Buxtehude und Willkommen, süßer Bräutigam von Vincent Lübeck auf dem Programm. Singend im Kirchenchor oder zuhause am Clavichord „Ich suchte des Nachts“ anstimmend, war er glücklich und ganz bei sich. „Er hätte mit seiner Stimme drauflos orgeln können“, bezeugt Christoph Meckel, „wie er, singend am Clavichord, in tenorige Begeisterung geriet, wobei er vermutlich alles überwand, was ihn niederdrückte und von sich abhielt.“ Im Juli 1958 hatte er das von der Bamberger Firma Neupert hergestellte Instrument vom Friedrichshagener Kantor Rudolf Finke erworben. In einem Brief an die Autorin Edith Klatt rühmte Bobrowski diesen Kauf „Es ist ganz leise… Aber es klingt wunderbar, wie eine ganz kostbare Laute.“ (17. Juli 1958) Er liebte es, die Weisen des frühen Barock im empfindsamen und naiven Stil jener Zeit zu spielen. Er hatte ja früher eigentlich einmal Musiker werden wollen. In Königsberg hatte er auf der Orgel zu spielen gelernt.
(…)
Mit dem Erscheinen des ersten Gedichtbands Sarmatische Zeit – die westdeutsche Ausgabe erschien in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart im Februar 1961, die Ostberliner Ausgabe im Union Verlag folgte im Herbst – begannen sehr bald kleine publizistische Schlachten um den Außenseiter der DDR-Literatur, der ohne sein Zutun als eine Art Boris Pasternak der DDR porträtiert wurde. Die Verse Bobrowskis wurden aus durchschaubaren Gründen überschwänglich gelobt, selten rezensiert. Bobrowski blieb bei seiner Haltung von 1959, als sich erstmals andeutete, dass er „benutzt“ werden sollte:
Ich selber werde mich nicht auf ostdeutsch firmieren lassen, sowenig wie auf ,heimlich westdeutsch‘. Entweder ich mach deutsche Gedichte oder ich lern Polnisch.
Die durch den Bau der Mauer geschaffene Zementierung der deutschen Teilung machte die Situation des Dichters, der mit 44 Jahren sein spätes literarisches Debüt hatte, nicht leichter, Den Erfolg wollte er sich nicht mehr nehmen lassen, die späte Anerkennung nun unbedingt nutzen. Er brauchte diesen kleinen Ruhm und die Bestätigung, um sich die Literatur, die jetzt in großerProduktivität entstand, abverlangen zu können. Als ihm die Gruppe 47 bei ihrer Herbsttagung 1962 ihren Preis verlieh, stand sein literarisches Ansehen dem von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Günter Grass, Uwe Johnson und Peter Weiss in nichts mehr nach. Ebenso häufig aber wie jene sollte er nun Stellung beziehen, Erklärungen abgeben, Ansichten und Absichten äußern, an Dichterlesungen und Podiumsgesprächen teilnehmen. Bald überkam ihn die Lust, aus all dem Getriebe wieder auszusteigen, allem „Geschwätz“ und dem Trubel zu entsagen. Aber sein Dichten brauchte ein Gegenüber und auch sein Christentum strebte kein Eremitendasein an:
Unsere Vorstellung von christlicher Lebensführung basiert ja gerade darauf, dass wir nicht eine verborgene Sekte sind, sondern in der Gesellschaft zu stehen haben.
Bezeichnend vielleicht für den Zwiespalt und die Bedrängnisse, die ihm zusetzten, ihn aber auch anstachelten, waren folgende Zeilen an Max Hölzer im Januar 1962:
Seit Monaten nichts geschrieben, in einer Dürre lebend, die die Erinnerung daran, dass ich ja doch geschrieben habe, wie eine Fata Morgana erscheinen lässt – getrennt von den Freunden, auch den hiesigen – und doch mit einer geradezu eschatologischen Hoffnung, die mit einer Ruhe und Sicherheit erfüllt, für die ich die Gründe nicht mehr beibringen kann… Als wär das so irgendwas, Gedichte zu machen, als gäb man nicht an einen Vers seine Gesundheit z.B. dran.
