TRAUER UM JAHNN
Stimmen, laut,
über dem Kürbisfeld,
die Straße ein weißer Rauch,
gegen den Mittag die wilden
Häupter der Sonnenblumen,
aber die Stimme, eine
Stimme, zerrißner
Lippe nah, dem verharschten Blut,
Atem von Blättern, Wölbung,
Raschellaut, hörbar:
Komm mit den kleinen Händen,
Raute, mein Trauergift, komm,
leb ich so lieb ich, die grünen
Finger spür ich, die weißen
Wurzeln, tiefer die Weißen
vertrinken mein Herz.
Einst
die belustigten Götter
über den Tartarus
riefen mit schönen Stimmen:
Hängt ihn kopfunter,
dann wächst ihm der Fels in den Mund.
– Zu Johannes Bobrowskis Gedichtband Sarmatische Zeit. –
Das ist freilich ein wenig schwierig, Dichtung von Rang anders zu kennzeichnen als durch die maßlose Verwendung ebenso bewunderungserfüllter wie ungenauer Superlative; lebt in solcher Dichtung nicht gerade etwas, das sich den präzisen Definitionen beharrlich entzieht? Hier nun, da ist die Stimme, murmelnd, beschwörend, flüsternd. Zauberspruch, der sich verliert, Ding und Wort und spröde Melodie, sie fließt dahin wie einer der vielen Flüsse und Ströme, von denen sie spricht… der Monotonie könnte man sie verdächtigen, wäre nicht jedes der Bilder, das die Welle der Worte aufwirft, so unvergleichlich hart und klar… und diese Stimme, sie führt mit sich fort, wer ihr lauscht, zu welchen Ufern, zu welchen Verwandlungen hin? Es ist die Stimme des Dichters Johannes Bobrowski, es sind die Gedichte seines ersten Bandes, Sarmatische Zeit, und von ihm und seinen Gedichten zu sprechen, das heißt von einem wirklichen Dichter und wirklichen Gedichten zu sprechen und sich also auch zu der aus Faszination geborenen Ratlosigkeit zu bekennen, die eine solche Begegnung zunächst hinterläßt.
Doch damit ist wenig gesagt, ebensowenig wie mit den zu vermeidenden Superlativen. Von Wilna handeln diese Verse, von Nowgorod, von Dörfern im litauischen und Lettischen, von Fischern und wandernden jüdischen Händlern, von der Düna, von der Taurischen Straße, vom vernichteten Volk der Pruzzen und seiner gestorbenen Sprache, von Nächten, Tagen und Dämmerungen über der weiten Ebene im Osten, über Wäldern und Steppen, Seen und Flüssen, Vogelflug darüberhin; und um Irrtümer zu vermeiden – das sind keine Idyllen, das ist keine Naturromantik, das sind keine Spiele mit der Melancholie. Eine Wirklichkeit tritt hervor, deutlich, unerbittlich, genau:
Unter dem Dach
lebt die Jüdin, lebt in der Juden Verstummen.
flüsternd, ein weißes Wasser der Töchter Gesicht. Am Tor
lärmen die Mörder vorüber
heißt es in einem Gedicht, dessen Titel der Name einer Stadt und eine Jahreszahl sind, „Kaunas 1941“.
Das ist erlebt, so wie diese innige Nähe zur beseelten Natur erlebt ist, wo der Mond „ein durchscheinendes altes Metall – keiner mehr weiß es –“ ist und die Bäume und das Gesträuch, die Fische und die Vögel sprechen und angesprochen werden, nicht wie im Märchen, sondern in der Wirklichkeit.
Sarmatisch; Sarmatien — so nannten die alten Völker, die von den Gestaden des Mittelmeers, die unter südlicher Sonne, die weiten, fernen, fremden, undurchdringlich-unbekannten Länder des Nordens und Nordostens, jenseits der Donau, jenseits des Schwarzen Meeres; Bobrowski nimmt diesen Namen, den vergessenen, Kennern der Antike allenfalls noch bekannten, wieder auf, erweckt ihn zu neuem Leben. Die sarmatische Welt, das ist die Welt des Ostens, jene, mit der uns so viel Schuld und Nichtverstehen verknüpfen, – ohne programmatisch zu sein – sind Bobrowskis Gedichte ein Weg, zu verstehen. Die Welt des Ostens, Geist und Natur, Menschen und Geschichte eine Welt, die den gewesenen Herrenmenschen von gestern so oft noch nicht mehr als ein verlorenes Paradies des Herrenrums ist, ersteht in reicher Vielgestaltigkeit, ihr öffnet sich der Dichter ganz, ohne Vorbehalt. Es ist eine Welt, in der Fremdartiges vertraut und das Vertraute fremd ist und die für uns immer noch der Erklärung bedarf. Eine solche Erklärung aber sind, eigenwillig, von nur ihm gehörigen Erlebnissen, Erfahrungen, Erinnerungen geprägt, diese Gedichte von Johannes Bobrowski.
Wie seltsam! Gedichte mit Anmerkungen zu versehen, das ist das fragwürdige Privileg jenes neuen alexandrinischen Synkretismus, der den dichterischen Impuls durch seltene Bildungsschätze zu ergänzen oder ganz zu ersetzen bemüht ist in Gedichten, die vom Verständlichen zum Unverständlichen und darin der Erläuterung Bedürftigen schreiten. Auch Bobrowskis Gedichte, die alles andere denn alexandrinisch sind, die unmittelbar sind, die Welt durch das Wort verwandelndes Gefühl, das keiner Hilfen bedarf, werden durch Anmerkungen, die Namen und Begriffe erklären, ergänzt. Notwendige Anmerkungen, wie wir bemerken, weil uns – welche jahrhundertelange Gleichgültigkeit hat es dazu gebracht! – die Namen der Götter und Sänger der slawischen Nachbarvölker unbekannt sind.
Doch ich sprach vom Unmittelbaren. Das schließt nicht aus, daß in der schönen Selbstverständlichkeit souveränen Wissens und Verstehen in die verschiedensten Epochen und Zonen gegriffen wird; eines der Gedichte ist dem berühmten spanischen Manieristen Góngora gewidmet, in anderen tauchen die Götter und Halbgötter Griechenlands auf, irgendwo erscheint Enkidu, des Gilgamesch Gefährt, und literarische Reminiszenzen an Einsame, Abseitige, Unverstandene wie Villon oder die Günderode oder den jüngst verstorbenen Henny Jahnn sind von allem Nur-Literarischen befreit.
Das Unmittelbare schließt auch nicht aus, daß alle diese Gedichte von hoher und absoluter Kunstfertigkeit sind, daß in ihnen die Intuition des Träumers die Form nicht überwältigt hat. Der freie Vers, der nur rhythmische, nicht aber durch ein festes Metrum oder Regeln des Reimes gebundene Vers birgt Gefahren, die in seiner scheinbaren Leichtigkeit begründet sind. Bei Johannes Bobrowski ist der freie Vers eine strenge Form geschmeidiger Härte. Sätze, weitgespannte, bildhaft gefüllte, fließen über die Zeilenenden hin, achten nicht der Zäsur, und doch ist nichts zufällig, es sei denn, der natürliche Rhythmus des Atmens gelte dafür.
Und nun doch, nach diesen wenigen Versuchen des Verstehen, das Superlativische: Johannes Bobrowskis Gedichte gehören zum Besten, das es in der deutschsprachigen Lyrik der Jahrhunderte gibt.
Helmut Ullrich, Neue Zeit, 19.11.1961
Bobrowskis erster Lyrikband Sarmatische Zeit entwarf Leben und Landschaft einer fernen, uns nichtvertrauten und nahezu unbekannten Gegend. Die Jura, das Holzhaus über der Wilia, die taurische Straße, dieses ganze Sarmatien lag wie hinter einem großen Dunkel, das wir nicht zu durchdringen vermochten. Wir sagten: versunkene Zeit, und wunderten uns gleichzeitig, wie nah uns manches rückte, weil es so deutlich beschrieben war, daß uns seine Anwesenheit bestürzte, daß Bild und Zeilen unverrückbar stehenblieben und wir unsere Vorstellung von diesem exotischen östlichen Land plötzlich mit diesen breit dahinströmenden Versen verbanden.
Wir spürten allmählich den großen Entwurf, der dahinter sichtbar wurde; und wenn man heute diesen Band zur Hand nimmt fällt es einem wie Schuppen von den Augen, nähert man sich doch mit dem Autor gleichzeitig seiner Welt, keinem Orplidraum, sondern realer vergangener Zeit, verlorengegangen und auf andere Weise wiedergefunden…
Bobrowski ging bis zu seinen Quellen. Sie waren dem an reportagehafte Verse gewöhnten Leser nahezu unsichtbar. Und es ist wohl auch so, daß erst die Prosa einige Linien dieser Poesie deutlicher hervortreten ließ, zum Beispiel dieses Zurück in eine längst vergangene literarische Epoche, die noch die Möglichkeil zeigte, den Gefahren beginnender nationalistischer Antagonismen zu begegnen.
Nicht zufällig sieht Bobrowski in dem Land seiner Herkunft eine große Tradition, die durch Namen wie Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Immanuel Kant bezeichnet ist, die in Königsberg und Riga lebten. Es Ist ein Weg zur Volkspoesie, zu den alten deutschen, litauischen und lettischen Liedern, zur kräftig konturierten Sprache, die nach Hamann „Originalgedanke, Leben der Dichtung ist wertvoller als alle künstliche Nachahmung“.
Anknüpfungspunkte fanden sich bei Herder und seinen Stimmen der Völker in Liedern, die noch von der Gleichberechtigung aller Nationen an der Weltkultur ausgehen, bei Herder, der in einem Kapitel der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ von „den slawischen Völkern und ihrem großen Anteil an dieser Kultur“ spricht.
Eine eben in Prag beendete Konferenz über die Prager-deutsche Literatur hat darauf verwiesen, wie sich, im Gegensatz zu dieser Auffassung Herders, später immer prononcierter die Haltung Hegels durchsetzte, die von dem Anspruch der großen Nationen ausgeht, auch kulturell zu dominieren, und die kleineren Nationen und ihre Stimme eliminiert Bobrowskis Dichtung, scheint mir, hat auf sehr eigene Weise unsere Realismus-Auffassung erweitert, sie ist in einem tieferen Sinne realistischer als manche gutgemeinten Versöhnungsgesten in manchen Stücken unserer Literatur. Georg Maurer hat in einem Aufsatz über das, Was Lyrik vermag, bemerkt, daß eine Position als Negation der Negation noch nicht Wesenhaftigkeit dieser Position ist. „Gesundheit erschöpft sich nicht darin, daß sie dauernd ruft: ich bin nicht krank… selbst wenn sie immer beteuert: ich bin gesund. Nur im Wirken ist sie wirklich.“
Der Dichter wirkt nicht durch Meinungen, nur durch Dichtung. Vielleicht liegt hier ein Ansatz zu erkennen, warum Bobrowski zehn Jahre zögerte, um sein Gedicht zu schreiben, um zu wissen, was sein Beitrag sein konnte. Damit ist nichts gegen eine schnell reagierende realistische Schreibweise gesagt. Aber damit soll doch auch für das Gedicht gesprochen werden, das dazu aus anderen Quellen gespeist ist, Mythe und vergessene große Ueberlieferung einbezieht, nicht immer auf den „zweiten Blick“ (Bieler) zu erfassen ist, aber deshalb nicht weniger ausgeht auf Gegenwart indem sie Versunkenes evoziert.
Gerhard Wolf, Neue Zeit, 12.1.21965
Der Gedichtband Sarmatische Zeit geht in seiner Konzeption bis in das Jahr 1952 zurück, als Johannes Bobrowski mit den Gedichten „Städte sah ich im stäubenden / Wind“ und „Pruzzische Elegie“ seine eigene lyrische Diktion und Thematik fand. Das erste Gedicht nannte er den „Anfang eines ,Landschaften-Projekts‘“ (an Otto Baer 28.3.1952). Daraus entstand in den folgenden Jahren der Plan eines großen Gedichtbuchs als einer lyrischen Gesamtdarstellung der östlichen Welt, wie er in Bobrowskis Brief an Hans Ricke vom 9. Oktober 1956 beschrieben ist. Für diesen Plan fand Bobrowski das Stichwort Sarmatischer Divan als „Arbeitstitel, um die verschiedenen geographischen Bereiche innerhalb des (übergeordneten) Begriffs Sarmatien zusammenzuhalten“, wie er später rückblickend schrieb (an Frans Vandenbroeck 3.4.1964). Die früheste faßbare Formulierung steht in einem Brief an Peter Huchel vom 1. Juni 1956:
möcht ich im Lauf der Jahre eine Art Sarmatischen Divans zusammenbringen, worin das Land zwischen Weichsel und Ural mit seinen Völkern, mit Historie und Landschaft ungefähre Gestalt bekommt. Und eben die Rolle meines Volkes darin(Bobrowski-Huchel-Brief-Wechsel).
Als Bobrowski am 10. Mai 1960 bei der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart, auf die bindende Zusage der Publikation des ersten Gedichtbandes gedrängt hatte, begründete er dies am 18. Mai ausführlich:
Es handelte sich für mich nicht um die rechtliche Seite sondern darum, daß ich bei mir selber mit meiner ,sarmatischen Konzeption‘ in Unordnung komme. Ich möchte gern wissen, was ich von den Gedichten – es sind ja noch reichlich Dinge da, die nicht in der Sammlung stehen, – sozusagen beiseite legen kann, weil sie in dem Band stehen werden. Ich kann, weil mir alles über den Kopf wächst, nicht weiter arbeiten, wenn ich immer den ganzen Komplex vor Augen habe. Ich muß da wohl etwas erklären.
Ich hatte vor, unter dem Stichwort ,Sarmatischer Divan‘ eine Art Zyklus von hundert oder noch mehr Gedichten zusammen zu bringen, der einmal die Ostvölker – Polen, Russen, Letten, Litauer, Kuren, Pruzzen usw. – nach Geschichte, Lebensart etc. vorstellen und außerdem die unglückliche Geschichte der Stellung unseres Volkes zu ihnen sichtbar machen sollte. Daß dabei die Juden eine besondere Berüchsichtigung erfahren mußten, ist selbstverständlich. Auch, daß sich das Historische – als eine Kategorie, die mir nicht sehr liegt, immer in den Vordergrund drängte. Das kommt in der Auswahl, die Ihnen vorliegt, nicht sehr stark zum Ausdruck, ist aber so.
Als Anordungsschema ist der ,Divan‘ freilich nicht durchzuhalten. Ich schaffe es nicht; Dank würde ich mir außerdem kaum damit verdienen. Bei allen Beteiligten nicht. Aber natürlich komme ich von der ursprünglichen Konzeption nicht los, wenn nicht wenigstens das, was ich guten Gewissens vorlegen zu können glaube, nicht da ist.
Der enzyklopädische Plan war vermutlich schon im März 1958 aufgegeben, als Bobrowski das Manuskript einer Gedichtsammlung, von der Näheres nicht bekannt ist, die aber Die Sarmatische Ebene hieß, dem Berliner Verlag Rütten & Loening anbot, der jedoch (aus offensichtlich thematisch-politischen Gründen) keine Möglichkeit sah, die Gedichte in sein Verlagsprogramm aufzunehmen. Ein Jahr später erklärte Bobrowski, daß ihm „inzwischen eine ,lyrische Aufarbeitung‘ des Themas unmöglich scheine; es bleibe bei gelegentlichen Hervorbringungen, die von der Erinnerung genährt sind, von der unlösbaren Verwurzelung in einer Landschaft, die mit allem Recht verloren ist“. Nach einer vergeblichen Anfrage beim S. Fischer Verlag Frankfurt a.M. kam es zur Verbindung mit V.O. Stomps, dem Leiter der Eremiten-Presse in Stierstadt im Taunus, der im Juni 1959 den Druck eines kleinen Gedichtbandes in Aussicht stellte. Als Stomps im November noch keinen verbindlichen Termin nennen konnte, forderte Bobrowski das zwanzig Gedichte umfassende Manuskript zurück; es trug schon den Titel Sarmatische Zeit. Da es Stomps aber vorerst nicht zurückschickte, stellte Bobrowski ein neues Manuskript von fünfzig Gedichten zusammen, das „abrufbereit auf Eis“ lag (an Ad den Besten 31.12.1959). Anfang Februar 1960 vermittelte Christoph Meckel ein Manuskript an seinen Münchener Verleger Heinrich Ellermann, der es aus Unbehagen gegenüber der sarmatischen Thematik jedoch ablehnte und stattdessen einen Band nur mit Dichterbildnissen vorschlug. Darauf konnte sich Bobrowski nicht einlassen. Ein umgestelltes und um zehn Gedichte vermehrtes Manuskript gelangte über Christoph Meckel und Dr. Joachim Moras vom Stuttgarter Merkur und Jahresring Mitte April in die Hände der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. Am 19. April lieferte Bobrowski die von Moras vorgeschlagenen Anmerkungen zu Orts- und Personennamen nach. Am 7. Juni 1960 wurde der Verlagsvertrag unterzeichnet, allerdings erst nach vorheriger Herausnahme der „Pruzzischen Elegie“ auf Einwände des Lektorats (Felix Berner) gegen den Gebrauch des seiner Auffassung nach entwerteten Begriffs ,Volk‘ im Mittelteil der Elegie. Dafür schickte Bobrowski am 10. Mai noch die Gedichte „Gestorbene Sprache“ und „Die Günderrode“. Die von Moras vorgeschlagene „Einführung von berufener Seite“, die dieser auf Bitten Bobrowskis dann selber schreiben wollte (er hatte zunächst an Peter Huchel gedacht), kam durch Moras’ tödliche Erkrankung im November nicht zustande. Im Februar 1961 erschien der Band in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart in einer Auflage von 3.000 Exemplaren, mit einem Holzschnitt von Bobrowskis Freund Günter Bruno Fuchs auf dem Einbanddeckel. Am 14. September 1960 hatte der Union-Verlag Berlin, in dem Bobrowski seit einem Jahr als Lektor arbeitete, den Band gleichfallls in Vertrag nehmen können, da Bobrowski in Stuttgart die Rechte für die DDR einbehalten hatte. Hier erschien der Band Ende Oktober 1961 in ebenfalls 3.000 Exemplaren, jedoch einschließlich der „Pruzzischen Elegie“, die Peter Huchel schon 1955 in Sinn und Form gedruckt hatte.
