Johannes Görbert: Zu Jan Wagners Gedicht „selbstporträt mit bienenschwarm“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Jan Wagners Gedicht „selbstporträt mit bienenschwarm“ aus Jan Wagner: Regentonnenvariationen.

 

 

 

 

JAN WAGNER

selbstporträt mit bienenschwarm

bis eben nichts als eine feine linie
um kinn und lippen, jetzt ein ganzer bart,
der wächst und wimmelt, bis ich magdalena
zu gleichen scheine, ganz und gar behaart
von bienen bin. wie es von allen seiten
heranstürmt, wie man langsam, gramm um gramm
an dasein zunimmt, an gewicht und weite,
das regungslose Zentrum vom gesang…
ich ähnele mit meinen ausgestreck-
ten armen einem ritter, dem die knappen
in seine rüstung helfen, stück um stück,
erst helm, dann harnisch, arme, beine, nacken,
bis er sich kaum noch rühren kann, nicht läuft,
nur schimmernd dasteht, nur mit ein paar winden
in seinem inneren, etwas alter luft,
und wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden.

 

Vom Aufgehen des Lyrikers in seiner Kunst

I. Wagners Signature Poem
In Jan Wagners Gesamtwerk liegt bisher sicherlich kein zweites Gedicht vor, das eine derartig exponierte Position für sich beanspruchen kann wie „selbstporträt mit bienenschwarm“. In der für den Autor charakteristischen konsequenten Kleinschreibung beschließt der Text sowohl den preisgekrönten Band Regentonnenvariationen von 2014 als auch die Sammlung seiner Gedichte von 2016, die, nunmehr in den orthographisch konventionellen Großbuchstaben, ebenfalls den Titel Selbstporträt mit Bienenschwarm trägt.1 Für die 2015 erschienene Übersetzung von ausgewählten Gedichten ins Englische gilt das Gleiche: Auch hier lautet der Titel des Schlussgedichts wie des Gesamtbandes analog: Self-Portrait with a Swarm of Bees.2 Es liegt also nahe, das Gedicht schon allein aufgrund seiner prominenten Platzierung als Schlüsseltext für Wagners Schreiben einzuschätzen,3 als ein signature poem, das besonders ergiebige Zugänge zu Autor und Werk verheißt.4 In der literaturwissenschaftlichen Forschung ist dies nicht unbemerkt geblieben: Obwohl das Gedicht zum jetzigen Zeitpunkt erst seit etwas mehr als drei Jahren veröffentlicht ist, widmen sich ihm bereits eine Reihe von (meist kürzeren) Beiträgen.5
Nicht nur die Platzierung, auch der Wortlaut des Titels fällt bedeutungsvoll aus. Wagner kombiniert in ihm zwei assoziations- und voraussetzungsreiche Komposita, die sich jeweils auf doppelte Art und Weise lesen lassen. Mit „selbstporträt“ rekurriert das Gedicht auf die ebenso altehrwürdige wie hochaktuelle Praxis der in der Kulturgeschichte zunächst bildlichen, dann auch textlichen Eigendarstellung im künstlerischen Artefakt. Das Wort lässt an einschlägige klassische und moderne Vorbilder denken, wie zum Beispiel an die Selbstporträts von Dürer, Rembrandt, van Gogh, Picasso und Kollwitz in der europäischen Kunstgeschichte oder von Rilke, Brecht, Rühmkorf, Brinkmann und Grünbein in der deutschen Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts.6 Dadurch, dass der Begriff „Selbstporträt“ mehrfach auf dem Buchumschlag direkt hinter dem Autorennamen erscheint, verweist er zudem auf Wagner selbst, der sich hier vermeintlich als Autobiograph literarisch ins Zentrum rückt. Mindestens ebenso legitim ist jedoch eine Lesart, nach der es sich um eine Selbstdarstellung weniger des Dichters als vielmehr seiner Dichtung handelt. In beiden Fällen ist „selbstporträt mit bienenschwarm“ als ein nicht nur poetischer, sondern poetologischer Text zu verstehen, der im Medium der Lyrik selbst über seine eigene literarische Verfasstheit Auskunft gibt. In diese Richtung deutet auch die zweite Hälfte der Titelgebung. Wie Ralph Dutli in seiner Kulturgeschichte der Biene gezeigt hat, werden die Dichter schon seit der Antike „direkt mit den Bienen verglichen, und ihre Poesie – mit dem Honig.“ Von daher komme jeder, der „mit Sprache und Poesie zu tun hat, […] früher oder später auf das Bienen- und Honigthema“.7 Dutlis „Vögel der Musen“ bezeichnet auch Braun ähnlich als „Wappentier[e] der Poesie“, die gerade jetzt erneut eine Hochkonjunktur erleben:

In seltsamer Obsession tanzt die zeitgenössische Dichtung derzeit den Bienentanz. Die biologischen Eigenarten und die symbolischen Attraktionskräfte der Biene […] bestimmen vielerorts die Ikonographie und das Motiv-Arsenal der Gegenwartslyrik.8