Sein Leben war nichts ohne die Familie im Hintergrund, die Freunde, die Lesungen und Tagungsgespräche mit Stephan Hermlin, Peter Huchel oder Hans Magnus Enzensberger in den Räumen der Evangelischen Akademie in Weißensee, die Reisen zu Schriftstellertreffen und Begegnungen mit Autoren wie Tibor Déry, Hubert Fichte, Günter Grass, Michael Hamburger, Jakov Lind oder William Saroyan. Im Kirchenchor seiner Gemeinde weiterhin zu singen, ließ er sich nicht nehmen. Und was die Auslandsreisen anbelangt, so kehrte er doch auch mit schönen Erlebnissen, neuen Anregungen und der Genugtuung, andere, ihm bisher unbekannte Dichter (wie etwa Nelly Sachs, James Baldwin) als Freund gewonnen zu haben, von Reisen aus Wien, Zürich, Finnland oder Stockholm zurück.
Klaus Völker, aus Klaus Völker: Johannes Bobrowski in Friedrichshagen 1949–1965, Kleist-Museum Frankfurt (Oder), 2007
Die blaue Mütze nimmt er am Gartentor ab. So ein Garten gehört schon zur Gestaltung des Hauses. Wir sitzen im Freien und trinken auf leichten Stühlen. Der Wodka ist lau, er macht dußlig. Bobrowski hat noch die blaue Mütze in der Hand. Zuerst gießt ihm Sarah ein, dann Scheerbart, im weiteren bedient er sich besser gleich selbst. Seine Finger können zwei Oktaven umspannen. Es war nicht einfach, das Treppenhaus ist eng wie ein Schneckenhaus. Scheerbart ging rückwärts voran, ich vorwärts hinterher. Wir sind nicht angestoßen. Gott sei Dank, sagt meine Frau, wär auch schade um das schöne Instrument. Meine Frau heißt Birgit. Ihr hochgelegener, rauher Ort am rechten Nasenflügel ist das Zentrum unseres Kreises. Birgit mögen wir alle gern, sie darf das gestrichene C anschlagen. Ein Clavichord im Garten ist so selten wie verzinkte Dachnägel. Bobrowski spielt Buxtehude, man hört es noch in Hamburg. Seine Eisbärenaugen leuchten den ganzen Garten aus.
Scheerbart hat inzwischen eine Glasarchitektur entworfen. Das Instrument wäre dadurch wetterfest zu überdachen. Glas ist das einzig mögliche Baumaterial hierfür, damit auch Fries in Petershagen, wenn er mit dem spanischen Fernrohr auf dem Pflaumenbaum sitzt, die Vorgänge verfolgen kann. Spiegelsysteme projizieren sie in die stalagmitischen Türme, so daß Fries vielleicht bloß auf die Haushaltsleiter zu steigen braucht. Das wird ihm lieb sein.
Gerade das Verwirrende erzeugt doch den Gipfel aller Lebenslust, sagt Scheerbart und fordert uns auf, eine Sammlung für seine Glasarchitektur zu veranstalten. Es kommt eine runde Summe zusammen. Ohne Rest geht eine zweite Flasche Wodka in ihr auf. Sarah und Birgit lösen sie ein. Sie bringen Mickel und sein Rennrad mit. Sie haben ihm beim Schnapsbudiker getroffen, dort hat er helle Zigarren zu dreißig gekauft. Sarah und Mickel setzen sich dicht nebeneinander, ihr Kind wollen sie Moritz nennen. Das ist die deutsche Form von Maurice Thorez.