Von dem Gedichtband ist weder eine Handschrift noch ein Typoskript, d.h. auch keine Druckvorlage, sondern im Nachlaß nur ein Korrekturbogenexemplar der Stuttgarter Ausgabe mit wenigen Korrekturen erhalten. Auf zwei Zetteln ist jedoch eine Inhaltsübersicht mit fünfzig Gedichttiteln überliefert, worunter auch Gedichte sind, die später erst im zweiten und dritten Gedichtband Aufnahme fanden oder völlig beiseite gelegt wurden. Das war offenbar der Inhalt des Bandmanuskripts, das Bobrowski im Dezember 1959 „abrufbereit“ liegen hatte. Das jüngste Gedicht ist das zweite „Memel“-Gedicht vom 16. Juni 1959, das zweitjüngste „Traum, jählings“ vom 11. Mai 1959. Streichungen Bobrowskis werden im folgenden Abdruck in eckiger Klammer vermerkt (gestr.); ebenso sind Zusätze des Herausgebers gekennzeichnet.
Anruf
I [gestr.]
Der Singschwan
Die Sarmatische Ebene
Traum, jählings [später Stromgedicht]
Steppe [gestr.]
II [gestr.]
Der Berg [noch die Ode von 1944]
Pruzzische Elegie
Länder weiß ich [2. Fassung von Dorf von 1956]
Kindheit
Nymphe
Der jüdische Händler A. S.
Die Spur im Sand
Wegzeit bei P.
Am Strom
Die alte Heerstraße
Žemaite
Die Frauen der Nehrungsfischer
Fischerhafen
Stromland
Die Memel
Winterlicht
Ankündigung
Die Sommernacht [vielleicht noch die Ode von 1948]
Dorf [von 1955]
Der litauische Brunnen
Die Jura
Die Daubas
Nacht der letzten Gehöfte
Nachtweg
Die Furt
Winter
Litauische Lieder
Wagenfahrt
Das Holzhaus über der Wilia
Kaunas 1941
Wilna
Die Düna
Lettische Lieder
1942 [= Städte sah ich im stäubenden / Wind]
Räuberliedchen
Orthodoxes Kloster
Die Heimat des Malers Chagall
Der Muschelbläser
Französisches Dorf
Villon
Atelier P. Gauguin
An Ulla Winblad
Die Günderode [sic]
Ode auf Thomas Chatterton
Bartók
Die Mehrzahl der Titel ist unterstrichen. Nicht unterstrichen sind:
„Stromland“, „Die Memel“, „Ankündigung“, „Die Sommernacht“, „Dorf“, „Die Furt“, „Lettische Lieder“, „1942“, „Räuberliedchen“, „Atelier P. Gauguin“, „An Ulla Winblad“, „Die Günderode“, „Ode auf Thomas Chatterton“, „Bartók“. Diese Gedichte waren zum Zeitpunkt der Unterstreichungen offenbar nicht oder nicht mehr für den ersten Gedichtband vorgesehen.
Handschriften zu einzelnen Gedichten sind nur in wenigen Fällen innerhalb einer früh beiseitegelegten Ringbuchsammlung erhalten, die 53 Gedichte aus den Jahren 1952–1956 enthält, daneben drei Einzelhandschriften.
(…)
Eberhard Haufe, aus Johannes Bobrowski: Erläuterungen der Gedichte und der Gedichte aus dem Nachlass, Gesammelte Werke Band 5, Deutsche Verlags-Anstalt, 1998
Überblickt man die deutschsprachige Dichtung seit 1945, so nimmt sich das lyrische Werk Johannes Bobrowskis darin zunehmend wie ein erratischer Block aus. Wo fände sich ein zweites Mal ein solch geschlossener und zumindest der Intention nach so großer, in Raum und Zeit so weit ausgreifender lyrischer Weltentwurf wie bei diesem Dichter? Für sein schier enzyklopädisches Vorhaben einer lyrischen Gesamtdarstellung der östlichen Welt fand Bobrowski in den fünfziger Jahren den anspruchsvollen Arbeitstitel „Sarmatischer Divan“, Seine bisher früheste faßbare Formulierung steht in einem Brief an Peter Huchel vom 1. Juni 1956:
… möcht ich im Lauf der Jahre eine Art Sarmatischen Divans zusammen bringen, worin das Land zwischen Weichsel und Ural mit seinen Völkern, mit Historie und Landschaft ungefähre Gestalt bekommt. Und eben die Rolle meines Volkes darin. Ich hab also nicht viel Angst, nur übliches „Fürchten und Zittern“, ohne das keine Zeile zusammenkommmt.
Daß mit „Sarmatischer Divan“ – im Gegensatz zum „Westöstlichen“ des Weimarer „Großschriftstellers“ – kein Buch-, sondern nur ein Arbeitstitel gemeint war, hat Bobrowski 1964 brieflich gegenüber dem belgischen Germanisten Frans Vandenbroeck ausdrücklich betont. Dieser Arbeitstitel sollte, wie er schrieb, „die verschiedenen geographischen Bereiche innerhalb des (übergeordneten) Begriffs Sarmatien zusammenhalten“. Unmittelbar dazu gehört in Bobrowskis Nachlaß eine Landkarte von Osteuropa. Es ist, als herausgelöstes Blatt, die Karte Nr. 75 „Europäisches Rußland“ aus Band 16 des Großen Brockhaus von 1933. Auf ihr trug Bobrowski die verschiedenen geographischen Bereiche seiner sarmatischen Dichtung mit Tintenstrichen als fünf Zonen ein: als Zone 1 das ehemalige Ost- und Westpreußen, das Land der Kindheit und der Herkunft seiner Familie, als Zone 2 Litauen, Lettland, Estland, dazu die südliche Hälfte von Finnland (wovon Litauer und Letten zusammen mit den untergegangenen Altpreußen oder Pruzzen die baltische, Finnen und Esten, mit Liven, Kareliern u.a., die ostseefinnische Völker- und Sprachengruppe bilden), als Zone 3 (die Karte ist eine grographische, keine politische) Rußland bis nach Sibirien und bis zum Schwarzen Meer, als Zone 4 Polen und als Zone 5, am linken Rand der Karte, den Ostseeraum bis zur Südspitze Schwedens. Das war mehr als das eigentliche Osteuropa, das in der Spätantike den Namen „Sarmatia“ trug. Geht man von den Entstehungsdaten der Texte Bobrowskis zu den einzelnen Zonen aus, so ist diese Kartenaufteilung kaum vor 1960, auf alle Fälle aber vor 1964 erfolgt. Polnisches taucht in Bobrowskis Versen erst 1960 auf; Stockholm, das er 1964 besuchte – danach entstand das Gedicht „Humlegård“ – ist noch in keine der Zonen einbezogen. Nach Finnland kam Bobrowski zwar auch erst 1964, aber Finnisches enthielt schon das Gedicht „Vogelstraßen“ von 1957, ein Jahr darauf entstand das Gedicht „Aleksis Kivi“.
Der Plan eines „Sarmatischen Divan“, wie er von Bobrowski zuerst 1956 formuliert wird, geht im Ansatz weiter zurück. Als im März 1952 das erste Gedicht in der eigenen Sprache entstand („Städte sah ich im stäubenden / Wind“), erklärte der Autor brieflich dazu, es sei „eine östliche Landschaft von 1942“ und stelle den „Anfang eines ,Landschaften‘-Projekts dar. Das scheint schon auf die „verschiedenen geographischen Bereiche“ zu deuten, die später durch den ,Divan‘-Begriff im Oberbegriff „Sarmatien“ zusammengehalten werden. Gleich dieses erste sarmatische Gedicht ist von schier visionärer Weiträumigkeit, Landschaft darin also großräumig verstanden. Wenn immer Bobrowski später seine lyrische Konzeption umschrieb oder erläuterte, fiel auch das Wort „Landschaft“ in diesem Sinne. In der vielzitierten Notiz für Hans Benders Anthologie Widerspiel vom Juli 1961 heißt es:
Zu schreiben habe ich begonnen am Ilmensee 1941, über russische Landschaft, aber als Fremder, als Deutscher. Daraus ist ein Thema geworden, ungefähr: die Deutschen und der europäische Osten.
Der Versuch von 1941, mit Hilfe der Odenform die russische Landschaft „in den Griff zu bekommmen, außerhalb der einfachen Beschreibung“, wie Bobrowski es 1965 rückblickend nannte, war freilich noch kaum gelungen. A u c h deshalb konnten, mußten die alten Themen aus den Kriegsjahren später nochmals aufgegriffen werden, nun verknüpft mit der höheren künstlerischen und mit jener moralisch-politischen Intention, die schon Bobrowski selbst so oft und allein betont hat, daß man den Eindruck hat, dies sei a u c h aus der Absicht geschehen, sich damit den nötigen Freiraum für eine Dichtung zu schaffen, deren Eigentümlichkeit, Schwierigkeit, ,Dunkelheit‘ völlig konträr stand zu den in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in der DDR herrschenden oder herrschend gemachten poetischen Tendenzen und Praktiken. Doch sicher war es ebenso die Rechtfertigung, die immer neue und neu nötige, seiner ,Poeterei‘ vor sich selbst. Die ausführlichste Darlegung seiner sarmatisch-moralischen Intention steht in dem Brief an Hans Ricke vom 9. Oktober 1956, vier Monate nach der zitierten Kurzfassung im Brief an Peter Huchel. Da der Brief in der Einleitung der Gesamtausgabe ausführlich zitiert ist, hier nur die wichtigsten Sätze daraus:
Ich will… in einem großangelegten (wenigstens dem Umfang nach) Gedichtbuch gegenüberstellen: Russen, Polen, Aisten samt Pruzzen, Kuren, Litauern, Juden – meinen Deutschen. Dazu muß alles herhalten: Landschaft, Lebensart, Vorstellungsweise, Lieder, Märchen, Sagen, Mythologisches, Geschichte, die großen Repräsentanten in Kunst und Dichtung und Historie. Es muß aber sichtbar werden am meisten: die Rolle, die mein Volk dort bei den Völkern gespielt hat. Und so wird die Auseinandersetzung mit der jüngsten Zeit, für mich: der Krieg der Nazis, einen wesentlichen und sicher den gewichtigsten Teil ausmachen. So werde ich in den Gedichten stehen, uniformiert und durchaus kenntlich.
Es wäre eine reizvolle Aufgabe, im einzelnen zu verfolgen, wie diese vielgestaltige und breitgefächerte sarmatisch-moralische Bilderwelt sich in Bobrowskis Gedichten entfaltete, freilich auch, wie der Großplan von 1956 schon nach wenigen Jahren reduziert wurde, weil er ebenso über die Kräfte des Dichters ging, wie er weder in West noch Ost auf ein nachhaltiges Echo rechnen konnte. Hier soll ein anderer Weg begangen werden. Unter dem Aspekt des „Sarmatischen Divan“ soll nach der Entstehung und genauen Bedeutung der beiden Gedichtbandtitel Sarmatische Zeit und Schattenland Ströme gefragt werden, die zweifellos zu den eindrucksvollsten Titeln innerhalb der damaligen deutschen Lyrik zählen. Das philologische Detail wird, so hoffen wir, ins Grundsätzliche führen.
Der sarmatische Name im Titel des ersten Bandes von 1961 mußte in der damaligen Literaturlandschaft der DDR und der Bundesrepublik – der Band erschien zuerst in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart – gleichermaßen fremd, wenn nicht gar befremdend und exotisch wirken. Als Bobrowski im November 1960 auf der Aschaffenburger Tagung der Gruppe 47 Gedichte daraus vortrug, erklärte er in einer Vorbemerkung (laut seiner Notiz auf dem Einladungsbrief von H.W. Richter):
Unter Sarmatien verstehe ich nach Ptolemäus das Gebiet zwischen Schwarzem Meer und Ostsee, zwischen Weichsel und der Linie Don-Mittlere Wolga. Ein Gebiet aus dem ich stamme und in dem ich herumgekommen bin.
Diesen Namen der ptolemäischen Weltkarte, der sich durch die gelehrte lateinische Tradition über die Jahrhunderte hinweg erhielt, griff Bobrowski offenbar aus einem mehr praktischen und einem mehr poetisch-historischen Grund auf. Sarmatien bot sich als Ober- und Sammelbegriff für die einzelnen geographisch-ethnographischen Bereiche Osteuropas an, wie er sie in Kindheit und Jugend, im zweiten Weltkrieg und in den langen Gefangenschaftsjahren kennengelernt hatte. Zugleich aber war es ein alter, in der neueren Geschichte und Geographie fast vergessener, damit aber nie mißbrauchter Name, der die so benannte Welt jeder aktuellen Mißdeutung entzog. Mit seinem Alter wies er in die Tiefe der Geschichte hinab, wies er die sarmatische Landschaft als Geschichtslandschaft aus. Kein zweites Epitheton kehrt in den Gedichten der Sarmatischen Zeit so oft wieder wie das kleine Wort „alt“. Als poetische Realität ist die sarmatische Landschaft darin immer auch eine alte Welt.
Den sarmatischen Namen kannte Bobrowski zweifellos aus dem geographischen Unterricht des altstadt-kneiphöfischen Gymnasiums in Königsberg, noch sicherer aber aus dem – soweit ich sehen kann – einzigen damals noch einigermaßen gängigen Wortgebrauch. Eben diesen nahm er mit dem ersten der beiden Gedichte auf, in denen der sarmatische Name begegnet, mit dem Gedicht „Die Sarmatische Ebene“ von 1956. Schon die Großschreibung des Namens im Gedichttitel weist auf eine stehende Bezeichnung. In Meyers Lexikon von 1929 erscheint unter dem Stichwort SARMATIA tatsächlich noch, freilich nur hier, die „Sarmatische Tiefebene“. In geographischen Werken unseres Jahrhunderts fehlt sie durchweg und findet sich rückwärts erst tief im 19. Jahrhundert. Gleichwohl heißt es in Hermann Sudermanns Bilderbuch aus meiner Jugend 1922 noch wie ganz selbstverständlich von der litauischen Heimat:
Aus ihren Heiden und Mooren scheint schon das Antlitz der Sarmatischen Ebene.
An diesen offenbar einzigen noch gängigen Wortgebrauch, wenn nicht gar an diese Formulierung des von Bobrowski hochgeschätzten Sudermann, knüpft der Gedichttitel „Die Sarmatische Ebene“ an. Das Gedicht gehört zu seinen zentralen lyrischen Texten. Nicht zufällig hat es 1956 die ausführliche briefliche Darlegung der sarmatisch-moralischen Konzeption ausgelöst.
DIE SARMATISCHE EBENE
Seele
voll Dunkel, spät –
der Tag mit geöffneten
Pulsen, Bläue –
die Ebene singt.
Wer,
ihr wogendes Lied
spricht es nach, an die Küste
gebannt, ihr Lied:
Meer, nach den Stürmen,
ihr Lied – –
Aber
sie hören dich ja,
lauschen hinaus, die Städte,
weiß und von altem Getön
leise, an Ufern. Deine
Lüfte, ein schwerer Geruch,
wie Sand
auf sie zu.
Und
die Dörfer sind dein.
Dir am Grunde grünend,
mit Wegen,
schmal, zerstoßenes Glas
aus Tränen, an die Brandstatt
gelegt deiner Sommer:
die Aschenspur,
da das Vieh geht
weich, vor dem Dunkel,
atmend. Und ein Kind
folgt ihm
pfeifend, es ruft
von den Zäunen
die Greisin ihm nach.
– – –
Ebene,
riesiger Schlaf,
riesig von Träumen, dein Himmel
weit, ein Glockentor.
in der Wölbung der Lerchen,
hoch –
Ströme an deinen Hüften
hin, die feuchten
Schatten der Wälder, unzählig
das helle Gefild,
da die Völker geschritten
auf Straßen der Vögel
im frühen
Jahr ihre endlose Zeit,
die du bewahrst
aus Dunkel. Ich seh dich:
die schwere Schönheit
des ungesichtigen Tonhaupts
– Ischtar oder anderen Namens –,
gefunden im Schlamm.
Wie viele Gedichte seit 1952 nimmt auch dieses die Thematik der Oden der Kriegsjahre wieder auf. Damals, 1944 in Kurland, hatte Bobrowski nach den Oden auf einzelne russische Städte und Landschaften den Ehrgeiz gehabt, wie er an Ina Seidel schrieb, „aus den vielen und vielfältigen Einzelbildern das eine Bild, gleichsam das Prinzip etwa des Stroms, der Ebene usw. zu fügen“. Das war in den drei Oden „Der Berg“, „Der Strom“ und „Die Ebene“ in verschiedenen Graden mißlungen, in der letzten am schlimmsten. Woran 1944 die redselige alkäische Ode scheiterte, das leistete zwölf Jahre später „Die Sarmatische Ebene“ in nun freirhythmischen Versen exemplarisch und nicht nur dadurch, daß anstelle der Heimatlandschaft der sarmatische Großraum trat.
Weit mehr als von der Intention der motivgleichen kurländischen Ode wird die zentrale Bedeutung des Gedichts allerdings von der Tatsache erhellt, daß später eine Zeitlang der erste Gedichtband so heißen sollte. Ein Blatt im Nachlaß, dessen Rückseite im Mai/Juni 1959 für den später nicht ausgeführten Entwurf einer Mendelssohn-Bartholdy-Erzählung diente, trägt mit Maschine geschrieben den Titel „Die Sarmatische Ebene / Gedichte“. Darüber steht oben links der Verfassername mit voller Adresse. Das ist kaum anders zu verstehen, als daß die damit bezeichnete Gedichtsammlung einem offiziellen Adressaten zugedacht war. Vor Mai 1959 hat Bobrowski nur einmal versucht, eine Gedichtsammlung zum Druck zu bringen, nämlich im März 1958, auf Zuspruch Erich Arendts, bei dem Berliner Verlag Rütten & Loening, von dem er das Manuskript drei Monate später mit der faden Erklärung zurückerhielt, man sehe keine Möglichkeit, die Gedichte in das Verlagsprogramm aufzunehmen. In einem Brief an Peter Huchel nannte Bobrowski die Sammlung ein „ziemlich wüstes Bündel in allen Farben von fast hundert Seiten Umfang“. Mehr wissen wir nicht davon, nur jetzt also, daß der rasch wieder aufgelösten Sammlung das Gedicht „Die Sarmatische Ebene“ offenbar als Titelgedicht diente. Noch die Berliner Ausgabe des ersten Gedichtbandes sollte anfangs ebenso heißen, wie eine Notiz Bobrowskis auf einem Brief von Reiner Kunze vom Oktober 1960 belegt.