Wagners Gedicht schließt an diese Konjunktur an, indem es das virulente Motiv der Biene gleich zweifach potenziert im Titel auftauchen lässt. Zum einen evoziert er anstelle des einzelnen Insekts gleich eine ungeheure Masse von Bienen, was auf Fülle, Reichtum und Lebendigkeit seines Sujets hindeutet. Zum anderen lässt sich der zweite Teil des Kompositums auch im Hinblick auf eine besondere emotionale Beziehung der Tiere zum Gedicht-Ich interpretieren. In diesem Sinne figuriert der Sprecher des Texts als ,Schwarm‘ der Bienen, als Idol ihres gleichermaßen kinetischen wie emotionalen Schwärmens; als ein Jemand, den die Bienen, in ihrer Eigenschaft als Versinnbildlichung der Poesie, verherrlichen und lieben. So oder so verdeutlicht bereits der Titel, dass es im Gedicht um eine besondere Demonstration des Gelingens von Poesie gehen soll, an dem sowohl das Ich im Text als auch die es umschwärmenden Bienen maßgeblichen Anteil haben.
Einen ebenso eingängigen wie eigentümlichen Zugang zur Literatur seines Autors eröffnet der Text auch über seine äußere Form. Anstelle von kompliziert gebauten Vers-, Strophen- und Gedichtformen (die Wagner bekanntlich ebenfalls virtuos zu handhaben weiß) wartet sein signature poem mit der schlichten Gestalt von vier Vierzeilern auf. Wagner wählt somit für „selbstporträt mit bienenschwarm“ die in der Geschichte der deutschen Lyrik bei Produzenten wie Rezipienten populärste Form aus.9 Mit der Gestaltung der Einzelverse als fünfhebige Jamben mit abwechselnd männlichen und weiblichen Kadenzen zeigt das Gedicht außerdem gleichermaßen entschieden und diskret seine Verortung in der ästhetischen Moderne an.10 Wie Horst Frank in seinem Handbuch der deutschen Strophenformen nach der Untersuchung von mehr als 34.000 Gedichten vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart verdeutlicht hat, handelt es sich dabei um die „in der Lyrik des 20. Jahrhunderts häufigste Strophenform“, die „auch nach der Jahrhundertmitte […] die häufigste Strophe der modernen Lyrik“ bleibt, als eine „anpassungsfähige, geräumige und dennoch gut zu fassende Form für Empfindungen, Bilder und Gedanken.“11 Gedichte mit ganz ähnlicher Metrik haben zum Beispiel auch die von Wagner hochgeschätzten expressionistischen Dichter Georg Heym und Georg Trakl vorgelegt, an deren ästhetische Impulse die Metrik und der Strophenbau von „selbstporträt mit bienenschwarm“ anknüpfen.12 Nichtsdestotrotz zeichnet es den Einzeltext wie Wagners Lyrik generell aus, dass er die Durchgestaltung seiner Verse und Strophen nicht allzu rigide interpretiert. Denn, wie es Wagner selbst formuliert hat, es „liegt nicht der geringste Reiz des Gedichts in der Spannung zwischen der Form, die das Gedicht immer ist, und der inspirierten Lust am Spiel und am spontanen Regelbruch, ohne die es nicht auskommen kann und will“.13 In „selbstporträt mit bienenschwarm“ (wie in vielen anderen Texten Wagners) zeigt sich die Subversion allzu strenger Formregeln besonders an den Versenden. Anstelle eines ,reinen‘ Reims, wie Lyrik-Puristen ihn einfordern könnten, verwendet Wagner den für ihn typischen slant rhyme, ein originelles Vorgehen, das der als Anglist ausgebildete Dichter selbst als „den bewußt in Schräglage belassenen Reim“ übersetzt hat.14 Mit welchen „äußerst schmutzigen, windschiefen Reimen“ Wagner arbeitet,15 verdeutlicht bereits die erste Strophe, wo bei „linie“ und „magdalena“ lediglich die Konsonanz von „l“ und „n“ vorliegt, und bei „bart“ und „behaart“ sich die Vokalquantität ändert.16 Ähnlich aufgelockert fallen auch die Kreuzreime der darauffolgenden Strophen aus. „selbstporträt mit bienenschwarm“ stellt sich folglich genauso bewusst in die Tradition einer bei Autoren wie Lesern gerade seit dem 20. Jahrhundert sehr beliebten, leicht erfassbaren Form wie es diese zugleich auf lässige Art und Weise mit individuellen ,Markenzeichen‘ der Lyrik Wagners unterwandert.

II. Konturen eines Selbstporträts
Am Anfang des Gedichts fällt der Bezug zur Gattung des titelgebenden Selbstporträts, abgesehen vom Schluss, gewiss am stärksten aus. Wagner folgt mit dieser Äquivalenz seiner poetologischen Prämisse, nach der die Struktur von Gedichten einer „Kreisbewegung“ gleicht:

Das Ende ist unabänderlich, sobald die einleitenden Worte zu Papier gebracht sind.17