Ja, das Gesellige ist uns angeboren. Auch Scheerbart hat so gern Leute um sich, vorläufig wartet er auf Braun. Der hebt kaum einen Fuß vor die Tür, selbst bei klimatisch zumutbaren Bedingungen nicht, sagt Mickel kurzerhand. Wir sind enttäuscht. Birgit gießt nach. Mickel erzählt Ökonomisches. Eintagsfliegen sind um diese Zeit schon tot.
Das ist ein Dichtergarten, entscheidet Bobrowski, als erster Baum soll Scheerbart vorlesen. Wir rufen ihm zu, was wir hören möchten. Aus dem Eisenbahnroman Ich liebe Dich! ruft Birgit. Scheerbart fängt an, aber es wird nichts. Er muß immerzu lachen, vor lauter Lachen verliert er die Zeile und die nächste auch. Nun lachen wir alle. Mickel lacht wie ein Schakal und zeigt die schwarzen Zähne.
Über uns raschelt die Luft. Auf einmal steht der gutmütige de Bruyn vor uns allen. Er hält sein blondes Fräulein Broder an der Hand. Ihr Name ist bloß ein Pseudonym für etwas viel Schöneres. Sie hocken sich ins Gras und rauchen in einer Tour. Zwischen zwei Lungenzügen fragen sie wie Zwillinge. Wir wissen es aus Mickels Mund, wir sagen es prompt weiter: Seitdem er Telefon hat sowieso nicht mehr. Braun ruft höchstens im Strandbad Müggelsee an und erkundigt sich nach der Wasser- und Lufttemperatur. Wenn er abends neben Anne liegt, schwärmt er vom Ausflug. Heute war das Wasser angenehm, sagt er dann. Nur daß es nicht noch angenehmer war, verstimmt ihn in der Dunkelheit. Wie Mücken umschwärmen ihn Verse, und im Büchelchen unterm Kopfkissen hält er den einen fest: Auch ohne uns / Scheppert die Bahn nach Haus. So dichtet er ganz realistisch.
Es ist andauernd eine Unruhe in uns, beinahe greift sie auf die Hände über. Wir wittern große Ankunft, aus nördlicher Richtung ein Mann mit fleischiger Nase und lockerem Krawattenknoten. Sarah denkt: der Präsident.1 Uns scheint, er macht Schritte, daß wir in unseren Köpfen die Erdrotation spüren. Obendrein wird er von Sprüchen regiert: das Kontaktresultat zwischen dem Objekt und der Sprachseele.2 Er hat sich in Klausur begeben und eine Abrechnung geschrieben,3 vornehmlich in den Hundstagen bei fast gar keiner Regung der Luft. Alles um zu einer honorigen Einigung zu gelangen, sagt er. Unser Präsident ist Sprachbiologe genug, daß ihm solche Mutationen auf der Zunge wimmeln: Dogmenhahn, Literaturkläffer, äffischer Klopffechter.4 Wir schütteln die Köpfe. Obwohl wir keine Volljuristen sind, ziehen wir erste Vergleiche und richten. So wohl doch nicht, sagt de Bruyn. Auch Scheerbart sagt nein, Bobrowski bestärkt ihn noch. Jedenfalls, in diesem Wodkagärtchen wird Arno Holz mehr hochgeschätzt. Der Präsident hält es für einen Spaß, er beruft sich auf seine Präsidentschaft, er nennt seinen vollen Namen und öffnet die sehr blutarmen Lippen: Euer alter Otto zur Linde.