Nicht von ungefähr steht der sarmatische Name nur in diesem Gedicht von 1956 und in dem „Stromgedicht“ von 1959. Ebene und Strom sind die beiden Grundfiguren der sarmatischen Landschaft, von ihnen wird sie unübersehbar geprägt. Es waren die Ebenen und Ströme Rußlands, neben den zerstörten alten Städten, von denen Bobrowskis Lyrik im Krieg und zum zweiten Mal seit 1952 ausging. Erst von ihnen her kam beide Male auch die ostpreußisch-litauische Heimat in den Blick. Sie blieben die elementare poetische Faszination des Dichters. Gleich in dem ersten sarmatischen Gedicht von 1952 heißt es von den russischen Städten:
Und die Ebene geht
durch ihre Gassen, trägt die Gärten hinaus …
Nachts aber ist’s, als führen
sie breite Ströme hinunter
Schon hier tritt die Ebene als handelnde in großer Lebendigkeit auf, d.h. sie ist weniger die geographische als eine Erscheinung von mythischer Natur.
Genau als solche präsentiert sich „Die Sarmatische Ebene“ von 1956. Gleich eingangs heißt es schwergewichtig: „die Ebene singt“ „ihr wogendes Lied“, nachgesprochen von einem, der an die Küste gebannt ist („durch einen Zauberspruch“, wie Bobrowski später einem englischen Übersetzer erklärte). Ihr Lied hören die Städte, die hinauslauschen. „Und / die Dörfer sind dein.“ Wenn es in der zweiten Gedichthälfte gar heißt „Ströme an deinen Hüften / hin“, so gewinnt die Ebene momentweise vollkommen mythisch-personale Gestalt. Wenn sie in mythisierender Anrede als „riesiger Schlaf, / riesig von Träumen“ bezeichnet wird, so steht das in bildlicher Korrespondenz mit dem „Dunkel“, das bedeutsam im Anfang, in der Mitte und im Schluß des Gedichts figuriert. „Seele, / voll Dunkel, spät“ – das umschreibt eingangs den Gesang der Ebene. In der Mitte das „Dunkel“, vor dem das Vieh geht, ist das der hereinbrechenden Nacht; die kleine ganz reale und doch archetypisch gesehene Szene lenkt vom Gesang der Ebene in das tatsächliche Leben ihrer Menschen. Desto wirkungsvoller dann das Pathos der zweiten Gedichthälfte, in dem die endlose Geschichtszeit der Sarmatischen Ebene beschworen wird. Diese „endlose Zeit“ bewahrt die Ebene „aus Dunkel“, ein Bild, das sich rational nicht öffnet, aber auf das „Dunkel“ des Gedichteingangs zurückweist, das – mit dem kleinen Wort „spät“ gleichgeordnet – das Lied der Ebene umschrieb. Offenbar ist eine späte Weltstunde gemeint, in der die endlosen Geschichtszeiten im Lied wie im Gedächtnis der Sarmatischen Ebene nicht anders mehr als dunkel gegenwärtig sind oder zu wirken vermögen.
Noch das letzte, zunächst völlig befremdende Bild des Gedichts deutet in die gleiche Richtung. Was hat „Ischtar“, die babylonisch-sumerische Liebesgöttin, deren Hauptkultstätte in Uruk lag, mit der Sarmatischen Ebene zu tun? Von dem „Tonhaupt“, mit dessen schwerer Schönheit diejenige der Ebene gleichgesetzt wird, hat Bobrowski gegenüber dem belgischen Germanisten Vandenbroeck gesagt, es sei tatsächlich gefunden worden, mehr freilich nicht. Höchstwahrscheinlich hatte er im Vorderasiatischen Museum in Berlin den lebensgroßen Kopf gesehen, der die Bezeichnung „Frauenkopf aus Uruk – Gipsabguß – 2800/2700 v.Chr.“ trägt. Oder er sah die Abbildung des Bagdader Originals in Herbert Kühns Fischer-Band Der Aufstieg der Menschheit von 1955. Der Name Uruk legte die Vermutung „Ischtar oder anderen Namens“ nahe. Dieser Kopf, „die älteste künstlerische Großplastik der Erde“ (H. Kühn), hat leere Augenhöhlen, in denen einmal Augäpfel aus anderem Material saßen. Hierauf weist sehr präzis Bobrowskis Beiwort „ungesichtig“ im alten Wortsinn von „ohne Sehvermögen, ohne Augen“ hin. Augenlos ,blickend‘ – in dem Gedicht „Erzählung“ heißt es „augenlos erblicke ich dich“ – wie dieser bald fünftausendjährige babylonische Frauenkopf in seiner schweren Schönheit, so erscheint dem Dichter das Antlitz der Sarmatischen Ebene. Auch das deutet auf eine späte Weltstunde, in der die vergangenen Geschichtszeiten der Ebene nur noch wie „riesiger Schlaf, / riesig von Träumen“ gegenwärtig sind. In dieser späten Stunde rücken die Bilder der versunkenen Mythen zusammen und erhellen sich gegenseitig.
Weit zurück in die Geschichte weist vier Jahre später in knappester naturmetaphorischer Rede ebenso das kleine Gedicht „Ebene“.
EBENE
See.
Der See.
Versunken
die Ufer. Unter der Wolke
der Kranich. Weiß, aufleuchtend
der Hirtenvölker
Jahrtausende. Mit dem Wind
kam ich herauf den Berg.
Hier werd ich leben. Ein Jäger
war ich, einfing mich
aber das Gras.
Lehr mich reden, Gras,
lehr mich tot sein und hören,
lange, und reden, Stein,
lehr du mich bleiben, Wasser,
frag mir, und Wind, nicht nach.
Der hier spricht, der ein Jäger war, „Der Hirtenvölker / Jahrtausende“ hinter sich, der „hier“ das Bleiben erst lernt, – er kann nur verstanden werden als der Mensch im Übergang von der Hirten-, Jäger- und Fischerexistenz zum Ackerbau, vom Nomadentum zur Seßhaftigkeit. Dieser Prozeß begann in den großen Ebenen im Neolithikum. Aber noch im letzten vorchristlichen Jahrhundert waren die Sarmaten ein Nomadenvolk. Erst mit den Ostslawen setzte sich seit dem 6. Jahrhundert in der Sarmatischen Ebene die Seßhaftigkeit durch. Wenn Bobrowski den Jahrtausende zurückliegenden Beginn dieses Prozesses als Ich-Rede im Präsens vorführt, so ist das im wörtlichen Sinn als der Heraufruf dieser frühen Weltstunde in die poetische Gegenwart zu verstehen, in dem Sinn, wie es 1959 in einem Brief an Peter Jokostra heißt, der lyrische Vers müsse „wahrscheinlich wieder mehr Zauberspruch, Beschwörungsformel“ werden. Hier also Beschwörung des Anfangs einer Weltzeit, deren Ende wir heute erleben. Das steht nicht mehr im Gedicht, wohl aber hinter ihm bzw. im Bewußtsein des Lesers der Verse. In den Interviews hat Bobrowski davon nie, dagegen ein- oder mehrere Male vor Lesungen seiner Gedichte gesprochen. Das belegt die auf einem undatierten Brief Klaus Wagenbachs erhaltene Bleistiftnotiz Bobrowskis, vermutlich vom Januar 1963:
3 Gesichtspunkte
1) Liebe zu den Völkern (Eurasien = Sarmatien) durch Kindheitserinnerungen gestützt, spätere Erfahrungen → weiter:
2) Verhältnis Deutsche / Ostvölker
als unglücklich + schuldhaft erfahren, daher Verständnis → Abbau der Irrtümer, Aversionen
3) umfassender:
Die im Neolithikum begonnene Seßhaftwerdung der Jäger, Fischer, Sammler, die Inbesitznahme des Bodens, die Bindung an ihn hat bis heute im wesentlichen angedauert. Dieses Zeitalter geht zuende, mit ihm also Vorstellungen wie Heimat, Heimweh, politisch: Nationalstaaten, Nationalbewußtsein, die zu Provinzialismen werden.
Die Kontinente rücken zusammen, Technik ermöglicht ein Denken in Großräumen
Mit diesem Bewußtsein konzipiere ich eine Überschau des unwiderruflich Vergehenden für einen Raum, in dem diese Bindungen an den Lebensraum besonderes tief verstanden worden sind: aber als Reisender, wenn Sie wollen, Wanderer, ein nicht mehr Dazugehöriger, als einer, der kommt und weggeht
noch einmal gültig darstellen, ehe es ganz vergangen ist
In einem Brief an Alfred Kelletat vom gleichen Monat steht verkürzt dasselbe:
lch mache bloß so ein Schlußpanorama für die zu Ende gehende Epoche der Seßhaftigkeit, welche im Neolithikum bekanntlich anfing, damit die Leute wissen, wie das war.
Die Sarmatische Ebene erfahren als Raum bewegter Völkergeschichte über Jahrtausende hinweg – kein Wunder, daß nach ihr einmal der erste Gedichtband seinen Titel erhalten sollte. Kein Wunder aber auch, daß aus dem Buchtitel „Die Sarmatische Ebene“ bald die Sarmatische Zeit wurde. Schon die kleine Sammlung von zwanzig Gedichten, die V.O. Stomps im Herbst 1959 auf seiner Eremitenpressedrucken wollte – auch von ihr wissen wir nichts Näheres, da der Druck nicht zustandekam –, schon sie sollte Sarmatische Zeit heißen. Ebenso hieß dann 1960 von Anfang an der erste endgültige Gedichtband, wie ihn die Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart im April annahm. Welch umfassenden Sinn die Gedichte allesamt die sarmatische Landschaft als Geschichtslandschaft meinten, konnte der Gedichttitel „Die Sarmatische Ebene“ als Bandtitel nicht ahnen lassen, das leistete erst der Titel Sarmatische Zeit. Er zieht wahrhaft die Summe. Er meint die gesamte Geschichtszeit Osteuropas ebenso wie jene Zeit, die der Dichter dort selbst gelebt hatte, in Jugend-, Kriegs- und Gefangenschaftsjahren. Insofern die Sarmaten ein Nomadenvolk waren, das mit der Völkerwanderung aus der Geschichte verschwand, deutet die Sarmatische Zeit als Zeit des Dichters zugleich auf die düstere Bewegtheit seines persönlichen Lebensganges, der ihn in den Kriegs- und Gefangenschaftsjahren westwärts bis an den Ärmelkanal, ostwärts bis jenseits der Wolga und für immer aus der Heimat geführt hatte.
(…)
Zum erstenmal und zugleich nachhaltig wurde man auf Johannes Bobrowski aufmerksam als vor einem Jahr in einer Auswahl ostdeutscher Lyrik einige seiner Gedichte abgedruckt waren. Mitten im Gestrüpp getarnter politischer Gedichte und entleerter Naturpoeme stieß man plötzlich auf ein paar verinnerlichte Strophen von unverbrauchter sprachlicher Schönheit. Jetzt ist sein erster Band Sarmatische Zeit erschienen, der ein genaueres Urteil zuläßt. Es ist selten, daß ein lyrischer Debütant so gereift, so durchdacht, so überzeugend auftritt. Immherhin ist Bobrowski an die vierzig. Das mag manches erklären
…
Bobrowskis Verse bekommen ihren melancholischen Glanz, ihre stille Verlorenheit aus der Erinnerung an seine Kindheit: Es sind die Wälder Litauens, die alten Dörfer und Heerstraßen, die reißenden Flüsse und ein einsamen Seen; es sind die poetischen Gestalten seiner zärtlichen Sehnsucht: Villon, Góngora, Aleksis Kivi, Dylan Thomas, Jahnn, ungebärdige, freiheitliche, rastlose Geister.
Johannes Bobrowski ist eine einmalige Erscheinung in der deutschen Lyrik.
…
Dabei ist seine Sprache einfach, spröde und karg; sie ist zugleich schwer, erdhaft, lastend. Er setzt Worte wie Steine, Worte, die Abkürzungen von Sätzen sind. Er setzt die Elemente einer Wirklichkeit – der Leser aber erst schafft sie; er muß ergänzen, einspringen, muß der Fährte des Dichters nachgehen.
Nachts
tieräugig. Ein Strauch
bin ich. Ein Baum am Tag.
So beginnen seine litauischen Lieder. Ein Zyklus von Stichworten – und doch ein Gedicht. Mit Kargheit verfremdet, mit Verkürzung erneuert er. Volkslieder, Kinderreime erhalten poetischen Glanz:
Raute, mein Trauergift komm
leb ich so lieb ich
die grünen Finger spür ich…
Heißt es in „Trauer um Jahnn“. Das Gedicht endet mit einem gewaltigen Bild, das Jahnn in die Sphäre des Mythos beschwört:
Einst, die belustigten Götter
über den Tartarus
riefen mit schönen Stimmen:
Hängt ihn kopfunter
dann wächst ihm der Fels in den Mund.
Bobrowski erzählt die Legenden seiner Heimat, die Schicksale von Fischern, Bauern und jüdischen Händlern, er macht die tote Sprache der Pruzzen lebendig und singt die wilden und schmerzlichen Melodien der Düna, der Memel und Wilia nach; er wandert „in der Heimat des Malers Chagall“, „auf der taurischen Straße“. In „Feuer und Schnee“, Gedichttitel, die geographische Andeutungen geben. Mythos und Geschichte dieser östlichen Landschaft sind für den Autor ein Geschenk seiner Heimat, ohne Zweifel beziehen seine Verse daraus ein gut Teil ihrer Faszination.
Bobrowskis poetische Welt ist die sarmatische Ebene, die sarmatische Zeit, die Immerzeit, von der er in seinem letzten Gedicht sagt:
Dort
war ich. In alter Zeit.
Neues hat nie begonnen. Ich bin ein Mann
mit seinem Weibe ein Leib,
der sine Kinder aufzieht
für eine Zeit ohne Angst.
Der Handvoll wirklicher Dichter in unserer mittleren Generation gesellt sich mit Johannes Bobrowski eine neue unüberhörbare Stimme hinzu.
Horst Bienek, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.9.1961
Heinz Helmerking: „Sarmatische Zeit“
Neue Zürcher Zeitung, 12. 8. 1961
Wieland Schmied: Johannes Bobrowski: „Sarmatische Zeit“
Neue Deutsche Hefte, Heft 83, 1961
Manfred Bieler: „Sarmatische Zeit“
Neue Deutsche Literatur, Heft 9, 1962
Susanne Mittag: 1961. Johannes Bobrowski: „Sarmatische Zeit“
Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte, Band 18, 2011
Neben namhaften Autoren wie Ilse Aichinger und Heißenbüttel kamen auch diesmal wieder einige Debutanten zu Wort, von denen mehrere mit vielversprechenden Leistungen aufwarteten. Johannes Bobrowski las sieben unveröffentlichte Gedichte, die wiederum – Titel wie „Die Wolgastädte“, „Lettischer Herbst“, „Kalmus“ verdeutlichen es – Variationen sind über das große Thema seiner Lyrik: die Landschaft und die Menschen Sarmatiens, der weiten Ebene zwischen Ostsee und Schwarzem Meer.
Seine Lesung hinterließ, wie aus westlichen Pressestimmen hervorgeht, tiefen Eindruck und fand ungeteilte Zustimmung, die, nach dem Brauch der Gruppe, zuerst von den ihr angehörenden Kritikern formuliert wurde. Professor Dr. Walter Höllerer stellte besonders die Modernität dieser Lyrik heraus, die mit traditionellen Mitteln erreicht werde, und unterstrich die deutliche Zeitbezogenheit dieser Gedichte; Prof. Dr. Walter Jens betonte, daß für Bobrowskis Dichtung der Begriff Naturlyrik zu eng wäre, weil das Thema dieser Dichtung der Mensch sei, er hob die sprachliche und rhythmische Sicherheit der Verse hervor und sagte zusammenfassend, daß die Lyrik Johannes Bobrowskis nur mit den höchsten Maßstäben gemessen werden könne. Ähnlich äußerten sich Ilse Aichinger, Heinz von Cramer, Graß und andere Schriftsteller.
Die geheime Abstimmung über den Preisträger am folgenden Tage erbrachte denn auch eine starke Mehrheit von 43 Stimmen für Bobrowski; der aussichtsreichste Anwärter neben ihm, Peter Weiß, der bisher mit drei bei Suhrkamp verlegten Prosabänden hervorgetreten ist und auf der Tagung eine außerordentliche Talentprobe geboten hatte, konnte 30 Stimmen auf sich vereinigen. Bobrowski, der bei der Abstimmung nicht zugegen war, da er an diesem Nachmittag Hans Magnus Enzensberger in seinem Hause in Berlin-Friedrichshagen zu Gast hatte, sah sich kurz nach Bekanntwerden der Preisverleihung von Fotoreportern umringt, die ihn, seine Frau und seine drei Kinder für Zeitschriften wie Magnum und die amerikanische Life aufnahmen. Rundfunk- und Fernsehinterviews folgten am nächsten Tag bei dem Empfang, den der Hamburger Verleger H.M. Ledig-Rowohlt erschienenen Almanachs der Gruppe 47 gab. Anschließend signierte, umdrängt vom Publikum, zusammen mit rund 25 Schriftstellern der Gruppe Johannes Bobrowski den Almanach und seine beiden in der Deutschen VerlagsanstaltStuttgart veröffentlichten Gedichtbände Sarmatische Zeit und Schattenland Ströme.
An dieser Stelle unseres Gesprächs schaltete der Autor den Hinweis ein, daß der Union Verlag Berlin nach dem erstgenannten Band nun auch im kommenden Jahr den zweiten, Schattenland Ströme, herausbringen wird Er fügte hinzu, daß er seit einiger Zeit Prosa zu schreiben begonnen habe, vor allem kurze Erzählungen, doch sei er vorläufig noch nicht soweit, um einen Prosaband vorlegen zu können. – Nach den Erzählungen, die wir von ihm kennen, aus Sinn und Form, aus der Neuen Zeit oder den Manuskripten, dürfen wir auch auf diesem Gebiet von Bobrowski Wesentliches erwarten.