In der ersten Strophe konstituiert sich nach und nach ein Textbild, das von einer „feine[n] Linie“, die sowohl der Pinselführung des Malers als auch der Buchstabensetzung des Schriftstellers entsprechen kann, über eine Skizze des Gesichts bis hin zum Ganzkörperporträt eines über und über „behaart[en]“ lyrischen Subjekts führt. Mirjam Springer hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich über den Linienstrich, mit dem das Gedicht einsetzt, ein historischer Bogen bis zu den Anfängen der Porträtkunst schlagen lässt. „Mit dem Umriss hatte diese Geschichte begonnen, so erzählt die Legende nach Plinius“, mit der antiken Porträtistin Jaja aus Kyzikos, die „den Schattenriß ihres scheidenden Geliebten auf der Wand nach[zeichnete]“.18 Dass diese Linie bei Wagner aus Bienen besteht, lässt der nach dem Titel folgende Gedichttext erst in der zweiten Strophe durchblicken, die mit der ersten durch ein Enjambement verklammert ist. Das, was aus dem und auf den ersten Vers folgt, bestätigt zum einen den ersten Eindruck eines starken Traditionsbewusstseins, beweist zum anderen aber auch ein hohes dichterisches Reflexionsniveau für aktuelle Debatten rund um das Genre des Porträts.19 Bemerkenswert ist vor allem, wie „selbstporträt mit bienenschwarm“ ein Wechselspiel zwischen Enthüllen und Verbergen seines Text-Ichs inszeniert. Mit „kinn“ und „lippen“ setzt das lyrische Bildnis zwar ,klassisch‘ am Gesicht und hierbei am äußeren Artikulationsort von Sprache an, am Zentralorgan des Dichters. Zugleich verzichtet das Gedicht jedoch auf auffällige Art und Weise darauf, diejenigen Teile des Antlitzes zur Sprache zu bringen, die Selbstporträts traditionell privilegieren. Insbesondere fehlt eine Beschreibung der Augen, die „unter allen Elementen des Gedichts“, so Evi Zemanek, in der Kulturgeschichte des Porträts „am häufigsten“ zur Darstellung kommen: Gilt doch die „Wiedergabe des Blickes der abgebildeten Person“ in der bildenden Kunst wie auch in der Literatur konventionell „als wichtigstes Vehikel des individuellen Ausdrucks“, welches die Identifizierbarkeit der abgebildeten Person gewährleisten soll.20 So, wie die untere Gesichtspartie hier dargeboten wird, erlaubt sie zwar Rückschlüsse auf die offensichtliche Zentralstellung von Sprache und Dichtung im Text, kaum aber auf die Person des Dichters selbst.
Auch die immer stärker in den Blick tretende Gesichts- und Körperbehaarung des Gedicht-Ichs verdeckt wortwörtlich eher als dass sie entblößt. Wo der wachsende und wimmelnde Bart zunächst auf einen männlichen Sprecher, ja sogar auf die Stoppeln in der unteren Gesichtspartie des realen Autors hindeuten könnte, annulliert der Text selbst solche eindeutigen Geschlechtszuweisungen sofort. Diese Annullierung vollzieht sich über einen ersten grundlegenden Vergleich, der den porträtierten Porträtisten des Gedichts in die Nähe von künstlerischen Darstellungen der genuin weiblichen Figur der Maria Magdalena rückt.21 Porträtgeschichtlich triftig wird der Bezug, weil es sich auch bei Magdalena, wie die Bibelforschung herausgearbeitet hat, eher um ein synkretistisches Vexierbild als eine in sich stimmige Figur handelt. Wie Andrea Polaschegg deutlich gemacht hat, zeitigt die kulturgeschichtliche Tradition weniger eine in sich kohärente Magdalena als vielmehr einen ganzen, sehr facettenreichen „Magdalena-Komple[x]“, ein „hybride[s] Figurencluster“, das sich durch „zahlreich[e] narrativ[e] Sollbruchstellen“ auszeichnet.22 Im Gedicht angesprochen ist vor allem der „populärst[e] Magdalena-Topos“ seit der Renaissance:

 

Tilmann Riemenschneider: Heilige Magdalena von Engeln erhoben, aus dem Hochaltar von Münnerstadt (1490ff.)

die bis in die Moderne immer wieder künstlerisch realisierte Figur der nackten Büßerin in der Wüste.23