Auf dem sonst stillen Rasen flackern pflaumengroße Schatten des Pflaumenbaumes. Die Schatten sind grün, müßten allerdings bei dem anhaltend schönen Wetter bereits bläulich changieren. Wir sitzen versonnen im Licht, das sich zwielichtig zerstreut. Der Präsident nimmt wegen seines sauren Charakters eine Sonderstellung ein. Die Anrufung eines großen Kunstrichters scheint wünschenswert. Der Präsident besteht darauf. Bobrowski bringt ein chorisches Ja aus, das sich wie Aber ja doch! anhört. Wir ziehen los und zum Maler-Dichter Kunert. Er wird im Zimmer stehen und eine Widmung an Marianne entwerfen.5 Nachher soll er rechtsprechen. Holz oder doch Zur Linde. Wie leicht ist ihm da alles ein feines, von unzähligen Zellwänden und Hohlräumen durchzogenes Gerippe und das Laub rein bodenzoologisch bedeutsam. Kunert unterhält ungeheuerliche Laborzuchten.6 Dabei fressen 10g seiner Porcellio scaber in vier Tagen 3g Haselnußlaub. Er wird demnächst zeigen können, daß die Aktivität vieler Asseln nach Regenfällen zunimmt. Er wird es malen, in Farben wie Treptow in Flammen.7 Wir sind gespannt, die Rechtslage ist brisant genug. Hufeisenförmig bilden wir einen lax aufgefaßten Halbkreis. Vielleicht kommt nach dem Schiedsspruch doch noch ein farblich interessantes Gruppenbild zustande, die erste Reihe knieend: Scheerbart träumt von einer künftigen Glaskulturepoche. Mickels Hände sollten schlankweg pastos interpretiert werden. Sarah sieht so sanft aus, wir nennen sie Kamille.8 De Bruyn wendet sich Fräulein Broder zu, sie sind ganz für einander da. Bobrowski notiert in seinem schönen Pferdekopf9 eine Seite der Litauischen Claviere. Was Birgit jetzt denkt, ahnt ja doch keiner. Der Präsident wird nach Lage der Dinge eine zweite Schrift über den phonetischen Rhythmus10 verfassen. Die erste Reihe knieend, die zweite Stangenholz: ein Berliner Dichtergarten.
Bernd Jentzsch, 1974, aus Bernd Jentzsch: Flöze, Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke 1993
DER MILCHMANN
nach Johannes Bobrowski
Milch.
Die Milch.
Einer,
der kommt aus dem Morgengewölk, aus
Ostra Brama sein Schritt,
sein Schatten von Herden schwer.
Einst,
mit der Kanne im Arm,
umglänzt vom pfeifenden Schweif,
weit
durch die Finsternis sein Weg,
einst,
in sprachloser Zeit, wird er,
sag ich,
auf deiner Schwelle stehn,
die Kuh im Aug’, bärtig, ein
traumloser Greis mit
Hörnern gegürtet, ich sag es,
wird künden:
Ich
bin der Milchmann.
Manfred Bieler
BEGEGNUNG
Johannes Bobrowski trifft sich mit Nelly Sachs 1963 in Stockholm
I
Sie öffnet dem,
der eben das geteilte Meer
hinter sich ließ,
ihre Tür.
„Kommst du endlich…“,
ihr Mund
mit der leisen Stimme,
ihre Stirn
Gegenlicht im Erinnern.
Du trittst ein aus dem
Schatten
der dir zugemessenen
Stunde,
hast das Meer
überquert
mit dem Segel
des Wortes,
konntest dich
abstoßen
vom Eis.
II
Deine Hoffnung:
„Turm, dass er bewohnbar
sei wie ein Tag, der Mauern
Schwere, die Schwere
gegen das Grün…“11
Hat sie „Bruder“
zu dir gesagt,
weil sie deinen Weg kannte,
aus deiner zerrissenen
Stadt,
einzutreten
in die Einsamkeit
ihres Überlebens?
III
Entsiegelt
die janusköpfige Nacht.
Hervor tritt
der schmerzvermauerte Stein
Else Laskers,
die Heimat Chagalls
„mit Flügeln
aus Weizenfeldern“12
und der Geige,
wo die innerste Regung
Raum hat
auf einer einzigen Saite.
Ulrich Grasnick
Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962 und 1965 für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages.
Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962. Bei dieser Aufnahme handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Lesung Johannes Bobrowskis zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin, auf der Bobrowski den Preis der Gruppe 47 erhielt.
Gerhard Wolf: Johannes Bobrowski: Leben und Werk
Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski
Walter Gross: Der Ort, wo wir leben
DU, Heft 2, Februar 1965
Günter Hartung: Johannes Bobrowski
Sinn und Form, Heft 4, 1966
Wilhelm Girnus: Für Johannes Bobrowski
Sinn und Form, Heft 6, 1967
Jürgen Joachimsthaler: Bobrowskis Häutungen
literaturkritik.de, 5.4.2017
Andreas Degen: Kafka zum Beispiel
literaturkritik.de, 9.4.2017
Thomas Taterka: Der letzte Talissone
literaturkritik.de, 5.4.2017
Sabine Egger: Martin Buber und Johannes Bobrowski
literaturkritik.de, 16.4.2017
Andreas F. Kelletat: Vom Ende der Sesshaftigkeit
literaturkritik.de, 5.4.2017
Reiner Niehoff: Bobrowski-Fragmente
SWR2, 19.6.2017
Jürgen P. Wallmann: „ich hab gelebt im Land, das ich nenne nicht“
Die Tat, 3.9.1966
Gerhard Desczyk: „… so wird reden der Sand“
Neue Zeit, 9.4.1967
Peter Jokostra: Gedenkzeichen und Warnzeichen
Die Tat, 29.8.1975
Gerhard Rostin: Der geht uns so leicht nicht fort
Neue Zeit, 9.4.1977
Jürgen Rennert: Von der Sterblichkeit der Dichter
Das Literaturjournal, 3.9.1980
Gerhard Wolf: Stimme gegen das Vergessen
Freibeuter, Heft 25, 1985
Reinhold George: Brober
Schattenfabel von den Verschuldungen. Johannes Bobrowski zur 20. Wiederkehr seines Todestages, Amerika Gedenkbibliothek, Berliner Zentralbibliothek, 1985
Michael Hinze: Mitteilungen auf poetische Weise
Berliner Zeitung, 9.4.1987
Eberhard Haufe: Der Alte im verschossenen Kaftan
Neue Zeit, 9.4.1987
Annett Gröschner: Der sarmatische Freund
Die Welt, 29.8.2015
Christian Lindner: Mit dem dunklen Unterton der Melancholie
deutschlandradiokultur.de, 2.8.2015
Lothar Müller: Nachrichten aus dem Schattenland
Süddeutsche Zeitung, 1.9.2015
Helmut Böttiger: Große existenzielle Melodik
Süddeutsche Zeitung, 6.4.2017
Dirk Pilz: Dem großen Dichter zum 100. Geburtstag
Berliner Zeitung, 6.4.2017
Dirk Pilz: Ostwärts der Elbe
Frankfurter Rundschau, 7.4.2017
Arnd Beise: Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler
junge Welt, 8.4.2017
Klaus Walther: Johannes Bobrowski: In „Sarmatien“ eine poetische Heimat gefunden
FreiePresse, 7.4.2017
Richard Kämmerlings: Der Deutsche, der an der Ostfront zum Dichter wurde
Die Welt, 9.4.2017
Cornelius Hell: Wer war Johannes Bobrowski?
Die Presse, 7.4.2017
Klaus Bellin: Erzählen, was die Leute nicht wissen
neues deutschland, 8.4.2017
Tom Schulz: Mein Dunkel ist schon gekommen
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.2017
Manfred Orlick: Die Deutschen und der europäische Osten
literaturkritik.de, 5.4.2017
Oliver vom Hove: Der Dichter verlorener Welten
Wiener Zeitung, 9.4.2017
Wolf Scheller: Poetische Landnahme im Osten
frankfurter-hefte.de, 1.4.2017
Klaus Wagenbach spricht über Johannes Bobrowski und Günter Grass liest die Erzählung „Rainfarn“.
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