Gerhard Rostin, Neue Zeit, 2.1.1962
Im Sommer, abends, fliegt das Käuzchen die Straße entlang.
Johannes Bobrowski und seine Frau Johanna Buddrus gehen ans Fenster ihrer Wohnung, um das Käuzchen zu beobachten, in der Ahornallee in Friedrichshagen, hinter Köpenick, im Osten Berlins. Eine Vorortstraße, die sich guter Bürgerlichkeit erinnert: Die Häuser haben kleine Gärten, eine Fabrik ist in der Nähe, nicht weit die S-Bahn, drüben der Friedhof. Dort liegen die Eltern, seit dem September 1965 auch Bobrowski selbst.
Über der Laterne, in dem Ahornbaum vor dem Haus bleibt es eine Weile sitzen, und ruft nicht mehr, aber wir können es sehn, es ist immer der gleiche Ast, auf dem es sitzt. Dann fliegt das Käuzchen weiter und schreit auch wieder im Flug. Und wir kommen uns vor, als seien wir jetzt aufgewacht. Als hätten wir den ganzen Tag, wo wir unterwegs waren, geredet, geschrieben, telephoniert haben, umhergefahren und -gelaufen sind, diesen ganzen Tag verschlafen. Und jetzt hören wir: die Grillen sind vor den Fenstern, wir unterscheiden Stimmlagen, Tempi, vielleicht Rhythmen. Wir sind aufgewacht, im Dunkeln.
Alltag. Zu Hause. Daheim. Johannes Bobrowski aus Tilsit und Johanna Buddrus aus Motzischken jenseits des Memelflusses stehen am Fenster des Arbeitszimmers, rechts die niedrigen Bücherschränke, links das Clavichord, zwischen den hohen Fenstern zur Straße die Schreibkommode. Vor den Büchern die Couch, dann der Esstisch, der Kachelofen. Eng ist es, nebenan schlafen die Kinder, oben hausen Fremde. Bis heute ist das Zimmer unangetastet.
Wir leben hier, jeden Tag, wir haben unsere Kinder, und unsere Arbeiten, jeden Tag, und das ist alles ernst, wir müssen uns ausruhen, weil wir ermüdet sind, aber wie sind wir denn hier – ein Vogel ruft, und wir meinen aufzuwachen. Du hast die litauischen Lieder vor, plötzlich, mitten am Tag, das Essen ist auf dem Feuer, nachher kommen die Kinder aus der Schule, und ich hier schreib etwas auf, im Büro, um mit dir zu reden. Oder besinge noch immer dunkel, wie Graß sagt, das Flüßchen Szeszupe. Sag doch, wie leben wir hier? Nimmt man das Vaterland an den Schuhsohlen mit?
So lässt Georg Büchner den großen Danton fragen, als Freunde ihn zur Flucht drängen vor dem Terror Robbespierres und der Guillotine in Paris. Danton bleibt.
Wir haben auch hier, hinter dem Bahndamm, den Wiedehopf gehört und Specht und Kuckuck, das ist es nicht. Und dann gibt es den Fluß hier. Aber wenn du träumst: wie reden da die Leute, wie sehen die Wege aus, aus welchem Haus kommst du, in welches gehst du hinein?
Die Traumhäuser sind aus Holz, aber nicht alle, und das ist es auch nicht. Und die Wege? Ein eingefahrener Sandweg. Ohne Gräben. Wie breit ist er, kann man das sagen? Er geht über in die Wiese. Oder die Wiese hört auf. Oder geht über in einen Weg. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zuende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben. („Das Käuzchen“, 1962/63)
Lebensorte Bobrowskis. Vom Fletcherplatz in Tilsit, Sowjetsk heute, und über die Luisenbrücke hinweg fuhr die Kleinbahn ihren Weg ins Memelland. In den Litauischen Clavieren nehmen Professor Voigt und Konzertmeister Gawehn die Bahn, um den Lehrer Potschka in Willkischken zu besuchen und ihn über litauische Dainos zu befragen, die sie in ihre Donelaitis-Oper einzubauen gedenken.
Am Vorabend des Johannistages 1936 stuckert also die Kleinbahn über den Strom und sein endlos weites Wiesenland. Im Osten schiebt der Rombinus sich in den Horizont. Die Gleise der Bahn sind heute fort, die schmale Trasse, auch die beiden scharfen Kurven sind geblieben, Litauens Zoll in Übermemel, Panemunė, ist seit ein paar Jahren wieder da. Die Bahn passiert den toten Arm der Memel, die hier ganz schön herumwirtschaftet. Links biegt die Chaussee nach Šilutė ab, Heydekrug. Einen Sprung später führt sie Richtung Kaunas weiter, über Willkischken, Vilkyškiai, und Metzischken, Močiskiai.
So langsam leert sich die Bahn: Trakeningken, Trakininkai, Lompöhnen, Lumpėnai, und dann schon Willkischken. Dort steigen Voigt und Gawehn aus, besuchen den Lehrer Potschka über dem Saal von Plattners Krug, Blick auf den Gutspark. Hinter Willkischken nimmt die Chaussee die Kleinbahn huckepack über den Jurafluss. Vom Haltepunkt Motzischken schlägt sie sich in die Wälder und in weitem Bogen zurück zum Strom. Jenseits der Wälder, in Schmalleningken, Šmalininkai, endete das Preußenland.
Die verstreuten Häuser am aufgelassenen Haltepunkt in Motzischken sind zumeist aus Holz, manche bunt, mit Ställen, Veranden, viel Grün, Obstbäumen. Einige Hofstellen sind abgeräumt. Brunnen und Eiskeller deuten auf vergangenes Leben. Behelfsbauten nutzen die Lücken. Eine Alte in ordentlichem Haus, Blumen davor, eine Kuh im Stall, erinnert sich ihres Deutsch. Doch keiner der alten Bewohner des Dorfes ist geblieben. Den Neusiedlern sind die Häuser der Buddrus, der Fröhlich fremd. Fremd ist ihnen auch der Nachbar.
Nach Willkischken, auf den Hof der Großeltern Fröhlich, und nach Motzischken auf ihren Altensitz ist Bobrowski in die Ferien gefahren, von Königsberg her. Der Altensitz der Fröhlich ist geblieben, mit Sprossenfenstern und festem Dach, gleich vom Haltepunkt Motzischken den Sandweg hinein und ein paar Schritte nach links. Das Gartengebüsch ist abgeholzt, den neuen Bewohnern waren zu viele Schlangen darin. Im Haus der große gemauerte Herd, die Milchkammer, davor der Brunnen, dichtbei das hohe Ufer der Jura, die an den Sandberg drängt mit dem verwilderten Friedhof:
(…)
Ich bin nicht hier.
Ich such eine Stelle,
nur ein Grab breit, den kleinen Berg
über den Wiesen. Von dort
kann ich sehen
den Fluß.
(„Wiederkehr“, 1960)
Wie in der Erzählung vom Käuzchen gehen wir den Weg ohne Gräben, der in die Wiesen mündet, vorüber am Hügel, der den Friedhof trägt. Wo der Fluss wegbiegt, erreichen wir den Hof der Buddrus, sicher gelegen vor Schneeschmelze und Eissrau, mit Fleiß gesparter Wohlstand. Der Garten liegt wüst. Vom Vierseithof ist allein das Wohnhaus geblieben, lose das Dach, Feldsteinsockel, Ziegelmauerwerk platzender Putz. Ein einsamer Insasse sammelt Pilze, brennt Schnaps, lebt in den Tag. Vor der Deportation nach Sibirien hat er sich in den verlassenen Hof geborgen, so erzählt er.
Vom Buddrushof holt sich der Soldat Bobrowski 1943, mitten im Krieg, seine Frau Johanna. Hier werden die beiden getraut. Von der Nachkriegswohnung an der Ahornallee wandern ihre Gedanken hierher:
(…)
Ich sah eine alte Frau
am Ende der Straße
im schwarzen Tuch
auf dem Stein,
den Blick nach Süden gerichtet.
Über dem Sand
mit zerspaltenen harten Blättern
blühte die Distel.
Dort war der Himmel
aufgetan, in der Farbe des Kinderhaars.
Schöne Erde Vaterland.
(„Das verlassene Haus“, 1964)
Einen Schulweg weiter über die Jura nach Westen liegt Willkischken. Die Straße läuft am Fuß eines Hügelrückens, auf halber Höhe die Gehöfte, dahinter die Gärten. Linkerhand fällt das Land zu den Wiesen, dahinter Moor, Strauchwerk, Schilf.
Einige Häuser wagen sich aus dem dörflichen Einerlei: das Mietshaus des Apothekers, der Lessing’sche Krug, zweistöckig unübersehbar, nackte rote Ziegel, mächtig auf dem Gasthaus sein Storchennest. Gleich nebenan zieht sich das Gehöft der Großeltern Fröhlich von der Straße hügelan, quer gestellt das Wohnhaus, einstöckig, Quaderputz, eine städtisch-breite Freitreppe, dazu Garten, Scheune und Stall, Schöpfe von gespaltenem Holz. Von hier sind die Großeltern Bobrowskis nach Motzischken gezogen.
Der Gasthof von Wythe am Abzweig zur Kleinbahn ist wieder zum Gasthof mutiert, Mutters Küche, Fremdenzimmer, Fotografien der Wirtsfamilie aus der Zeit vor der großen Flucht. Hier bei Wythe huldigen in den Litauischen Clavieren die Landeskinder Preußisch Litauens ihrer unglücklichen Königin Luise. Hier sitzen die Litauerfreunde Voigt und Storost bei Schmand und Glumse und dreht der Naziführer Neumann auf.
Ein Stück weiter an der Chaussee, fast am Ende des Dorfs, siedeln die Honoratioren: links Plattners Krug, wo der Lehrer Potschka wohnt, dahinter das Gut, benachbart die Kirche, das Pfarrhaus, die Schule, die Post, das Denkmal von 1914/18, mit Stahlhelm und neu herausgeputzt. Der Kirche ist der spitze Helm wieder aufgesetzt. Lange Jahre hat der Kolchos im Gotteshaus sein Getreide gemahlen, unser täglich Brot hüfthoch vor dem Altar. Nun halten die wenigen Protestanten, die blieben, wieder ihren Gottesdienst, treffen sich zum Kaffee in der Nische neben dem Chor.
Wir sind in Bobrowskis Arkadien. Bilder, die uns in die Kindheit scheinen.
Groß ist die Kraft des Gedächtnisses, das Orten innewohnt, und mit gutem Grund gründet die Kunst des Erinnerns auf sie.
Von Marcus Pupius Piso sind diese Worte überliefert. Er trug sie Cicero vor während eines Nachmittagsspaziergangs auf den Wegen der Akademie vor den Toren Athens. Das war um das Jahr 80 vor unserer Zeit.
Gedächtnisorte der Literatur erleichtern uns das Erinnern. Sie fordern uns heraus, setzen unser Denken in Bewegung. Sie machen uns vertraut mit einer Landschaft, einer Region, ihren Menschen und ihrer Kultur. An solchen Orten des Erinnerns verdichtet sich der Raum zur Zeit. Solche Erinnerung stiftet individuelles und kollektives Selbstbewusstsein. Sie ist das Fundament unserer Gegenwart.
Marcel Proust hat, auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die Kunst des Erinnerns auf die Spitze getrieben:
Wenn von einer weit zurückliegenden Vergangenheit nichts mehr existiert, nach dem Tod der Menschen und dem Untergang der Dinge, dann verharren als einzige, zarter, aber dauerhafter, substanzloser, beständiger und treuer der Geruch und der Geschmack, um sich wie Seelen noch lange zu erinnern, um zu warten, zu hoffen, um über den Trümmern alles übrigen auf ihrem beinahe unfaßbaren Tröpfchen, ohne nachzugeben, das unermeßliche Gebäude der Erinnerung zu tragen.
Und so steigen an einem Sonntagmorgen in Combray, angestoßen von einem Stückchen „petite Madeleine“, in Lindenblütentee getaucht, Erinnerungen der Kindheit auf einer Woge des Glücks in ihm empor – „(…) alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Swann und die Seerosen auf der Vivonne und all die Leute aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, all das, was nun Form und Festigkeit annahm, Stadt und Gärten, stieg auf aus meiner Tasse Tee.“
Uwe Johnson sieht die Stücke der Vergangenheit, „Eigentum durch Anwesenheit“, versteckt in einem Geheimnis, „abweisend, unnahbar, stumm und verlockend wie eine mächtige graue Katze hinter Fensterscheiben, sehr tief von unten gesehen wie mit Kinderaugen“. Das schreibt Johnson ziemlich zu Beginn der Jahrestage. Margret Boveri half ihm das Gedächtnis dingfest zu machen, schenkte Johnson die „Katze Erinnerung“. Der stellte sie aufs Parkett des Wohnzimmers an der Marine Parade.
Die alte Straße durchs Memelland legt hin und wieder ihre Pflasterung bloß. Die Chausseebäume sind zum Laubdach geschlossen. An der Straße aufgereiht Häuser aus wilhelminischer Zeit, schnelle Zubauten auch und schneller Verfall.
Auf Willkischken folgt Polompen, dann Lompönen. Linksab führt ein Weg Richtung Bitėnai. Erst Teer, dann Schotter, schließlich nur noch Sand. Das Dorf Bittehnen, was ist das schon, schreibt Bobrowski in „Lipmanns Leib“:
Die sieben Gehöfte über der Steigung des Ufers, wie auf einem Wall. Der ausgefahrene Sandweg kommt an den Steckenzäunen entlang und macht einen kleinen Bogen auf die Fähre zu. Da stehen die Holzbuden, die dem Zoll gehören. Ein Stückchen stromabwärts die beiden Dückdalben und die Anlegestelle für das Dampfboot. Kirschbäume, niedrig, mit geplatzter Rinde. Die vier Stangen um einen vorjährigen Strohhaufen, das zerbrochene Dach schief zwischen sich. Wo die Krähen ihre Versammlungen halten. Das Dorf. Und der Tümpel unten im Sand, von der letzten Überschwemmung, noch immer nicht ausgetrocknet. Das Dorf. Nirgends is so bunt wie in ne Welt, sagen die alten Frauen. (…) Was ist das schon, die sieben oder acht Gehöfte auf dem Uferwall. Von wo man über den Strom sieht, kilometerweit, bis dorthin, wo der Himmel hinabreicht auf die Ebene. Oder man blickt zurück, der Straße nach, die durch die Wiesen gegen den Wald verläuft. („Lipmanns Leib“, 1962)
Bittehnen also: Einzelhöfe locker gestreut und aus Holz, wieder Schöpfe von Scheiten, dazu Gärten, Blumen. Auch hier neues Volk in alten Häusern. Hinter Büschen und Bäumen birgt sich das alte Gasthaus, ein zweistöckiger Ziegelbau ohne Ansprüche, vorn die beiden Gasträume, hinten die Wirtswohnung und der Garten. Der steht voller Obst und Blumen. Seitab die Scheune, unten drei Türen mit Herz, oben die Störche.
Dem Krug sind die Gäste fort. Birute, eine alte Lehrerin aus Schamaiten, freundlich, gütig, bietet uns Honig und Wasser. Sie hat in den Gasträumen ein kleines Museum für Martynas Jankus gehütet, den Drucker, Redakteur, Verleger und Volkskundler, Patriarch der Kleinlitauer im Memelland. Geboren in diesem Dorf Bittehnen und litauischer Patriot, war Jankus zu Kriegsende dennoch mit den Deutschen gegangen, gleich seinem Landsmann Wilhelm Storost Vydūnas. Das Bittehner Museum zeigt Bilder und Berichte vom Tod dieses Jankus 1946 drüben in Flensburg. Nach der großen Wende ist seine Urne heimgekehrt, wie die des Storost Vydūnas.
Vom alten Gasthaus in Bittehnen wandern wir den Waldweg zum Berg Rombinus, vorüber am Friedhof auf einer Lichtung im Wald. Hinter der eisernen Pforte wie ein Altar ein Denkmal für den Tilsiter Litauerfreund Vydūnas, bescheidener die Grabtafel für Martynas Jankus, eine Tulpe aus Holz geschnitzt. Aus dem Westen Europas sind die Tulpen nach Litauen gelangt. Ihre Zwiebeln dauern im Boden, treiben Jahr für Jahr neue Blüten, geduldig, zäh, Kraft aus dem Verborgenen.
Nahe dem Friedhof liegt die Festwiese mit dem Opferstein des Perkun über dem Abbruch zum Strom: auf dem Findling das Zeichen des Gediminas, drei senkrechte Balken auf einer Horizontalen, das Symbol litauischer Unabhängigkeit. Tief unten schimmern die Wasser der Memel, des Nemunas, Njemen. In der Ferne rauchen die Schlote der Zellulosefabrik von Tilsit.
Am Rombinus endet Bobrowski die Litauischen Claviere. Hier feiern der Vaterländische Frauenverein der Deutschen sein Jahresfest und die Litauer ihren Vytautas, an Johanni 1936. Hier führen Professor Voigt und Dr. Storost aus Tilsit und der Redakteur Saluga aus Großlitauen ihren Streit über Litauer und Deutsche im Preußenland.
In die Stromwiesen unterm Rombinus setzt Bobrowski das trigonometrische Gerüst, auf das Lehrer Potschka nächtens klettert. Von der Plattform der Landmesser träumt er sich zurück ins preußische Litauen, in dem Kristijonas Donelaitis sein drittes Clavier fertig stellt, mit seinen Amtsbrüdern aus Mehlkehmen und Walterkehmen singt und spielt, während seine Frau Anna Regina ihnen Kaffee bringt. Die Zeiten verschwimmen. Anna Regina, die Verlobte des Lehrers, ruft ihren Potschka in die Gegenwart:
Potschka, sagt das Mädchen. Potschka, komm wieder. Das von früher, das geht nicht mehr.
Kein Turm. Potschka öffnet die Augen. Kein Turm. Die Lichtung nicht. Nur das Rauschen, das geht in den Bäumen umher.
Hingehen, das geht nicht mehr. Hingehen nicht.
Jetzt spricht er, langsam, mit einem Mund, der das Sprechen erlernen, mit einer Stimme, die ihre Laute noch finden wird, heute oder morgen:
Herrufen, hierher. Wo wir sind.