Diese Magdalena erscheint tatsächlich in den Bildern und Texten immer wieder als eine am ganzen Körper behaarte Gestalt; auch wenn die Altardarstellung von Tilmann Riemenschneider, an der sich Wagner laut Eigenaussage ganz besonders beim Schreiben des Gedichts orientiert habe,24 gerade im Bartbereich (Mund, Kinn, Wangen, oberer Hals) nicht oder kaum durch Haare bedeckt ist. Auch zu einer möglichen Interpretation als Confessional Poetry, die in der Nachfolge der Magdalena eine Lebensbeichte seines lyrischen Subjekts enthalten könnte, liefert das Gedicht keinerlei Anhaltspunkte.25 Magdalena und das Gedicht-Ich lassen sich eben vor allem in ihrem schützenden Bedeckt- und Unbestimmt-Sein zueinander in ein Verhältnis der Ähnlichkeit setzen, ohne ganz deckungsgleich auszufallen.26 Hierbei passt die soziale Isolation, in der sich die Büßerin Magdalena befindet, durchaus zur sprichwörtlichen Einsamkeit des dichtenden Ichs, dem im Gedicht lediglich ein tierisches, nicht ein menschliches Gegenüber an die Seite gestellt wird.
Trotz bzw. gerade wegen ihrer unscharfen Umrisse evoziert bereits die erste Strophe von „selbstporträt mit bienenschwarm“ tatsächlich ein Selbstporträt im teils klassischen, teils gegenwärtigen Verständnis des Genres. Wie Künstler und Kunstwissenschaftler nicht müde werden zu betonen, haben sich textliche wie bildliche Selbstporträts in der Moderne schon längst von dem Ziel verabschiedet, Illusionen von ,Realität‘ in naiven Zurschaustellungen von selbstgewisser Ähnlichkeit zwischen dem Porträtierten und dem Porträt herstellen zu wollen. Falls Traditionen des Selbstporträts in diesem Sinne aufgerufen werden, dann nur, um sie sogleich wieder zu desavouieren. Stattdessen, so die Kunsthistorikerin Martina Weinhart, erprobt das Genre aktuell „Formen der Verschiebung, Umwälzung oder Infragestellung der traditionellen figurativen Darstellung“, bei denen sich der Porträtist – auch dies passend zu Wagners Gedicht – „hinter seinem Werk […] verschanzt“.27 Dies bedeutet nicht, dass der Künstler als „Projektionsfläche für Selbstaufspürung“ kein Thema der Kunst mehr wäre, ganz im Gegenteil.28 Dennoch hat sich bei den Porträtisten in bildender Kunst und Literatur mehr und mehr die Skepsis durchgesetzt gegenüber der Möglichkeit, das künstlerische Ich überhaupt im Sinne eines ,realistischen‘ Abbilds oder gar einer Entsprechung von ,äußerer‘ und ,innerer‘ Erscheinung präsentieren zu können, dies im Übrigen auch in deutlicher Opposition zur grassierenden Selfie-Bilderflut des digitalen Alltags im Zeichen sozialer Netzwerke.29 Gerade aus dieser anzweifelnden Haltung heraus wenden sich Künstler bevorzugt „Wege[n] der Subversion“ zu, die aus der „Dezentralisierung, Fragmentierung, Blindheit und Versperrung“ des dargestellten Subjekts Kapital schlagen,30 die den Porträtierten gerade in seiner „Identitätsdiffusion“ zu fassen versuchen.31 Den Vorzug erhält hier nicht die realistisch-mimetische, sondern die künstlerische Unverwechselbarkeit des Artefakts, die das Selbstporträt trotz aller Einwände gegen die Darstellbarkeit des menschlichen Individuums gelingen lässt.
Die klassische Tradition des Selbstporträts wird nach dieser Handhabung des Genres nur in einem einzigen, jedoch entscheidenden Punkt fortgeführt. Wie ihre Vorgänger verstehen auch die Selbstporträtisten des 21. Jahrhunderts ihre Werke als „Kondensat“ ihrer eigenen „ästhetischen Maximen“32 – auch wenn diese jetzt nicht mehr wie früher auf der Suggestion von angeblicher Identität, sondern gerade auf dem Bewusstsein der Differenzen zwischen Bild und Künstler beruhen. Uwe Fleckner hat dieses paradoxe künstlerische Programm auf den Punkt gebracht:

Darstellungsindividualität ist demnach nur durch ein Abweichen des Porträts vom natürlichen Vorbild zu erreichen.33

Auf unseren ,Fall‘ gewendet: Dem realen Dichter Jan Wagner begegnen wir in seinem „selbstporträt mit bienenschwarm“, auch vor der Hintergrundfolie derartiger ästhetischer Prämissen, nur sehr verschwommen; seiner Dichtung hingegen sollen, wie im Folgenden noch weiter herausgearbeitet werden soll, durch den Text klare, scharfe und unverwechselbare Konturen gegeben werden. Das Ziel der Identifizierbarkeit des Selbstporträts richtet sich demnach nicht auf den Autor, sondern auf sein Werk.

III. Poesie der Bienen
Was die Dichtung mit dem lyrischen Subjekt anstellt, beleuchtet die zweite Strophe des Gedichts genauer, in der die titelgebenden Bienen ihren großen Auftritt haben. Als lebensweltliches Vorbild für den poetischen Prozess, der hier zur Sprache kommt, mögen diverse, medial breit dokumentierte Weltrekordversuche von Imkern gedient haben. Diese bestanden jeweils darin, dass sie selbst regungslos verharrten, während Abertausende von Bienen auf ihrem Körper Platz nahmen. Aktueller Rekordhalter ist der Chinese Gao Bingguo, der es fertigbrachte, über einhundert Kilogramm der Insekten auf seiner eigenen Körperoberfläche zu versammeln.34 In „selbstporträt mit bienenschwarm“ steht ein solches Heranstürmen von Bienen in Richtung eines stillstehenden, immer gewichtigeren lyrischen Subjekts figürlich für das Verfertigen von Poesie.35 Wagners Dichterkollege Marcel Beyer hat die Gemeinsamkeiten, die Imker und Dichter bei ihren Höchstleistungen miteinander verbinden, in seinem poetologischen Essay „Mein Bienenjahr lesen“ prägnant zusammengefasst. Es lohnt sich, seine Äußerungen etwas ausführlicher zu zitieren:

Videostil aus Gao Bingguos Imker-Weltrekord mit Unmengen von Bienen und Zigarette

Gao Bingguos Imker-Weltrekord mit Unmengen von Bienen und Zigarette

Ja, Bienen und Bienenwirtschaft sind ein alter, gut gefüllter Bildspeicher für die Dichter. Und Imkerbilder eignen sich vorzüglich, um das Schreiben zu erfassen. […] Wie sich Beobachtung und Imagination durchdringen. Das Hineindenken, das Eingreifen in eine andere, auch ohne mich existierende Welt, von der ich weiß, dass ich sie niemals ganz begreifen werde. Diese ungeheure Intensität – alle Sinne werden gefordert, jede Nervenfaser ist angesprochen, da ich mich in ein Wechselspiel begebe, sei es nun mit dem Bienenvolk oder mit der Sprache. […] Die Bienen reagieren auf ihren Imker, aber sie kennen den Imker nicht. So auch die Sprache. Ich gehe mit ihr um, ich lenke sie ein Stück, sie kommt mir entgegen, im nächsten Augenblick entgleitet sie mir wieder. […] Ganz wie das Bienenvolk behält sie immer ihr Geheimnis, lebt und verwandelt sich nach eigenen Gesetzen. […] Imkern, das weiß ich mittlerweile, ist Schreiben ohne Text.36

Tatsächlich ist es erstaunlich, wie viele Autoren der Weltliteratur sich zugleich als Imker betätigt haben, unter ihnen Vergil und Augustinus, Lew Tolstoi und Sylvia Plath.37 In unserem Zusammenhang interessiert besonders, wie sich die von Beyer genannten Aspekte zum zweiten Vierzeiler von Wagners Gedicht verhalten. Etliche Punkte betonen beide Texte, etwa die Fremdheit in aller Vertrautheit mit dem Substrat der eigenen Kunst, die Intensität der poetischen Arbeit und den existenziellen Mehrwert, den die Dichter durch ihren handwerklich geübten Umgang mit der Sprache, hier zoomorphisiert durch die schwärmenden Bienen, erlangen. Jedoch fehlt das Wechselspiel der angelockten und sich entziehenden Insekten der Poesie, das Beyer anspricht, bei Wagner völlig. Wo Beyer das Dichten als ein Ringen mit der Sprache präsentiert, das zwischen Gelingen und Versagen schwankt, ,fliegt‘ dem Ich in „selbstporträt mit bienenschwarm“ das Dichten buchstäblich „von allen seiten“ zu, ja ,bestürmt‘ das lyrische Subjekt regelrecht. Anstelle von unter Mühen erlangten Verlusten und Erträgen ist hier die Rede von einem zwar langsamen.38 aber sicheren kontinuierlichen Zugewinn – und dass ohne großartiges Zutun des von den Insekten der Musen begünstigten „artist as a beekeeper“.39 Außerdem akzentuiert Wagners mehr noch als Beyers Text die musikalischen Qualitäten von Dichtkunst. Während der Essay darauf verzichtet, das Summen der Bienen mit dem Tönen von Lyrik in Bezug zu setzen, avanciert es im „gesang“ des Gedichts geradezu zum „Urgeräusch der Poesie.“40 Doch nicht nur die schwärmenden Insekten, auch die in der ersten Strophe geschilderte Mundpartie des lyrischen Subjekts lässt sich durchaus als das „zentrum“ der Sangeskunst imaginieren, das nicht von ungefähr exakt in der Mitte des Gedichts platziert ist.41
Durch die Verwendung des unpersönlichen „man“, das in dieser Strophe an die Stelle des „ich“ tritt, erlaubt das Gedicht eine weitere Lesart. Was hier „gramm um gramm / an dasein zunimmt, an gewicht und weite“, kann, gerade durch seine Regungslosigkeit, nicht nur dem Sprecher selbst, sondern auch den ihn umgebenden Dingen lyrisch zugeordnet werden.42 Auch sie können mittels der Bienenpoesie aus ihrer Banalität und Alltäglichkeit gerissen und mit frischer Bedeutsamkeit und Relevanz aufgeladen werden. „[A]lles darf und soll Platz finden können in einem Gedicht“, so hat es Wagner an anderer Stelle passenderweise gefordert, selbst die „gewöhnlichsten Dinge […] offenbaren mitunter das größte poetische Potential, wenn man nur genau und lange genug hinsieht.“43 In die Metaphorik des Gedichts gewendet: Die Bienenschwärme der Dichtkunst können sich grundsätzlich alles anverwandeln, was sie vorfinden, und es literarisch zum Glänzen bringen. Somit dienen die Bienen, um die Interpretation des Gedichts von Dutli auszuweiten, nicht nur dem Dichter, sondern allem, auf das sich seine Aufmerksamkeit richtet, als ein „Dress aus dem Stoff der Weltpoesie“, als ein „prächtiges“ und „maßgeschneidertes“ Kleid, das „die Tradition ihm leiht.“44 Über die seit Jahrtausenden bestehende kulturelle Praxis der Lyrik vollzieht sich eine Wesensverwandlung nicht nur des dichtenden Ichs, sondern all dessen, was die Literatur künstlerisch zu veredeln vermag.45 Ähnlich wie der mythische König Midas (in seinem Fall fatalerweise) alles zu Gold verwandeln konnte, was er berührte, kann ein geglücktes Gedicht, selbst dort, wo es sich vermeintlich ganz profanen Dingen im Redegestus eines „Understatement[s]“ und einer „gewisse[n] Enpassanthaftigkeit“ annimmt, „diese Edelsteine umrahmen und sie noch mehr zum Glänzen bringen.“46 In diesem Punkt entsprechen sich der Fleiß der Bienen und die Tätigkeit des Dichters im Sinne Wagners tatsächlich sehr stark. So wie die Bienen in langsamer, aber stets emsiger Anstrengung ein Honigkonzentrat herstellen, das sich durch eine Fülle von vielgepriesenen „Heil- und Nutzeigenschaften“47 auszeichnet, erschafft der Dichter mit seinem Gedicht, in ebenso versessener Detailarbeit, „auf kleinster Fläche ein Maximum an sprachlichen Mitteln, bringt Gegensätze und Paradoxien in Einklang, zum Klingen, ein Höchstmaß an Musik und Bedeutung.“48 In beiden Fällen geht es darum, Schritt für Schritt aus Blütenstaub – um mit Novalis zu sprechen – eine Energiequelle zu machen, Rohmaterial zu kultivieren; in Verfahren, die sich schon seit Langem bewährt haben und stets aufs Neue funktionieren.49