(Litauische Claviere, 1965)
In den Jahren 1917 bis 1919 lebte Bobrowski in seiner Geburtsstadt Tilsit, dann noch einmal 1920 bis 1925, erwachend schon, die ersten Schritte in die Schule. Die Familie zog weiter, zuerst nach Rastenburg, Kȩtrzyn, in Masuren, 1928 nach Königsberg. Von 1937 an folgten Arbeitsdienst, Wehrdienst, Krieg, Gefangenschaft – 12 Jahre, ein Viertel des Lebens, mehr als ein Drittel der Erwachsenenzeit.
Vom Rombinus nach Tilsit, Sowjetsk, ist es ein Katzensprung, wäre da nicht die litauisch-russische Grenze quer über die Luisenbrücke. Deren Südtor, Wahrzeichen Tilsits, durfte beim Wiederaufbau nach dem letzten Krieg bleiben. Hammer und Sichel haben das Porträt der Königin ersetzt. An die stolze Zeit der Stadt, als die Königin Luise ihren Bittgang bei Napoleon tut und Kaiser, Zar und König den Frieden von Tilsit schließen, erinnert ein Gedenkstein am Fletcherplatz auf der Tilsiter Seite, dreisprachig: französisch, deutsch und russisch.
Das Schloss im Osten der Brücke und die Deutsche Kirche im Westen sind fort. Fort ist auch das Rathaus ein paar Schritte geradeaus in die Deutsche Straße hinein, ulica Gagarina. Es stand am Nordende des Buttermarktes. An seiner Westseite, damals Packhofstraße, ist ein schlichtes zweistöckiges Bürgerhaus geblieben, in hellem Quaderputz, mit rotem Pfannendach und die Traufe zur Straße, vier Fenster Front, zwei, drei Stufen zum Eingang hinauf – das Geburtshaus Max von Schenkendorfs. Porträt und russische Inschrift neben der Tür erinnern an den Dichter der Kriege, die Deutschland mit Hilfe des zaristischen Russland von der napoleonischen Fremdherrschaft befreiten.
Das Stadttheater im Norden des Angers, die Gerichtsgebäude im Süden überdauern. Den Standort des Elchs hält ein T 34 besetzt. Wo die Hohe Straße vom Fletcherplatz auf die Gerichtsbauten trifft, biegt linker Hand die Clausiusstraße ab, ulica Lenina. Wenige Schritte weiter nur passiert sie den unscheinbaren Thesingplatz. Wo die Grabenstraße als Smolenskaja sich vom Thesingplatz wendet, hält an rot getünchter Hausfront, unerreichbar hoch und in solidem Friedhofsmarmor, eine Gedenktafel samt Porträt in Erinnerung, dass in dieser Straße „der bekannte deutsche Schriftsteller und Kulturschaffende“ Johannes Bobrowski geboren wurde und lebte. 1992, zum 75. Geburtstag des Dichters, hat die Stadt Sowjetsk sich des Sohnes Tilsits erinnert.
Wilhelminisch und rot geklinkert schließt die Oberrealschule die Grabenstraße. Hier beginnt Voigt seinen Ausflug zum Potschka in Willkischken, um am Seitenportal des Theaters am Anger Konzertmeister Gawehn zu treffen. Mit ihm eilt er die Deutsche Straße hinauf zur Kleinbahn an der Luisenbrücke.
Stadtauswärts im Park Jakobsruh spielt ein Mandolinenorchester. Die Uniformen haben gewechselt und die Karussells. Doch noch immer blüht der Rainfarn zu Johanni, nur tragen die Leute im Sonnenbad nicht mehr ihre Freikörper zur Schau. Königin Luise ist vom Sockel gestiegen und unbekannt verzogen, sie wird gesucht, der Sockel bewahrt. In Jakobsruh steckt der Erzähler des „Rainfarn“ sich sein Sträußchen an den Hut und spaziert, unsichtbar, durch die Stadt, über die man nur immer sagt: Es ist wie vor hundert Jahren. Mit dem Rainfarn an der Mütze geht er über den Fletcherplatz auf die große eiserne Brücke zu. Die sich mit breiten, gemauerten Pfeilern und hochgewölbten Bögen anstrengt, Pflasterstraße und Kleinbahnschienen über den Strom zu schleppen, an den salutierenden deutschen und den grüßenden litauischen Zollbeamten vorbei:
Das geht recht gut. Aber jetzt haben sich einige Beamte weggedreht, zwei, drei bei den Deutschen, einige bei den Litauern, und einige – bei den Deutschen – treten vor und reden böses Zeug, und auf die Brücke zu gehen ein paar Familien, Väter, Mütter, Kinder, mit ein paar Taschen und Körben und können erst wieder stehn bleiben und atmen, wo Deutschland zuende ist.
Bleibt gesund, wollen wir sagen. Aber das können wir nicht.
Da schütteln wir unsere Schuhe aus und nehmen das Ästchen von der Mütze und werfen es in den Strom. Der Wind nimmt es eine kleine Windstrecke weit mit und läßt es leicht ins Wasser fallen. Da schwimmt es davon.
Ich will nicht unsichtbar sein, sagen wir uns, nicht ungesehen von den Leuten. Es ist nichts: Beobachter sein, der Beobachter sieht nichts.
Die Leute, die Familien, sind über die Hälfte der Brücke hinaus. Jetzt könnt ihr atmen, Leute. Und da kommen noch mehr über den Platz.
Lauft, Leute, möchten wir sagen, und das könnten wir schon tun. Und den flotten Kerlen entgegentreten, die sich mit ihren Stiefeln und ihren Reden großtun, hinter den Familien her.
Aber wir haben das ja nicht getan. Nicht einmal das Sträußchen Rainfarn nahmen wir von der Mütze, um es fortzuwerfen. Der Strom hätte es schon gern mitgenommen. Der Strom ist nicht so. Er hätte schon noch ein bißchen gewartet.(„Rainfarn“, 1964)
Seljonny Ostrow heißt der Kneiphof in der Nomenklatur Kaliningrads, die grüne Insel. Auch Altstadt und Löbenicht, mit dem Kneiphof die Gründungsstädte Königsbergs, sind dem Erdboden gleich. Allein die Ruine des Doms wahrt das Gedächtnis. Mit dem Dom von Seljonny Ostrow knüpft Kaliningrad an Königsberg an.
Der Kneiphof war eine lebendige Stadt, verwinkelt, mittelalterlich, fünf Straßen in der Länge, acht in der Quere, mit kulmischem Recht begabt. Im südlichen Kneiphof lief die Magisterstraße von Ost nach West; an ihr wohnte im 17. Jahrhundert, nahe beim Blauen Turm, Simon Dach, Sohn eines Gerichtsdolmetschers in Memel, als Professor für die Literatur der Antike in auskömmlicher Stellung an der Albertina und zum ersten Dichter Preußens avanciert:
Phöbus ist bey mir daheime.
Diese Kunst der Deutschen Reime
Lernet Preussen erst von mir (…).
Über die Honigbrücke vom Kneiphof weg auf der Lomse hinterm Lindengraben hatten die Kneiphöfer ihrem Organisten Heinrich Albert ein Gärtchen geschenkt, dort, wo heute die Oktjabrskaja breit und laut die Brache begrenzt und Plattenbauten ragen. Heinrich Albert ließ Kürbisse um sein Grundstück ranken, und in dieser Kürbishütte traf sich die „Gesellschaft zur Sterblichkeit Beflissener“, zu der auch Simon Dach gehörte. Die Freunde huldigten der Poesie und Musik und schnitzten ihre Reime in die Kürbisschalen. Wenige Jahre nur hielt die Lust. Der Bau der Lindenstraße und des Weidendamms machten nach Ende des Dreißigjährigen Krieges der grünen Idylle ein Ende.
Unverschlüsselt transponiert Bobrowski die Kürbishütte der Kneiphöfer in den Roman um Levins Mühle, ins Gespräch des Sängers Weiszmantel mit dem Zigeuner Habedank auf ihrem Weg von den Drewenzwiesen nach Neumühl:
Lieber Mensch, gehab dich wohl, heißt es in Alberti Musikalischer Kürbishütte von 1641, welche, wie es im Titel gleich steht, uns erinnert menschlicher Hinfälligkeit, woran wir uns aber nicht erinnern lassen. Weiszmantel kennt diese Königsbergische Hütte nicht, obwohl sie sich gut singen läßt, zu drei Stimmen, vocaliter oder auch mit Instrumenten, und auf schöne Texte. Aber er sagt es ganz genau wie dieser Herr Albert: Lieber Mensch, gehab dich wohl.
Und Habedank sagt: Na ja, dann geh man.
(Levins Mühle, 1964)
An der Nordostecke des Domes ist das Grab Kants unzerstört erhalten. Seit seinem 200. Geburtstag deckt monumental und klar ein flaches Dach auf schlanken roten Sandsteinquadern die Stoa Kantiana. An der Quaderwand schlicht der Vermerk „Immanuel Kant 1724–1804“.
Über Eck zur Honigbrücke schirmte die Universität den Kneiphof zum Neuen Pregel ab, das Collegium Albertinum, gestiftet vom Herzog Albrecht, und ihm zur Seite das Neue Collegium – schlichte zweistöckig-massive Bauten mit gewalmten Dächern und unter Efeu begraben. Im Alten Collegium residierten die Stadtbibliothek und das Stadtarchiv, im Neuen Collegium das Kneiphöfische Gymnasium.
Bobrowski hat dieses Stadtgymnasium besucht. Elf Jahre war er, als die Familie von Tilsit über Rastenburg nach Königsberg zog, 1928, zunächst an den Unterhaberberg, die Bagratjona, im Süden des Kneiphofs, im Rücken den alten Pregel, im Nachbarhaus das „Rote Echo“, Zeitung der Kommunisten, drei Jahre später an die Samitter Allee, Gorkogo, im Norden der Stadt, Ecke Schindekopstraße, Generala Oserowa, zehn Minuten vom Nordbahnhof. Das Mietshaus, Neubau der Zwanziger, vierstöckig, gelb getüncht, hat sich gehalten, eine Apotheke im Straßeneck, im Hinterhof Pflaumenbaum und Balkon. 1938, Bobrowski absolvierte den Arbeitsdienst, zog die Familie nach Berlin-Friedrichshagen, wo der Vater an der Berliner Ringbahn baute. Ein Jahrzehnt später folgte ihnen der Sohn aus sowjetischer Gefangenschaft.
Bobrowski lebte seine Jugend im Licht des alten Königsberg, lernte im Dom das Orgelspiel, öffnete sich dem musikalischen und poetischen genius loci in der Nachbarschaft Simon Dachs – und fand Geborgenheit vor den andrängenden braunen Ideologen in der Jugend der Bekennenden Kirche. In der Erzählung „Von nachgelassenen Poesien“ aus dem Jahr 1961 lebt ahnungsvoll der Kneiphof auf, und ein letztes Mal, posthum, in den Litauischen Clavieren. Dort erzählt der litauische Lehrer und Liedersammler Potschka seinem Mädchen von der Jugend:
Die Häuser eins an das andre gebaut, man geht an den Wänden hin, enge Straßen. Durch die Stadt fließt ein Fluß, teilt sich und vereinigt sich wieder. Die Insel, die er bildet, trägt eine alte Kirche aus Ziegeln und enge, hohe Häuser, in gehörigem Abstand von der Kirche, die auch noch eine Reihe alter Linden vor ihren schmal aufsteigenden Fenstern hat. Einen viereckigen Turm gibt es an der einen Ecke der Insel und nicht weit davon einen Torbogen, und über den Pauperhausplatz kommt man zum Collegium Albertinum. (Litauische Claviere, 1966)
Wo am jenseitigen Ende des Kneiphofs, zwischen der Vorstadt im Süden und der Altstadt im Norden, Immanuel Kant seine pünktlich geregelten Wege ging, schwingt eine Schnellstraße sich vom Haberberg zum Schlossphantom. Über Königsbergs Altstadt breitet sich Wildnis; Baugruben, Straßenschneisen, verlorene Orte. Am Altstädtischen Markt wurde Zacharias Werner geboren, Jurist im Dienst Preußens und Schriftsteller der Romantik wie E.T.A. Hoffmann, dessen Geburtshaus ein paar Schritte weiter lag. An der Altstädtischen Langgasse, später im Löbenicht’schen Rathaus, hatte die Buchhandlung Kanter ihren Sitz, in der sich die gebildete Welt traf: Kant, Hamann, jung und wissbegierig Herder. Der Moloch Moskowskij und Leninskij prospekt hat dies alles verschlungen.
Doch nicht alle Erinnerungen sind Kaliningrad zum Opfer gefallen. Schon vor 100 Jahren musste Kants Wohnhaus der letzten Lebensjahrzehnte dem Straßenbau weichen. Kants Gärtchen lehnte an den Gefangenenturm des Schlosses, die Schützerei. Dort zitierte seit Kants 100. Todestag eine Tafel die Maxime des Philosophen. Sie ist seit dem Krieg verschollen. Reste der Schlossmauer, die einzigen Reste des Schlosses überhaupt, sind rechter Hand des Leninskij prospekterhalten, am Weg vom Neuen Pregel zum Hotel Kaliningrad. Dort bittet seit ein paar Jahren die in der Ödnis ringsum Verlorenen eine Nachbildung jener Tafel um Aufmerksamkeit, deutsch und russisch in poliertem Bronzeguss:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Johannes Bobrowski ist sein Pennälerleben lang von der Wohnung an der Samitter Allee zum Gymnasium auf dem Kneiphof gewandert, Tag für Tag am Spruch des Philosophen vorüber. Dorthin, vor den Schlosskirchenturm und unter den Kaiser auf steinernem Sockel, stellt Bobrowski den Straßenflötisten Preuß. Von dort ruft er seine Mahnung, dieser Mann aus dem Litauischen:
Haltet Gottes Gebote.
Er sagt sie hin „(…) über die Autos, Wagen, Motorräder, Fahrräder, Straßenbahnen, Gemüsekarren, da unten führt die Hauptstraße vorbei, und das hat alles seine Ermahnung nötig, da unten.“
Dem Preuß reden sie die Anekdote von einem Säufer hinterher. Zu der muss man einiges wissen:
Daß Geheimrat Quint am Dom, unten auf der Insel, noch vor dem richtigen Gottesdienst, frühmorgens seinen Schiffergottesdienst hält, das alte Mannchen, für die Eigner der Zwiebel-, Kohl- und Fischkähne, die nach dem Sonnabendmarkt in der Stadt übernachtet haben und nach dem Gottesdienst früh zurückrudern, stromauf, dann durch den Flußarm zu den Haffdörfern, weil sie dort wohnen. Weiter: daß Motz, der Steindammer Pfarrer, eine Stunde früher als gewöhnlich seine Kirche hält; da kann er ausführlich reden, wie seine Pfarrkinder es mögen, die im Prostituiertenviertel um die nach einem Arzt benannte Wagnerstraße leben, da kommt man trotzdem immer noch gerade zur Zeit bei Pastor von Bahr im Tragheim. Dann geht es ganz schnell zur Altstadt. Herr von Bahr nämlich spricht seine abgemessenen zwölf Minuten, die Leute folgen ja doch nicht länger, Konsistorialrat Claudin aber absolviert elegante fünfundzwanzig Minuten. Pfarrer Schreitberger im Lobenicht kommt stets auf gute vierzig. Am längsten spricht Dompfarrer Käßlau, eine Stunde. Das also muß man wissen. Der Mann nämlich, den wir jetzt meinen, geht Sonntag für Sonntag von Kirche zu Kirche und kommt überall zum Abendmahl zupaß. Er hat sich das so zurechtgelegt und er hat einen guten Zug. Und wenn der Dompfarrer, jetzt im großen Gottesdienst – denn so schließt sich der Kreis, diese genau berechnete Rundreise –, den Kelch vielleicht schon wegziehen will, besagt jedenfalls die Anekdote, greift unser Mann, der andere wohlgemerkt, zu, sagt laut: Meinen Jesum laß ich nicht, und nimmt noch einen schönen Schluck.
Bobrowski geht dem Preuß nach, hat ihn schon aus den Augen verloren, geht bloß so die Treppe hinunter und über den Platz, an einem Kaufhaus vorbei, über eine Brücke, sieht hinüber zu den Speichern, bei denen Schiffe vor Anker liegen, kommt noch über eine weitere Brücke, zur Vorstadt:
Und da wurde im gleichmäßigen Straßenverkehr eine Unruhe bemerkbar, es teilte sich einem gleich mit, es kam da etwas durcheinander, einige Wagen bogen in Seitenstraßen ein, Motorfahrzeuge hielten, und da war eine schneidende Musik zu hören, dahinter Geschrei, Kommandos, da kamen berittene Polizisten und hinter ihnen auch gleich die Nazis, ein ganzer Zug, braun in braun, bis auf die Augen, die blau sein sollten, nach Möglichkeit. Aber wir kommen um die Skurrilitäten, oder wie man es nennen will, nicht herum.
An dem Zug der Braunen rennt Straßenflötist Preuß entlang, schreit ihnen seine Meinung: Tagediebe, Rumtreiber, Liederjahne und anderes entgegen und droht mit der Flöte.
Und meint eigentlich die Kommunisten, denn er sagt: Mußt ja der Kaiser den Krieg verspielen, mit euch Ochsen. Er unterscheidet das nicht, Demonstration ist Demonstration, es ist das Jahr 32, keiner der es ihm erklärt. Wer sollte es tun?
Unseren stillen Litauer würde der Preuß auslachen. Das wäre vielleicht nicht schlimm; schlimmer, daß er ihm gar nicht erst zuhören würde, einem solchen Dummkopf. Ach, Preuß.
Ja, aber wer sollte es dann tun? Der Saufkopp aus der Anekdote?
Der sagt bloß verächtlich, und meint die Braunen: Der ihr Führer trinkt nicht.
Oder der Dompfarrer? Aber der ist zu gelehrt, um mit dem Preuß reden zu können, oder doch vielleicht nicht gelehrt genug.