IV. Hinter der Rüstung
In der dritten und vierten Strophe von „selbstporträt mit bienenschwarm“ verleiht Wagner seinem lyrischen Subjekt eine gleichsam robustere und noch diffusere Gestalt. Hierzu dient dem Text ein zweiter wesentlicher Vergleich, bei dem die Bienenummantelung des Sprechers, der hier wieder in der ersten Person Singular auftaucht, einer mittelalterlichen Ritterrüstung gleichen soll. Die von Textbeginn an eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten des Text-Ichs reduzieren sich hierdurch noch weiter, so weit, „bis er sich kaum noch rühren kann, nicht läuft, / nur […] dasteht.“ Auch die durch ein morphologisches Enjambement sprachlich noch weiter ausgedehnte Haltung von „ausgestreckt- / ten armen“ deutet auf eine passiv-empfängliche Haltung des Sprechers hin.50 Wer in der Hierarchie zwischen dem Dichter als „ritter“ und den Poesie-Bienen als „knappen“ die wirklich über- bzw. untergeordnete Position besetzt, kann unterschiedlich bewertet werden. Einerseits steht es außer Frage, dass der Ritter qua seines privilegierten sozialen Status’ über die Schar seiner Knappen gebietet. Andererseits vermittelt, wie es der entsprechende Eintrag im Lexikon des Mittelalters verdeutlicht, das „Bild des einzelnen Ritters“ als eines „kühnen und selbstsicheren Streiters“ stets „nur die halbe Wahrheit seiner ritterlichen Erscheinung. Es wird nämlich immer auch stillschweigend vorausgesetzt, daß er zur Erfüllung seiner Aufgaben, vor allem im Ernstfall, stets auf einen oder mehrere Begleiter angewiesen war.“51 Dies trifft auch hier zu: Ohne die Hilfe seiner Knappen könnte die Rittergestalt in Wagners Gedicht nicht einmal die für ihre Existenz konstitutive Rüstung anlegen. Folgt man der poetologischen Gleichsetzung der Bienen mit der Sprache, wie sie Beyers Essay und Wagners Gedicht nahelegen, so lässt dies als offenkundige Schlussfolgerung zu, dass der Dichter genauso selbstgewiss als Meister über die Sprache verfügt, wie er sich von ihr – als immenses Ideenarsenal und flexible Inspirationsquelle – stets auf die Sprünge helfen lassen muss. Aufschlussreich ist weiterhin die Gestaltung des Endes der dritten Strophe, an dem die Rüstungsstücke in der sukzessiven Reihenfolge ihrer Anpassung an das lyrische Subjekt aufgezählt werden. Dass hier gerade das bewegliche Hals- und Nackenteil am besonders bedeutungsträchtigen Schluss erscheint, akzentuiert, wie zuvor schon in der ersten Strophe, erneut eine für die Sprach- und Dichtungsproduktion (und nicht nur dafür) außerordentlich wichtige Körperpartie: Fungiert doch diese besonders heikle, verwundbare Stelle des Körpers nicht nur als existenzieller Umschlagplatz für Nervenbahnen und Stoffwechselprozesse, sondern ist auch maßgeblich verantwortlich für die Artikulationsfähigkeit des Menschen.52
Auffällig am ,Ritterbild‘ von „selbstporträt mit bienenschwarm“ ist zudem, dass ausschließlich defensive Verteidigungselemente des mittelalterlichen Kriegers zur Darstellung gelangen, während offensive, den Angriff begünstigende Requisiten wie Pferd, Schwert und Lanze überhaupt keine Rolle spielen. Es drängt sich deshalb zunächst als Vermutung auf, dass es dem Text weniger um den heroischen Kämpfer als vielmehr um den idealtypischen Repräsentanten ,ritterlicher‘ Tugenden gehen könnte, die nach katalogartigen Vorstellungen des Mittelalters etwa vorteilhafte Charakterzüge wie Treue, Takt, Anstand, Wohlerzogenheit, Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft umfassen, unabhängig von militärischen Handlungen.53 Hierauf leistet sich das Gedicht durchaus einen Fingerzeig, indem es mit dem Adjektiv „schimmernd“ augenscheinlich auf die englische Redewendung vom knight in shining armour anspielt. Diese Floskel bezeichnet im übertragenen Sinne bekanntlich eine durch und durch ,ritterliche‘ (für gewöhnlich männliche) Person, die in ihrer ganzen Pracht eine andere (für gewöhnlich weibliche) Figur galant aus einer Situation der Bedrängnis rettet.54 Von einem ernsthaften Einbezug einer solchen Konstellation in das Gedicht kann jedoch keine Rede sein. Keine vorteilhaften inneren Werte und schon gar keine dramatische Rettungsaktion kommen in Wagners Gedicht zum Tragen. Eher dient der reichlich ironische Wink auf den knight in shining armour als nur eines von mehreren Elementen, um den Protagonisten des Texts gründlich zu dekonstruieren.55 Anstatt rasch zur Stelle sein zu können, verharrt er an der Grenze zur absoluten Bewegungslosigkeit; und auch sein „glanz“ betrifft keine Charakterzüge, sondern ausschließlich seine oberflächliche Rüstungshülle in Form eines wimmelnden Bienenschwarms. Hinter der Fassade, so der Wortlaut des Gedichts, verbirgt sich nichts weiter als „ein paar wind[e] / in seinem inneren“ und „etwas alt[e] Luft“. Das mehrfach im Text angerissene Thema des lebensnotwendigen Ein- und Ausatmens als der Grundlage für Sprache und Dichtung kann damit durchaus noch einmal aufs Neue angesprochen sein. Ebenso gut lässt sich aber an weitaus unpoetischere Gasgemische des Körpers denken, wie etwa an blähende ,Leibwinde‘ (Flatulenzen, von lat. flatus, ,Wind‘) und an Mief, also an verbrauchte und stickige Luft. Der Text erweist sich damit als ein Gegenbild zu zahlreichen klassischen Selbstporträts, in denen sich „Künstler in Rüstung dargestellt haben“:

Wehrhaft wollten sich die Maler abbilden, als ein Genie, stark erst in der Vereinzelung. Es geht um den Schutz des ,Kerns‘ im Wissen um die Verletzbarkeit des Ichs.56

Im Gedicht bleibt davon nur die Fragilität des lyrischen Subjekts erhalten. Ansonsten deutet alles darauf hin, dass sich das weder wehrhafte noch in Isolation auftretende Text-Ich, das in der abschließenden Strophe nur noch mit dem distanzierenden Personalpronomen der dritten Person Singular gekennzeichnet wird, fast vollständig verflüchtigt hat, bis auf ,luftige‘, wenig genialische Hinterlassenschaften. Übrig bleibt vom Porträtierten allein dessen bestechende äußere Erscheinung, mit der ihn die Bienen ausstaffiert haben, soll heißen: die Textur des Kunstwerks.

V. Anwesenheit in der Abwesenheit
Ganz am Ende des Gedichts steht ein Paradox, das wiederum ein entscheidendes Merkmal der textlichen wie bildlichen Gattung mit ins Spiel bringt.57 „wirklich sichtbar erst mit dem verschwinden“, so lautet das vielsinnige Fazit des Schlussverses. Was Wagners Text hier poetisch ausdrückt, kennt die Kunst und Kunstwissenschaft seit jeher als die konstitutive „Spannung von Präsenz und Absenz“ im Genre des Selbstporträts.58 Eine legitime Deutung dieses Gedichtendes hat die Forschungsliteratur bereits mehrfach vorgebracht. Demnach handelt das signature poem Wagners „vom allmählichen Verschwinden des Dichters“, hier verstanden als ein vollständiges Aufgehen des Ichs im Text: Es „führt vor, wie der Dichter unsichtbar wird […] um endlich richtig sichtbar zu werden – in seinem Gedicht.“59 Damit sind die Interpretationsmöglichkeiten jedoch keineswegs ausgeschöpft. Zieht man wiederum eine der Überlegungen aus den Lyrikessays des Autors hinzu, so erhellt sich, dass die „Anwesenheit bei gleichzeitiger Abwesenheit“ nicht allein das lyrische Subjekt betrifft, sondern auch darüber hinaus als ein archimedischer Punkt von Lyrik und Literatur an sich gelten kann. Wagner bezeichnet die Präsenz in der Absenz als

im Grunde eine der wunderbaren Möglichkeiten eines jeden poetischen Texts […].Wir lesen ein Gedicht – und bewältigen mit einem Mal und in Sekundenschnelle ungeheure räumliche Distanzen, überschreiten mühelos geographische wie kulturelle Grenzen, um die Welt eines uns Fremden zu betreten, und mehr noch: denn nicht nur in räumlicher, sogar in zeitlicher Hinsicht rückt das Ferne uns plötzlich nah vor Augen. […] Dies ist das eine. Doch auch der umgekehrte Effekt ist möglich […]: Das uns Nahe, allzu Nahe wird jäh in eine uns verblüffende, vielleicht gar beunruhigende Ferne gestellt, das Alltägliche und längst Gewohnte […] wird auf Distanz gerückt, die uns seine Gegenwart erinnern und es uns neu betrachten läßt, es wieder, ja recht eigentlich: zum allerersten Mal sichtbar macht.60