Womöglich geht er zum Pfarrer Motz am Steindamm. Der sich ja alle seine Gemeindekinder aufpacken und geradewegs in den Himmel tragen möchte. Aber wo wird er denn, der Preuß. Obwohl er dahin gehört, jedenfalls in diese Steindammer Kirche, schon weil er dort wohnt. Dabei ist es längst Zeit geworden, für alle. In einem halben Jahr sind die Hitlerleute dran. Da werden nicht nur die Kommunisten gejagt, deretwegen der Kaiser den Krieg verlor, nach Ansicht von Preuß, sie zu allererst, sondern sie fangen auch den Preuß ein, in seiner Behausung in dieser Wagnerstraße, die jetzt in Richard-Wagner-Straße umbenannt wird, aber sonst so bleibt, als einen Staatsfeind oder Volksfeind, wie sie sagen, aus dem gleichen Grund also wie die Kommunisten und wenig später den Dompfarrer. Da nehmen sie auch gleich den Sonntagssäufer mit, als asoziales Element, und bald danach unseren stillen Mann, als geistig minderwertig.
Haltet Gottes Gebote, ruft er ihnen entgegen, als sie kommen. Aber das tun die nicht.
(„Der Mahner“, 1965)
Das Kulmerland ist „eine Gegend alt und fromm, wo man, sofern man etwas besitzt, Geld oder Ehre, deutsch ist und stolz auf seine edle Herkunft, die aber wiederum polnisch ist, doch das war früher“ („Levins Mühle“, 1963). Der Pole Konrad von Masowien bot 1225 dem Deutschen Orden das Land, versprach sich Befriedung. Die bekam er. Das Kulmische Recht wurde zum Grundgesetz des Ordensstaates. 1466, im zweiten Thorner Frieden, fiel das Kulmerland an Polen, 1772 ging es zurück an Preußen, 1919 wiederum an Polen. Bei Polen ist es seither geblieben.
In der bewegten Topografie und dem bunten Chaos der Dörfer stehen die Ordensburgen wie Zinnsoldaten, gewaltige Kuben, auftrumpfend, mächtig gepanzert und unbeweglich, in Pomerellen im Westen wie in Pomesanien im Norden und hier in Gollub an der Drewenz im Kulmerland, wo der Blick weit hinüberreicht nach Russisch Polen.
Auf einer Landzunge hoch über dem Städtchen Gollub, Golub-Dobrzyń, schiebt sich Schloss Golau ins Bild, feste Burg seit 1300 mit der Kunst und dem Komfort der Ordenszeit, quadratisch und aus Backstein massiv, Sterngewölbe und Warmluftheizung, Maßwerkfenster und Arkaden. Gollub zu Füßen des Schlosses wahrt sein mittelalterliches Maß. Klassizistische Bauten und die Zutaten preußischer Gründerzeit haben die Vorlaubenhäuser ersetzt. Die Pfarrkirche, wie üblich aus Backstein, hat sich ein wenig vom Marktplatz der Kolonisatoren abgesetzt. Eine Brücke führt hinüber nach Dobrzyri. Gollub und Dobrzyri haben sich zu einer Kommune verbunden über die Grenze Preußisch und Russisch Polens hinweg.
An der Drewenz, Drwęca, hier bei Gollub findet Johannes Bobrowski den Stoff zu Levins Mühle. Hier steht der Großvater zu seinem Recht, als Deutscher und Baptist und weil man etwas hat: eine Mühle bei Neumühl, an einem rechten Nebenflüsschen des Drewenzflusses, der immer im Polnischen, aber zwischen Deutschland und Russland verläuft:
Die Drewenz ist ein Nebenfluß in Polen.
Das ist der erste Satz. Und da höre ich gleich: Also war dein Großvater ein Pole. Und da sage ich: Nein, er war es nicht. Da sind, wie man sieht, schon Mißverständnisse möglich, und das ist nicht gut für den Anfang. Also einen neuen ersten Satz.
Am Unterlauf der Weichsel, an einem ihrer kleinen Nebenflüsse, gab es in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein überwiegend von Deutschen bewohntes Dorf.
Nun gut, das ist der erste Satz. Nun müßte man aber dazusetzen, daß es ein blühendes Dorf war mit großen Scheunen und festen Ställen und daß mancher Bauernhof dort, ich meine den eigentlichen Hof, den Platz zwischen Wohnhaus und Scheune, Kuhstall, Pferdestall und Keller und Speicher, so groß war, daß in anderen Gegenden ein halbes Dorf darauf hätte stehen können. Und ich müßte sagen, die dicksten Bauern waren Deutsche, die Polen im Dorf waren ärmer, wenn auch gewiß nicht ganz so arm wie in den polnischen Holzdörfern, die um das große Dorf herum lagen. Aber das sage ich nicht. Ich sage statt dessen: Die Deutschen hießen Kaminski, Tornaschewski und Kossakowski und die Polen Lebrecht und Germann. Und so ist es nämlich auch gewesen. (…)
Und die Deutschen – also Ragolski und Wistubba und Koschorrek, um ein paar andere Namen zu nennen – wissen, daß es an der Tüchtigkeit liegt, wenn man etwas hat, und die Polen denken, es kommt von der Muttergottes. Aber freilich, die wirkt mehr ins Gemüt als ins Portemonnaie, sagt man, und deswegen haben die Polen, sagt man, weniger.
(Levins Mühle, 1963)
Die Straße von Gollub nordostwärts nach Strasburg, Brodnica, folgt dem hohen Ufer über der Drewenz. Kurz bevor die Straße in die Schmugglerforsten dringt, kreuzt sie ein Flüsschen. Lohrbach steht auf alten Karten, Struga heute: eine alte Steinbrücke, Eisengeländer, dicht bebuschte Ufer, rechts ein Wirtshaus von früher, eine Art Speicher und Wagenremise, „Młyn Handlowy“ steht geschrieben, Handelsmühle.
Eine Allee alter Linden führt zum Mühlhaus über dem Bach. Pferdefuhren, Trecker karren Säcke an, Arbeiter im Blaumann buckeln sie in den Mühlraum. Das Mahlwerk wird elektrisch betrieben, der Durchfluss fürs Wasser ist vermauert. Wir sind in Lissaumühle, Lissewo, stehen vor Levins Mühle. Ein paar 100 Meter den Wiesenbach hinauf liegt in weiter Mulde Großvaters Neumühl, Nowy Młyn, mit versumpften Teichen, verkrauteten Feldern, Kartoffeln, Rüben, rottenden Wirtschaftsgebäuden. Der Großvater ist fort.
Die Geschichte um Levins Mühle erzählt der Zigeuner Habedank, der im Gerichtsgefängnis der Kreisstadt Briesen sitzt, in Wąbrzeżno ein paar Kilometer im Norden. Auch da hat besagter Großvater seine Hand im Spiel. Habedank und seine Zellengenossen bringen die Ereignisse um Levin genau und sehr bündig auf den Punkt:
Es ist ein Nebenflüßchen der Drewenz, ziemlich schnell, das hat auf dem rechten Ufer zwei Stauteiche, die gehören zu der großen Wassermühle. Die fest auf vierundzwanzig Pfählen steht, oder ruht, die mit Stützen und Streben gestützt und verstrebt sind und mit Blech beschlagen gegen das Eis. Die Mühle hat ein großes unterschlächtiges Rad und ein prima Mahlwerk, und zwei Mann haben da gut dran zu tun. Und jetzt hat der Alte die beiden, wie ich hör, weggejagt. Bloß sie sind noch nicht gegangen. Und die andere Mühle aber, die ist klein, voriges Jahr schnell aufgestellt. Der Levin ist aus Rożan und hat sich was angelernt mit Müllerei und gleich diese Mühle angefangen, ein Stückchen flußab. Vier Pfähle bloß und Balken und Bretter und ein leichtes Rad, weil das Wasser ein bißchen flach ist, und die Bude hat ziemlich gewackelt, da hat er zwei Ketten angeschafft und sie gegen die Strömung verankert, die Mühle, da ist sie über den Winter und bis ins Frühjahr gekommen, kann man nur staunen. Und er hat hübsch Geschäft gemacht.
So ein Jud, sagt der Junge, kommt an mit dem blanken Arsch und macht Geschäft. Aber wieso! Gar nichts mit blanker Arsch. Mit Geld ist er gekommen. Jedes Brett gekauft, mit Fuhrwerk von Gollub angefahren.
(Levins Mühle, 1963)
Johannes Bobrowski hat seine Geschichte einer Familienchronik entnommen, die der Bauer Jahnke aus dem benachbarten Malken hinterlassen hatte. Ein Johann Bobrowski, der womöglich der Familie, jedenfalls aber der Landschaft unseres Bobrowski zugehört, hat wahrhaftig 1874 jene Wassermühle Neumühl gekauft und seinen Konkurrenten Lewin anderthalb Kilometer unterhalb weggeschwemmt. Nur – jener Lewin hat sein Recht vor Gericht erhalten, anders als der Levin des Romans, der vor dem Kungelspiel der Deutschen – Landrat, Richter, Pfarrer, Gendarm – fortgeht zu den Seinen. Der Großvater der Wirklichkeit wandert ins Gefängnis und schließlich bettelarm nach Amerika.
Bobrowskis Variation der Chronik aus Malken findet begeisterte Zustimmung bei Hilde Anker aus Tel Aviv:
Sagen sage ich gar nichts, lieber Herr Bobrowski, denn mir blieb schon die Spuke weg, als ich in der Weltwoche (Zürich) über LEVINS MUEHLE las. Der Grossvater meines verstorbenen Mannes war Mühlenbesitzer Michael Levin in Lissewo. Und wer in der Welt kennt überhaupt Briesen, wo ich vor jenen zig Jahren meine schönsten Sommerferien verbrachte.
Und weiter:
Die hier lebenden Enkel von Grossvater Levin und natives aus Briesen und Gollub behaupten zwar, Sie hätten die Chausseen in der Gegend etwas durcheinander gebracht. Aber was bedeutet schon geographische Pedanterie gegen die unverfälschten westpreussischen Ausdrücke! Na, und der spezifische Kalmusduft geht mir überhaupt nicht mehr aus der Nase.
Inmitten Masurens liegt am Niedersee, Jezioro Nidzkie, das Dorf Sowirog. Die Germanisierer nannten es Loterswalde. Seine Bewohner sind fort, der Pflug ist drüber hin. Die Wüstung von Sowirog liegt tot. Eine Fichtenschonung deckt den Ort, in dem Ernst Wiecherts „Jerominkinder“ ihr Leben begannen.
Jenseits des Niedersees wird es einsam, Grenzland. Hejdyk hat eine Reihe masurischer Holzhäuser gerettet, Schnitzwerk an Traufen und Giebeln, Vorlauben, geschweifte Fensterzargen, weiß abgesetzt die Balkenenden. Entlang den Dorfstraßen deuten Flieder, verwilderte Beerensträucher auf alte Wohnplätze. Dort führt aus Büschen eine Treppe ins Nichts, hier deuten Brunnen und Eiskeller auf frühere Wohnungen. Die Menschen sind fort, mit ihnen die Häuser.
Das Rätsel löst sich, sobald wir jenseits von Friedrichshof das Preußenland verlassen, an einem roten Zollhäuschen von einst vorbei und über den Grenzbach. In Dąbrowy finden wir die vermissten Häuser wieder, Stein für Stein von drüben hierher geschleppt, eine Stunde Weg nur oder zwei. An einem dieser Häuser ist die Jahreszahl der Verschleppung in den Putz gefügt – 1956.
Welche Zeit, welche Angst. Nicht weit von diesen masurischen Wäldern und Dörfern wird es gewesen sein, wo der Nachrichtensoldat Bobrowski am ersten Septembertag 1939 in Polen einmarschierte. Der 22-Jährige spürt und sieht.
Da sitzt in einer Ladenecke im polnischen Masowien Moise Trumpeter auf seinem Stühlchen. Der Laden ist klein, und er ist leer. Wahrscheinlich weil die Sonne, die immer hereinkommt, Platz braucht und der Mond auch. Der kommt auch immer herein, wenn er vorbeigeht. Der Mond also auch. Er ist hereingekommen, zur Tür herein, die Ladenklingel hat sich nur einmal und ganz leise nur gerührt, aber vielleicht gar nicht, weil der Mond hereinkam, sondern weil die Mäuschen so laufen auf den dünnen Dielenbrettern und ihr Mäusefest tanzen. Moise und der Mond sehen den Mäusen zu.
Ein deutscher Soldat steht in der Tür. „Wenn Se mechten hereintreten, Herr Leitnantleben“, sagt Moise. Und die Mäuse kommen wieder und tanzen um ihre Brotrinde:
Da sitzt man und sieht zu. Der Krieg ist schon ein paar Tage alt. Das Land heißt Polen. Es ist ganz flach und sandig. Die Straßen sind schlecht, und es gibt viele Kinder hier. Was soll man da noch reden? Die Deutschen sind gekommen, unzählig viele, einer sitzt hier im Judenladen, ein ganz junger, ein Milchbart. Er hat eine Mutter in Deutschland und einen Vater, auch noch in Deutschland, und zwei kleine Schwestern. Nun kommt man also in der Welt herum, wird er denken, jetzt ist man in Polen, und später vielleicht fährt man nach England, und dieses Polen hier ist ganz polnisch.
Der alte Jude lehnt an der Wand. Die Mäuse sind noch immer um ihre Rinde versammelt. Wenn sie noch kleiner geworden ist, wird eine ältere Mäusemutter sie mit nach Hause nehmen, und die andern Mäuschen werden hinterherlaufen.
Weißt du, sagt der Mond zu Moise, ich muß noch ein bißchen weiter. Und Moise weiß schon, daß es dem Mond unbehaglich ist, weil dieser Deutsche da herumsitzt. Was will er denn bloß? Also sagt Moise nur: Bleib du noch ein Weilchen. Aber dafür erhebt sich der Soldat jetzt. Die Mäuse laufen davon, man weiß gar nicht, wohin sie alle so schnell verschwinden können. Er überlegt, ob er Aufwiedersehn sagen soll, bleibt also einen Augenblick noch im Laden stehen und geht dann einfach hinaus.
Moise sagt nichts, er wartet, daß der Mond zu sprechen anfängt. Die Mäuse sind fort, verschwunden, Mäuse können das.
Das war ein Deutscher, sagt der Mond, du weißt doch, was mit diesen Deutschen ist. Und weil Moise noch immer so wie vorher an der Wand lehnt und gar nichts sagt, fährt er dringlicher fort: Weglaufen willst du nicht, verstecken willst du dich nicht, ach Moise. Das war ein Deutscher, das hast du doch gesehen. Sag mir bloß nicht, der Junge ist keiner, oder jedenfalls kein schlimmer. Das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Wenn sie über Polen gekommen sind, wie wird es mit deinen Leuten gehn?
Ich hab gehört, sagt Moise.
Es ist jetzt ganz weiß im Laden. Das Licht füllt den Raum bis an die Tür in der Rückwand. Wo Moise lehnt, ganz weiß, daß man denkt, er werde immer mehr eins mit der Wand. Mit jedem Wort, das er sagt.
Ich weiß, sagt Moise, da hast du ganz recht, ich werd Ärger kriegen mit meinem Gott.
(„Mäusefest“, 1962)
Der Nachrichtensoldat Bobrowski gelangt nach Frankreich, Russland folgt. Mehr als zehn Jahre später kommt er zurück zu den Eltern und zur Frau. Das Erlebte zu verarbeiten dauert. 1952 beschwört ein erstes Gedicht die Heimat, „Pruzzische Elegie“. Zwei Jahre darauf folgen die Verse des Gedichts „Kindheit: Da hab ich den Pirol geliebt“.
Die Kinder werden geboren. Bobrowski wehrt der Sehnsucht. Schuld verbietet ihm das Heimweh. Die Sehnsucht bleibt. 1959 schreibt er die Verse „Absage“:
(…)
Dort
war ich. In alter Zeit.
Neues hat nie begonnen. Ich bin ein Mann,
mit seinem Weibe ein Leib,
der seine Kinder aufzieht
für eine Zeit ohne Angst.
(„Absage“, 1959)
„Schreibe!“ endet Johann Gottfried Herder den 95. seiner Briefe zu Beförderung der Humanität.
„Schreibe!“ sprach jene Stimme und der Prophet antwortete: für wen? Die Stimme sprach: „schreibe für die Toten! für die, die du in der Vorwelt lieb hast.“ – „Werden sie mich lesen!“ – „Ja: denn sie kommen zurück, als Nachwelt.“
Oder, wie das Alte Testament in Psalm 102, Vers 19, sagt:
Das werde geschrieben auf die Nachkommen.
Dietmar Albrecht, aus TEXT+KRITIK, Johannes Bobrowski, Heft 165, Januar 2005
– Ostpreußen – das Sarmatien des Johannes Bobrowski. –
In der Kindheit und nirgends sonst ist das angelegt, was wir Heimat nennen.(Christian Graf Krockow)
Den Strom, die Memel/Nemunas, hat Johannes Bobrowski oft besungen in seinen Gedichten. Hier, in einer der größten und wichtigsten Städte Ostpreußens, in Tilsit (heute Sowjetsk), war er als Kind zuhause. Und als die Eltern nach Königsberg umzogen, fährt der Schüler Johannes Konrad Bernhard in den Ferien dann von dort über Tilsit am linken Memelufer hinaus auf die „andere“ Seite zu seinen Großeltern nach Wilkischken, einem der ältesten Kirchspiele des Memelgebietes auf dem Jura-Höhenzug, der sich entlang dem Flüßchen Jura hinzieht.
Vermutlich wird er dabei regelmäßig zumindest in „Sichtkontakt“ zu einer Erhebung in der Landschaft mit Namen Rombinus gekommen sein. auf der in grauer Vorzeit ein Heiligtum der Pruzzen gestanden haben soll als Sitz des Donnergottes Perkun.
Einst,
wulstigen Munds, Perkun
kam, eine Feder im Bart,
kam in der Hufspur des Elchs,
der Stotterer kam,
fuhr auf den Strömen, Finsternis
zog er, ein Fischernetz, nach.
Dort
war ich. in alter Zeit.
(„Absage“)
Und es darf wohl angenommen werden, daß diese Landaufenthalte weit „hinten“ im deutsch-litauischen Grenzbereich – dem Schüler das Gefühl für die an eine konkret zu benennende Landschaft gebundene Natursicht vermitteln. Wer die schwere Gestalt der späteren Berliner Jahre vor Augen hat, ahnt zumindest rein äußerlich etwas von diesen wohl auch durch bestimmte Anlagen beförderten Prägungen: „Übrigens sollte ich wirklich Bauer werden, ursprünglich, in der Gegend, wo ich herstamme.“ („Positionsbestimmungen“)
So also dürfen wir wohl davon ausgehen, daß der junge Hans Bobrowski mit einem ausgeprägten Sinn für seinen unmittelbaren jugendlichen Erlebnisraum Tilsit, Königsberg, Wilkischken begabt war, „man ist nicht unerfahren in dieser Gegend. Man weiß“ (Litauische Claviere). Deshalb auch liegt die Vermutung nahe, daß diese Begabung geweckt und „gefüttert“ wurde durch Großeltern („Greisinnen“) etwa, einen Geschichts- beziehungsweise Heimatkundelehrer vielleicht. Im Organ des Elternbeirates am Königsberger Stadtgymnasium Altstadt-Kneiphof von 1933 steuert der Obertertianer Hanns (!) Bobrowski für die in der Nummer vier zusammengefaßte Festschrift zur 600-Jahr-Feier seiner Schule (1333–1933) einen kleinen Aufsatz „Unser Nachtmarsch“ bei. Fast nebenher erwähnt er in seiner Beschreibung nächtlicher Pfadfinderei die Vergangenheit dieser Landschaft:
Da ragen plötzlich im Wald hohe Wälle auf. Der kleine Hausen, eine pruzzische Wallburg.
Ähnliche Kindheits- und Jugenderinnerungen an die heimatliche Landschaft und ihre Geschichte kann der aufmerksame Leser Bobrowskischer Lyrik häufig sogar direkt benannt finden:
einst, als die Tage alle
vollhingen noch von erhellten
damals in Wäldern der Heimat
…, wo uns
rauchender Opferhaine
Schauer befiel, vor Steinen,
bei lange eingesunkenen
Gräberhügeln, verwachsnen
Burgwällen, unter Linde,
nieder vor Alter, leicht –
wie hing Gerücht im Geäst ihr!
So in der Greisinnen Lieder
tönt noch,
kaum mehr zu deuten,
Anruf der Vorzeit
(„Pruzzische Elegie“)
1961 erschien im Ostberliner Union Verlag, wo Bobrowski als Lektor arbeitete, sein erster Gedichtband Sarmatische Zeit, mit dem er einen „Sarmatischen Divan“ beginnen wollte und für den ihn dann auch bald ein „kleiner Ruhm“ fand. Nahezu gleichzeitig waren diese Gedichte in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart erschienen. Christoph Meckel, der Freund, hatte sich für ihr Erscheinen eingesetzt und mit einer einfühlsamen Radierung den Einband gestaltet. Doch zwischen den beiden quasi parallelen Ausgaben bestand der Unterschied nicht so sehr in dem schlichten Ost-Berliner Leinen- bzw. dem Stuttgarter Graphik-Einband, als vielmehr in der überraschenden Tatsache, daß in der bundesdeutschen Ausgabe ein für den Autor wichtiges Gedicht fehlte: die „Pruzzische Elegie“.
In Stuttgart hatte man vermutlich gemeint, die hierin behandelte Thematik würde wohl schon aus Gründen der geschichtlichen Ferne und dann noch in Verbindung mit dem Begriff Heimat in der heutigen Leserschaft keine Resonanz mehr finden. Die Gründe dagegen, die den Ost-Berliner Union Verlag letztlich zur Veröffentlichung des Gedichtes veranlaßt haben mögen, liegen im Bereich des Spekulativen, zumal in der DDR das verstohlene, dennoch gewichtige Wort Heimat zu einer Welt gehörte, „in der Fremdartiges vertraut und das Vertraute fremd ist und die für uns immer noch der Erklärung bedarf“ (Helmut Ullrich in Neue Zeitvom 19.11.1961).
Außerdem galt der Begriff in der DDR offiziell als belastet mit Vorstellungen von revanchistischem Anspruch auf unwiederbringlich verlorene Gebiete, schlimmer noch, als Domäne der westdeutschen Vertriebenenverbände und ihrer „Scharfmacher“. Auch dagegen hatte man ja schließlich den „antifaschistischen Schutzwall“ am 13. August 1961 errichtet.
Heimat, das Wort war korrumpiert. Es war ein von Groß- und Kleinideologien zerstörtes, unerträglich falsch beladenes Wort – und weil er es brauchte, hielt er es fest, und weil er sich zutraute, Heimat zu erneuern. „Laß mal, sagte er, „ich weiß, was das ist“. (Christoph Meckel: Erinnerung an Johannes Bobrowski)
Das Drei-Flüßchen-Land zwischen Jura, Mitwa und Szeszupe im Memel-Gebiet, die Heimat des Dichters und ein Ort, der Bobrowski auf ganz eigene Weise paradiesisch erschien:
Dort war der Himmel
aufgetan, in der Farbe des Kinderhaars.
Schöne Erde Vaterland.
(„Das verlassene Haus“)
Von des „Dichters Ort“ wäre jetzt zu sprechen, dem geographischen, dem geschichtlichen und nicht zuletzt dem ideellen – eben seinem Sarmatien, „jener Welt da drüben oder ,da oben‘, also nordöstlich, die wir… für das Verständnis Bobrowskis… benötigen; und die allgemeine Kenntnis dieser Gegend ist doch schon ziemlich verblaßt… hätte Bobrowski den Namen nicht erkoren… sondern existierte nur in einigen Lexika…“ stellte der Germanist Alfred Kelletat in seinen Noten zum Sarmatischen Divan des Johannes Bobrowski 1977 fest.
Nach diesen alten Lexika führt „alles Land zwischen der Weichsel und der Wolga… in der Wissenschaft den Namen ,Sarmatische Tiefebene‘ ward nach griechischer Annahme (seit Alexander)… in eine europäische und eine asiatische Hälfte geschieden. Die Bewohner. Sauromaten oder Sarmaten. kommen schon bei Herodot vor…“.
Und die „Preußen“ oder Pruzzen, ein „baltischer Volksstamm, wohnte östlich der unteren Weichsel, gehörte zur baltischen Sprachgruppe. … Die Religion… bestand in der Verehrung der Naturgewalten. … Die endgültige Christianisierung… gelang erst dem (von poln. Fürsten/d.A.) herbeigerufenen Deutschen Orden… Die pruzzische Sprache blieb noch bis ins 17. Jahrhundert lebendig. Reste von ihr sind in zahlreichen geographischen Namen enthalten.“
Der Ostpreuße Johann Gottfried Herder schreibt in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1791) auch über diese Landschaft und ihre Stämme.
Wer die fundiert humanistische Schulbildung, die Johannes Bobrowski auf dem Königsberger Gymnasium Altstadt Kneiphof erhalten hat, berücksichtigt, der darf wohl auch mit einigem Recht vermuten, daß bereits dem Gymnasiasten solche und ähnliche Texte nicht unbekannt gewesen sein mögen. Nachweislich gekannt aber hat Bobrowski folgenden Text eines Königsberger Autors:
Die östliche Provinz des deutschen Landes ist seit je die ergiebigste Quelle eigenartiger Menschen und Begebenheiten gewesen. Große Namen und Ereignisse deutscher Kultur wurzeln in ihrem herben Boden…
Und man wird unfehlbar die Taten der deutschen Ordensritter preisen, die allerdings viel taten, aber auch die männliche Bevölkerung des eingeborenen Pruzzenvolkes mit der Schärfe des Schwertes nicht immer lautersten Sinnes tödlich aufs Haupt schlugen, die Witwen beschliefen und jahrhundertelang das jus primae noctis ausübten.
Die Passage stammt aus dem 1926 unter dem Titel Die verlorene Erdeerschienenen Roman von Alfred Brust, jetzt zu finden im Bücherschrank von Johannes Bobrowski, in Berlin-Friedrichshagen, Ahornallee 26 und Gerhard Wolf zitiert sie in seiner einfühlsamen Annäherung an Johannes Bobrowski Beschreibung eines Zimmers. Aus einer Notiz im Lebenslauf Bobrowskis wissen wir von seiner „Freundschaft mit dem Dichter Alfred Brust“.
Es erscheint durchaus legitim, in den zitierten Texten wenigstens ansatzweise Wurzeln zu entdecken, die Bobrowskis Verhältnis zur Geschichte seiner Heimat und der späteren Einordnung in seine historische Gesamtschau genährt haben:
Gewaltige Geschichten bis zum schwarzen Meer, Vytautas der Große und wegen Jagiello: die polnische Geschichte nur ein Ableger der litauischen, jedenfalls damals. Sie kennen das, und heiß geliebt und gepflegt, wie Versunkenes eben.
Ein unwiderruflich untergehendes Volkstum, um das es schade ist, die Zurückdrängung geschieht von Süden nach Norden, eine aussterbende Sprache von größter Schönheit, eine Volkspoesie von höchstem Reichtum, schon Johann Wolfgang von Goethe und Johann Gottfried Herder…
Mit dem Wissen darum ließe sich Heimat neu entdecken, ohne sie besitzen zu müssen. Das Dorf Tolmingkehmen am nördlichen Rand der Rominter Heide gehört (noch) zur sowjetisch-militärischen Bannmeile um Kaliningrad, das vielleicht bald wieder nach dem Willen seiner jetzigen Bewohner Königsberg heißen könnte. Seit langem bemühen sich die selbstbewußten Litauer um Zugang nach Tolmingkehmen. Sie möchten im Gedenken an den geistlichen Dichter, von ihnen als Begründer ihrer Nationalliteratur verehrt, das Dorf zur Gedenkstätte umgestalten und ihm den seines berühmtesten Einwohners geben: „Und es könnte einen reißen, wieder davon zu lesen.“
Seit jeher galt die Welt des Ostens als eroberungs-, kolonisierungs- und oft genug auch als kultivierungswürdig. Und noch heute ist vielen Zeitgenossen die Geschichte dieser Religion nur als mehr oder weniger großer weißer Fleck auf ihrer Bildungslandkarte vorhanden. Für Bobrowski dagegen ist es:
Eine lange Geschichte aus Unglück und Verschuldung seit den Tagen des deutschen Ordens, die meinem Volk zu Buch steht. Wohl nicht zu tilgen und zu sühnen, aber eine Hoffnung wert und einen redlichen Versuch in deutschen Gedichten. („Mein Thema“)
Und dafür suchte er Wirkung. Kaum ein Autor der Gegenwart hat das so häufig, vor allem aber so deutlich gesagt, zu sagen gewagt wie er.
Ich beziehe mich also möglichst auf das, was ich selber kenne, ich will möglichste Authentizität, weil ich denke, daß „wahre Geschichten“ noch immer eher überzeugen: weil ich eine Wirkung wünsche. („Benannte Schuld gebannte Schuld?“)
Bobrowski erzählt und singt von den Völkern des europäischen Ostens, in seinem Arbeitszimmer hängt eine Karte Osteuropas aus einem Atlas der Zeit von 1939, in die er fünf Zonen eingezeichnet hat: seinen sarmatischen Raum im Bereich Ostpreußen und darüber hinaus. Sein Blick in die Geschichte dieser Region galt den Verdrängten und ihrer Kultur, bis hin zu ihrer gestorbenen Sprache, die er sorgsam in einem Heft als verstreute Vokabeln zusammentrug und die wir in vielen seiner Dichtungen wiederfinden
Ihm galt die Kolonisierung – wie es auch von einem beträchtlichen Teil von Historikern vertreten wird (in Sonderheit in der DDR) – als eine Geschichte der Unterdrückung und Ausrottung, die mit dem durch Deutsche entfesselten Zweiten Weltkrieg eine letzte, hybride Steigerung erfuhr. Und so wolle er den seit Jahrhunderten auf diese Region gerichteten Kolonisierungsdrang mit seinen engagierten Texten abbauen, unser Verständnis für eine eigenständige europäisch eingebundene Kulturlandschaft wecken.
Aber wenn er sich und uns nicht aus der Verantwortung unserer gesamten Geschichte entläßt – „ich hab aufgehoben, dran ich vorüberging, Schattenfabel von den Verschuldungen und der Sühnung…“ („An Klopstock“) – geht es ihm nicht um Schuldzuweisung oder ein schlechtes Gewissen bei seinen Lesern, obgleich er Wirkung wünscht. Sein Anliegen ist, Verantwortung zu benennen. Hilfe bei der „Rekultivierung“ unserer östlichen Bewußtseinshälfte zu leisten.
Hans-Georg Mann, Neue Zeit, 1.12.1990
Was den Leser der Gedichte von Johannes Bobrowski unmittelbar ansprechen mag, ist das „Östliche“ in ihnen, für das wir so empfänglich sind. Östliche Landschaft zwischen Weichsel und Wolga – Sarmatien, wie es in älterer Zeit hieß – taucht auf; östliche Städte – Wilna, Kaunas, Nowgorod – erscheinen. Die Götter der alten Pruzzen werden angerufen, deren seltsame Namen – Perkun, Pikoll, Patrimpe – die Kinder, die wie der Dichter an den Ufern der Memel aufwuchsen, ebenso selbstverständlich in der Schule lernten wie Nebenflüsse der Memel: Jura, Mitwa, Szeszupe. Und wer sie dort gelernt hat, der liebt sie, liebt den Klang der Namen wie die Flüsse selbst und den Strom mit den treibenden Eisschollen im Frühjahr, den grünen Dämmen, liebt die Dörfer mit den weiten Straßen und Plätzen, den jüdischen Händler mit seinem Wägelchen, die litauischen Lieder, die wilden Schwäne und die einsam in der Ebene aufragenden Windmühlen.
Die Bilder dieser Landschaft der Jugend zitiert Johannes Bobrowski in seinen Gedichten, dazu die Bilder einer noch östlicher gelegenen Landschaft, die sich ihm als Kriegsgefangener einprägten. Selbst wenn damit die wesentlichen Themen dieses Dichters genannt wären [die Skala ist in Wahrheit um einiges breiter], würde mit solchen Andeutungen über die Gedichte selbst wenig gesagt sein; wir haben nur von dem Stoff gesprochen, aus dem sie gemacht sind. Zwar könnte man meinen, die lyrische Kunst dieses Autors bestehe gerade darin, aus den Tiefen des Gedächtnisses das östliche wiederzuerwecken und zu bewahren im Gedicht; aber das hieße denn doch das Wesen eines lyrischen Gedichts verkennen. Es ist keine Reproduktion, und die Sprache hat darin keine beschreibende Funktion; sie schafft eine eigene Welt, einen sprachlichen Mikrokosmos, der als ganzer neu und einmalig ist. Fragen wir daher weniger nach dem östlichen in Johannes Bobrowskis Lyrik, begeben wir uns auf die Suche nach den Gedichten selbst.
„Da hab ich / den Pirol geliebt –“ beginnt ein der Kindheit an der Memel sich zuwendendes Gedicht aus dem ersten Band, ein frühes, wie wir meinen. Nur diese Phrase am Anfang, die am Ende wiederholt wird, ist gezeichnet vom Pathos des Erinnerns, ist gleichsam gestischer Ausdruck der Ergriffenheit vom Erinnerten. Die Bilder der Kindheit selbst – sieben Stationen des Tages, vom morgendlichen Glockenklingen bis zur Nacht – rücken in die Distanz, sie sind im reinen Imperfekt, einem für die Lyrik ungewöhnlichen Tempus „erzählt“. Man spürt den Willen zu strenger Stilisierung, die das Intime solcher Kindheitserinnerungen objektivieren, das Schwärmerische zurücknehmen soll; spürt die Absicht, den Bildern etwas Exemplarisches zu geben – sie wird auch erreicht, zumindest in einer Strophe wie dieser:
Da sang die Alte in ihrer
duftenden Kammer. Die Lampe
summte. Es traten die Männer
herein, sie riefen den Hunden
über die Schulter zu.
Auffällig ist der durchgängige Gebrauch des Enjambements – eines Kunstmittels, das, wie der Reim, lyrisches Sprechen in einer vom logischen Sinnbezug unabhängigen Weise gliedert. Der Wille zur Kunstform setzt sich darin gegen den gewohnten syntaktischen Verlauf. In anderen Strophen dieses Gedichtes „Kindheit“ aus der Sarmatischen Zeit wird eine solche Abweichung vom Prosaduktus mit Hilfe von Appositionen oder auch Inversionen erreicht wie beispielsweise in den folgenden:
das Glockenklingen, droben
aufscholls, niedersanks
durch das Laubgehäus,
wenn wir hockten am Waldrand,
auf einen Grashalm reihten
rote Beeren; mit seinem
Wägelchen zog der graue
Jude vorbei.
Auch wer nicht weiß, daß Johannes Bobrowski in früheren Jahren, in Rußland, mit Hilfe der alkäischen Strophe die Landschaft um den Ilmensee im Gedicht zu zeichnen versuchte, wird sich an klassische Strophenformen mit ihren besonderen Wortfügungen erinnert fühlen. Man ahnt das Vorbild des großen Dichters, der einst in antiken Odenmaßen die Landschaften, die Ströme im Westen des Vaterlandes, Neckar und Rhein, besang.
Die in „Kindheit“ sich andeutenden Formtendenzen treten in anderen Gedichten ausgeprägter in Erscheinung. In ihnen wird die Aufsplitterung des Satzgefüges zu einem tragenden Formprinzip, und noch verschärft durch Verzicht auf grammatikalisch-syntaktische Ausführlichkeit überhaupt. Einzelne Wörter müssen für einen Satz einstehen; sie erhalten dadurch besonderes Gewicht; und die Aussage bekommt durch Aneinanderfügung solcher isolierten Einzelelemente etwas Gedrängtes, Geballtes, wie in dem Gedicht „Ikone“:
Türme, gebogen, verzäunt
von Kreuzen, rot. Finster
atmet der Himmel…
Kein Legato, kein Gleiten, sondern harte Fügung, mit einer Tonhöhe fast auf jedem Wort. Und wo die Brechung, die Aufhebung der geläufigen syntaktischen Abfolge und Ausführlichkeit durch Apposition oder Inversion nicht gegeben ist, wird das Enjambement zu Hilfe genommen und so, zumindest formal, eine Brechung erreicht, eine Zäsur, die beim Lesen zum Absetzen zwingt. Meist erfolgt auf die dichte, harte Fügung eine Auflockerung, eine Auflösung, die rhythmisch wie ein Ausatmen wirkt, oft am Ende der Strophe oder auch in ihrer Mitte, während sie am Anfang meistens geballt ist. So auch in dem großen Gedicht „Von den Strömen“ beispielsweise:
Von den Strömen
gekommen der See, gefangen
durch Zähne und Klauen, Brandung,
Küsten, diese Wälder aus zitternder Luft –
Obgleich Gegenstände der Natur – Vegetation und Getier, die Erscheinungen des Wetters, die Elemente, geologische Formen: Hügel, Hang und Berg und Ebene – in die Gedichte eingehen, zögert man, diese als Naturlyrik zu bezeichnen; denn es ist eigentlich das Landschaftliche, das vorherrscht. Natur und Landschaft sind zweierlei: Natur ist überall Natur, Landschaft aber ist überall anders; und gerade das Eigentümliche von Landschaften in ihrer geographischen, ethnographischen, historischen und kulturgeschichtlichen Prägung sucht Bobrowski zu fassen. Alle seine Gedichte, wie sie auch betitelt sein mögen – „Der litauische Brunnen“, „Das Holzhaus über der Wilia“, „Die Memel“, „Der Ilmensee 1941“, „Auf der Taurischen Straße“ – atmen landschaftliche Eigenart.