In diesem Sinne lässt sich die Dialektik von Verschwinden und Sichtbarwerden im Gedicht auch über die Figur des Dichters hinaus als ein machtvolles poetologisches Statement begreifen. Die vier Strophen aus schwarzen Kleinbuchstaben auf weißem Papier, die sich in weniger als einer Minute vollständig durchlesen lassen, evozieren ein weitausgreifendes Panorama. Wagners Zusammenschau lässt die überaus reichhaltige Gattungstradition des Selbstporträts ebenso aufblitzen wie die nicht minder bemerkenswerte und facettenreiche Kulturgeschichte der Biene, kombiniert mit Seitenblicken auf symbolträchtige biblische Ikonographien und Leitgestalten des Mittelalters. Was das Gedicht an nacktem Wortlaut bietet, tritt somit gleichfalls in den Hintergrund gegenüber der vergegenwärtigten Bedeutungsvielfalt seiner Auslegungsoptionen. Und schließlich bietet sich auch eine Lektüre an, nach der das Gedicht eben nicht in seiner materiellen Gestalt, sondern erst mit den Prozessen seiner Produktion und Rezeption eigentlich evident wird, in dem Sinne, dass es im literarischen Leben erkennbar etwas auslöst. Das Gedicht ,verschwindet‘ im Kopf, um dort erst ,wirklich sichtbar‘ zu werden – im Verlauf einer fortwährenden intellektuellen Beschäftigung mit ihm. In diesem Sinne können es Autoren und Leser in ihrem Alltag mit sich tragen, es sich immer wieder präsent machen, auch ganz unabhängig von seiner typographischen Vorlage.61
Das Ich im Gedicht erweist sich somit in „selbstporträt mit bienenschwarm“, wie in so vielen anderen Texten Wagners, als eine Maske, deren Zurschaustellung weiterführenderen poetischen Zwecken dient als der künstlerisch so häufig unergiebigen öffentlichen Preisgabe intimer Befindlichkeiten.62 Dass seine Lyrik autobiographische Elemente enthält, stellt der Autor dabei in seinen Essays keineswegs in Abrede. „Wer mich in meiner Lyrik sucht, der findet mich auch irgendwie“, so hat es Wagner ausgedrückt, in seinen „Wahrnehmungen“ und „Gefühle[n]“, in seinem „Wissen über die Welt“ und in seiner „Sicht auf die Dinge in ihr.“63 Deutlich wird dies zum Beispiel in der von so vielen anderen zeitgenössischen Selbstporträtisten geteilten lebensweltlichen Haltung, nur ,im Versteck‘ und eben nicht ungeschützt über das eigene Leben Auskunft geben zu können. Entscheidend bei dieser wie bei allen anderen Positionierungen im Gedicht bleibt jedoch, dass es sich ausschließlich um ästhetische Selbstvergewisserungen handelt, die stets umtreibt, wie sich „das Glück und die Leiden des Autors […] mittels aller ihm zur Verfügung stehenden sprachlichen Mittel“ poetisch „in ein Kunstwerk aus Worten“ transformieren lassen, „das der lyrischen Effektivität mehr Gewicht beimißt als der emotionalen Aufrichtigkeit.“64 Ein ähnliches „Spiel mit dem Authentischen“,65 bei dem die Dichter als Rollen hinter ihr Werk zurücktreten, hatte Wagner bereits mit seinem Band Die Eulenhasser in den Hallenhäusern (2012) vorgeführt, in dem er die von ihm frei erfundenen Lyriker Anton Brant, Theodor Vischhaupt und Philipp Miller schon im Vorspann als „Verborgene“ einführt.66 Mit „selbstporträt mit bienenschwarm“ überführt er dieses poetologische Programm einer Lyrik über Dritte in die erste Person Singular.67 Mit der Kombination des Autorennamens und des Gedichttitels auf den Titelseiten gleich mehrerer seiner Bücher und der Verwendung des titelgebenden Genres in seinen Gedichtbänden bedient er ebenso weitverbreitete wie problematische Erwartungen des Lyrikpublikums als der subjektivsten aller literarischen Gattungen, nur um sie sogleich gezielt wieder auszuhebeln: mit einem Ich, das im Text nie als Person, aber stets in seiner Kunstausübung markantere Umrisse erlangt.68 Wagner lässt sein Gedicht für den Dichter sprechen, der, wie so oft im Selbstporträt, auch hier sehr vorteilhaft dargestellt wird. Verantwortlich hierfür ist jedoch weniger das lyrische Subjekt selbst, von dem am Ende nur Abwinde übrigbleiben, sondern vielmehr die es im doppelten Wortsinn umschwärmenden Bienen. Erst sie, als die Verkörperung von Sprache und Poesie, verlebendigen die starre Maske des porträtierten Dichters und verleihen ihr ihren ganzen literarischen Glanz.69

Johannes Görbert, aus: Christoph Jürgensen, Sonja Klimek (Hrsg.): Gedichte von Jan Wagner. Interpretationen, mentis Verlag, 2017

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