Und atmen im eigentlichen Sinne des Wortes; es ist die ungewöhnliche Gliederung der Rede, das Vereinzeln der Wörter und Satzteile, das Absetzen und wieder Ansetzen, das sie atmen macht, nicht gleichmäßig, aber natürlich, lebendig:
Seele,
voll Dunkel, spät –
der Tag mit geöffneten
Pulsen, Bläue –
die Ebene singt.
Das Gedicht „Die Sarmatische Ebene“ beginnt so, Weite ausströmend. Wenig, nichts ist mehr zu spüren vom alkäischen Strophenschema; ein freier eigener Gang der Rede ist gefunden. Auch der Fügung der Worte haftet nichts Absichtliches, nichts Harsches mehr an. Dabei ist sie strenger und freier zugleich geworden: sie bedarf nicht mehr solcher Kunstmittel wie Enjambement oder Inversion oder der Apposition, um den Sprachfluß zu unterbrechen und die Gegenkraft des Formalen wirksam zu machen. Ganz unangestrengt treten jetzt die einzelnen Elemente der Rede, aus ihrem Kontext herausgelöst, frei nebeneinander: „Seele, / voll Dunkel, spät –“, oder, in einer anderen Strophe:
Ebene,
riesiger Schlaf,
riesig von Träumen, dein Himmel
weit, ein Glockentor,
in der Wölbung die Lerchen,
hoch –
Diese Gelöstheit ist nicht nur durch das Thema des Gedichts „Ebene“ bedingt: sie tritt auch in anderen auf und deutet auf eine in der formalen Handhabung des Stoffes gewonnene Sicherheit und Freiheit. Freiheit aber auch dem Stoff selbst gegenüber ist gewonnen worden.
Wie weit sie reicht, wird vor allem in dem Gedichtband Schattenland Ströme deutlich. Längst schon losgelöst vom erinnerungshaften Bezug, trat die Landschaft: die Ebene, der Strom, das Dorf, direkt entgegen. Nun aber – und dahin drängte diese gegenüber dem Stoff gewonnene Freiheit – macht sich auch eine Loslösung vom Landschaftlich-Einmaligen bemerkbar: die sarmatisch-irdische Landschaft entrückt, sie wird gleichsam zu einer inneren. Wer möchte nicht schon bei den folgenden Versen des Gedichtes „Windmühle“ zweifeln, daß es sich noch um eine reale Landschaft handle:
Licht,
schäumendes Licht,
über der Ebene, steil,
Berg aus Glanz, ungeheures
Rauschen, es fliegen die Stürme,
atmend von Blitzen, die schreckliche Wand
steigt an den Himmel.
Eine visionäre Landschaft scheint es zu sein; und von einer solchen Landschaft auch spricht das Gedicht „Erzählung“:
Heller Sand, Spuren,
grün, und der fliegende Wald
Finsternis, hoch der stählerne Fisch
fährt durch die Bäume…
Eine Spiritualisierung der Landschaft und ihrer Elemente deutet sich an, wie sie in ähnlicher Weise bei dem französischen Dichter Pierre Jean Jouve stattfindet. Ein Thema aus dessen Gedichten wird auch bei Johannes Bobrowski hörbar: eine Sehnsucht nach Leichtigkeit und Licht aus dem Bewußtsein der eigenen Erdenschwere. „Bäume irdisch, und Licht“ beginnt das Gedicht „Hölderlin in Tübingen“ – eines der schönsten des Bandes Schattenland Ströme –, in dem dieser Gegensatz als untergründiges Thema nur an den gegensätzlichen Metaphern abzulesen ist: dem beweglichen Wasser und der Schwere der Mauern, des Turms; dem Schatten, der auf den grünen Fluß fällt; dem „Drehn der eisernen Fahnen“. Aber direkt ausgesprochen wird es in dem Gedicht „Ungesagt“:
Schwer,
ich wachse hinab,
Wurzeln
breite ich in den Grund,
die Wasser der Erde
finden mich, steigen,
Bitternis schmeck ich – du
bist ohne Erde,
ein Vogel in den Lüften, leichter
immer im Licht,
nur meine Angst noch
hält dich
im irdischen Wind.
Nicht umsonst taucht das Wort „irdisch“ auf in den Gedichten, immer sein Gegenteil insinuierend; nicht umsonst das Bild des Vogels so oft, des Flügels – als Symbol für die Überwindung der Erdenschwere. Auf ihre Weise „gelassen“ waren Bobrowskis Gedichte immer. Aber es ist noch etwas anderes, ist mehr als Gelassenheit, was Verse wie die folgenden bestimmt:
Blau.
Die Lüfte.
Der hohe Baum,
den der Reiher umfliegt.
Schon die abschließenden Punkte an Stelle der weiterleitenden Kommata deuten es an: es ist Ruhe, nicht ganz ohne Wehmut, ist, wenn auch zögernde, Gewißheit des Heimwegs:
… Das Ruder
zerbrochen, so werd ich nicht sinken, ich gehe
über den Strom.
Dieses Gedicht heißt ausdrücklich „Heimweg“; aber ähnlich klingt es auch aus anderen, aus „Immer zu benennen“, „Gertrud Kolmar“, „An Nelly Sachs“. Und wo es nicht Gewißheit ist, da ist es Hoffnung, und wo das Grauen nicht weicht, da tritt aus seiner Mitte „Liebe…, eine weiße Gestalt“ [„Else Lasker-Schüler“].
Es ist uns bewußt: wir haben eine Entwicklung gezeichnet, wie sie in Wirklichkeit vielleicht nicht stattgefunden hat [wenn sie auch in ihrem Verlauf natürlich und wahrscheinlich ist]. Die Gedichte sind nicht chronologisch geordnet und nicht datiert; wir haben daher keinen Beweis, müßten den Dichter fragen. Aber ist es keine Entwicklung, so sind es doch verschiedene wirklich vorhandene Verfassungen, die sich abzeichnen, Phasen einer menschlichen Haltung, wie sie im Gedicht ihre Ausprägung fand. Das Gedicht ist nicht ohne den Dichter.
Man fragt sich, ob Johannes Bobrowskis Verse „modern“ – um dies abgegriffene Wort ruhig einmal zu gebrauchen – zu nennen seien. Daß dieser Lyriker die Sprache in unkonventioneller Weise handhabt, ist offenbar geworden: er verzichtet auf ein metrisches Schema, verzichtet auf den Reim – mit einer Ausnahme in dem Gedicht „Dorfmusik“, wo der Reim gleichsam vom Titel und Thema her, als Anklang an den Bänkelsang, also in einem parodistischen Sinne, gefordert erscheint; er geht noch weiter und verzichtet auf den Satz; das Sprachmaterial wird zerbröckelt, und das Gesagte setzt sich aus in grammatikalischer Hinsicht isolierten Elementen zusammen, aus Hauptwörtern im engeren und weiteren Sinne. Außerdem bedient er sich spracharchitektonischer Mittel wie Symmetrien, Wiederholungen, und gebraucht das Zitat – alles Merkmale dessen, was man als „modernes Gedicht“ anzusprechen pflegt. Auf der anderen Seite aber haben diese modernen Formzüge in den Gedichten Bobrowskis nie den Charakter des Experimentellen; seine Lyrik ist nicht abstrakt oder konkret, wie man sagt. Das heißt: die Wortanordnung löst sich nicht von einer vorgefaßten Sinnbezogenheit, um nur dem rhythmisch-musikalischen Moment der freien Affinität der als Material genommenen Wörter zu folgen. Das sprachspielerische Element gewinnt nie die Oberhand, kommt nicht an gegen eine Bedeutungsträchtigkeit, die die Eigenmacht sprachlicher Bildung unterdrückt. Meist ist es der Einsatz des Gedichtes, der frei und unbezogen gesetzt wird, wie in dem Gedicht „Am Fluß“: „Himmel, / die Bläue, Bogen/ alt, …“ Die Freiheit aber erhält sich nicht; die scheinbar unbezogene Wortfolge wird alsbald von einem Bedeutungsgehalt aufgesaugt. Wie weit das Element des Sprachspielerischen vordringen kann, zeigt sich beispielsweise am Ende des Gedichtes „Ostern“:
… es ist
erstanden der Herr, so ruft,
Augen ruft, Wange, ruf, Mund, ruf Hosianna.
Bedeutungsgehalt und Sprachspiel halten sich hier das Gleichgewicht, was dann eine Schwerelosigkeit bewirkt, wie sie nur den vollkommenen Gebilden der Kunst eigen ist.
Noch eine Frage drängt nach Klärung, die in einem anderen Zusammenhang mit der Unterscheidung von Natur und Landschaft zu kurz abgeschnitten wurde, als daß sie nicht noch einmal aufgegriffen werden müßte. Wesenszüge und Merkmale des neueren Naturgedichts sind von Karl Krolow in „Aspekte zeitgenössischer Lyrik“ bestimmt worden. Danach ist es ein wesentlicher Zug dieser Lyrik, daß der Dichter sich selbst aus seinen Versen „herausnimmt“ und aufhört, von sich selbst zu sprechen. Er spricht auch nicht von der Natur, sondern wird zum verstummenden Beobachter und läßt die Natur selber sprechen.
Selbst wenn man statt Natur: Landschaft setzte, träfe das Gesagte für die Gedichte Bobrowskis nicht zu. Das Ich, oder auch das Wir, das in ihnen erscheint, ist das eines Erzählers. „Ich sah“, „Ich hörte“ – sind Wendungen, mit denen der Dichter sich ins Gedicht einführt, das eine Stilisierung ins Epische erfährt. „Einmal / am Rande der Steppe, / wir kamen vom Gurkenfeld, / an der Straße lagerten / die Kamele…“ [„Auf der Taurischen Straße“] – so wird, fast möchte man sagen: erzählt. Nicht „Mund“ der Natur ist der Dichter, sondern Erzähler des Landschaftlich-Einmaligen.
Und es ist auch nicht Scheu vor der Indiskretion, vor dem Gefühligen, Allzulyrischen – wie bei den Dichtern der Naturlyrik –, was Bobrowski dazu führt, einem Objektiven, der Landschaft sich anzuvertrauen: vielmehr die Faszination, die diese auf ihn übt, bestimmt ihn, von ihr zu sprechen. [Auch Gestalten wie Hans Henny Jahnn, Góngora, Dylan Thomas zwingen ihn aus ihrer Faszinationskraft heraus zum lyrischen Porträt.]
Bobrowski scheut sich auch nicht, das epische Ich im Gedicht durch das lyrische zu ersetzen; wo das geschieht, erscheint es mit schöner Selbstverständlichkeit. Jene Thematik, die, wie wir sahen, gegen die landschaftliche sich durchsetzte – ein empfundener Gegensatz zwischen eigener Schwere und möglicher Leichtheit –, bezieht sich durchaus auf das Ich, ist aber auch weit genug, um über das Einzel-Ich hinauszugreifen. Und wo Persönliches gesagt ist, hat es sein Gegengewicht im Formalen, ist es aufgehoben im Kunstgebilde, das sein Gedicht ist.
Britta Titel, aus Schriftsteller der Gegenwart. Deutsche Literatur. Dreiundfünfzig Porträts herausgegeben von Klaus Nonnenmann, Walter Verlag, 1963
JOHANNES BOBROWSKIS ZIMMER
Zum 100. Geburtstag
Ich trete ein
Fußmatte im Windfang
Der Dichter
hat Staubspuren
hinterlassen
riecht aus der
alten Sofadecke
noch 40 Jahre
danach
In den Folianten
fliegen Gedanken auf
die Landkarten
zeichnen einen Lebensweg
die Ostsee liegt vor
der Haustür
Er hat seinem Schattenland
nachgespürt an den
Strömen klappern
die Mühlen raschelt
das Schilf auch am
Müggelsee lockt
ein Klavier
das er erst stimmen muss
Weggefährten erinnern
damals war’s
In Friedrichshagen floss
mehr Wodka als Spreewasser
erzählten wir in Westberlin
Wer einen Westpass hatte
konnte rüber nach dem
Mauerbau – in Friedrichshagen
war die Luft duftig
von Linden und Maulmeerbäumen
in der Bölschestraße
Der Putz der Gründerzeit
bröckelt
und der Rost
hinterlässt
Filigranspuren im Regen
In der Ahornallee 26
hatte die Zeit innegehalten
Zu seinem Hundertsten allerdings
sind seine Bücher aushäusig
liegen die Manuskripte
geordnet im Archiv
die Folianten verschwenden
sich nicht mehr im Hochformat
und die vergilbten Landkarten
haben das Land Sarmatien
in die Fantasie entlassen…1
Jenny Schon
MORSECODE
Schnee verschlossener
Mund.
Kein zeitloses Licht,
Klopfzeichen,
aus dem Erdloch.
„Schrei herüber, der Wind
schlägt in die Harfenstricke
– Tiergedärm, auf die Äste
der Birke gewunden,
… So war die Straße…“,2
sagt Jelisaweta.
Wie fern
die Wünsche
einer Sommerwolke
mit Papier und Bleistift
zu reisen.
Ulrich Grasnick
Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962 und 1965 für die Quartplatten des Klaus Wagenbach Verlages.
Johannes Bobrowski liest Gedichte und Prosa 1962. Bei dieser Aufnahme handelt es sich mit ziemlicher Sicherheit um die Lesung Johannes Bobrowskis zur Tagung der Gruppe 47 in Berlin, auf der Bobrowski den Preis der Gruppe 47 erhielt.
Gerhard Wolf: Johannes Bobrowski: Leben und Werk
Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski
Walter Gross: Der Ort, wo wir leben
DU, Heft 2, Februar 1965
Günter Hartung: Johannes Bobrowski
Sinn und Form, Heft 4, 1966
Wilhelm Girnus: Für Johannes Bobrowski
Sinn und Form, Heft 6, 1967
Jürgen Joachimsthaler: Bobrowskis Häutungen
literaturkritik.de, 5.4.2017
Andreas Degen: Kafka zum Beispiel
literaturkritik.de, 9.4.2017
Thomas Taterka: Der letzte Talissone
literaturkritik.de, 5.4.2017
Sabine Egger: Martin Buber und Johannes Bobrowski
literaturkritik.de, 16.4.2017
Andreas F. Kelletat: Vom Ende der Sesshaftigkeit
literaturkritik.de, 5.4.2017
Reiner Niehoff: Bobrowski-Fragmente
SWR2, 19.6.2017
Jürgen P. Wallmann: „ich hab gelebt im Land, das ich nenne nicht“
Die Tat, 3.9.1966
Gerhard Desczyk: „… so wird reden der Sand“
Neue Zeit, 9.4.1967
Peter Jokostra: Gedenkzeichen und Warnzeichen
Die Tat, 29.8.1975
Gerhard Rostin: Der geht uns so leicht nicht fort
Neue Zeit, 9.4.1977
Jürgen Rennert: Von der Sterblichkeit der Dichter
Das Literaturjournal, 3.9.1980
Gerhard Wolf: Stimme gegen das Vergessen
Freibeuter, Heft 25, 1985
Reinhold George: Brober
Schattenfabel von den Verschuldungen. Johannes Bobrowski zur 20. Wiederkehr seines Todestages, Amerika Gedenkbibliothek, Berliner Zentralbibliothek, 1985
Michael Hinze: Mitteilungen auf poetische Weise
Berliner Zeitung, 9.4.1987
Eberhard Haufe: Der Alte im verschossenen Kaftan
Neue Zeit, 9.4.1987
Annett Gröschner: Der sarmatische Freund
Die Welt, 29.8.2015
Christian Lindner: Mit dem dunklen Unterton der Melancholie
deutschlandradiokultur.de, 2.8.2015
Lothar Müller: Nachrichten aus dem Schattenland
Süddeutsche Zeitung, 1.9.2015
Helmut Böttiger: Große existenzielle Melodik
Süddeutsche Zeitung, 6.4.2017
Dirk Pilz: Dem großen Dichter zum 100. Geburtstag
Berliner Zeitung, 6.4.2017
Dirk Pilz: Ostwärts der Elbe
Frankfurter Rundschau, 7.4.2017
Arnd Beise: Ein Christenmensch und ein großer Geschichtenerzähler
junge Welt, 8.4.2017
Klaus Walther: Johannes Bobrowski: In „Sarmatien“ eine poetische Heimat gefunden
FreiePresse, 7.4.2017
Richard Kämmerlings: Der Deutsche, der an der Ostfront zum Dichter wurde
Die Welt, 9.4.2017
Cornelius Hell: Wer war Johannes Bobrowski?
Die Presse, 7.4.2017
Klaus Bellin: Erzählen, was die Leute nicht wissen
neues deutschland, 8.4.2017
Tom Schulz: Mein Dunkel ist schon gekommen
Neue Zürcher Zeitung, 9.4.2017
Manfred Orlick: Die Deutschen und der europäische Osten
literaturkritik.de, 5.4.2017
Oliver vom Hove: Der Dichter verlorener Welten
Wiener Zeitung, 9.4.2017
Wolf Scheller: Poetische Landnahme im Osten
frankfurter-hefte.de, 1.4.2017
Klaus Wagenbach spricht über Johannes Bobrowski und Günter Grass liest die Erzählung „Rainfarn“.
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