DIE LILIENESSERIN
Sie hielt die weißen Lilien so,
daß sie zwischen ihren Brüsten blühten,
ging mit Stöckelschuhen übers Pflaster,
trank bei Rosa den schwarzen Kaffee,
aß den Zuckergußkuchen.
Bröckel auf die Kacheln verstreut.
Heute mittag
wird sie erst die eine Lilie, die zweite
entblättern, mit Pfeffer bestreuen und Salz,
zwischen ihren roten Lippen die Blumen.
Dazu das Wasser im Glas, perlt im Licht.
Lange war der Artischockenwagen
nicht dagewesen, kein Schreien in Kurven,
keine Madonna im Steuerhaus,
beleuchtet von grünroten Lämpchen.
Kein Milchwagen. Keine Honigbiene.
Die Kettenschnüre hängen lustlos vor ihrer Tür.
Da sitzt sie in der Ecke unterm Dach,
ihr Haar glänzt blauschwarz,
drin ein Silberbesteck. Sie wartet
auf den Mann, der sie von oben entführt,
über die Dächer des Städtchens hebt,
im Luftstrom nach dem Meer,
wo unten die Fischer winken,
unter ihren Rock gucken. Das macht sie scheu.
So gehen sie nieder im nächsten Garten,
überm fünfzehnten Stock eines Hohen Hauses,
wo um neun Uhr früh im schwarzen Smoking
neun Herren beraten,
wie die Luft anhalten,
wie ein Schild vor dem Wetter,
wie den Himmel für einen Moment
rückwärts drehen. Für paar Tage,
um den Nebel ungeschehen zu machen,
der hinter den dreißig Bergen entwich
und durch die Fensterritzen schlich,
in die Nasenlöcher der Schläfer.
Livrierte Diener bringen Kaffee, rühren
Zucker hinein. Jemand bittet um Salz.
War früher Kommandant bei der Marine,
sein Familienfoto, Söhne, Frau,
unbekannte Mätresse am Hafenquai,
vergilbt im goldenen Rahmen.
Jeder der neun zerdrückt sich die Stirn,
von ferne melden die Funker
mit winzigen Signalen das Ende.
Aufatmen. Gelächter.
In den Bleikammern das Feuer,
schwelt ohne Rauch vor sich hin und weiter.
Sie mit der letzten weißen Lilie,
ans Dekolleté gedrückt,
möchte zurück ins Städtchen, zum wackeligen
Stuhl, durch die Küche ins halbdunkle Zimmer.
Sie nimmt den nächsten Autobus,
fährt um lampengefüllte Ecken,
an denen die späten Kaffeetrinker lehnen,
bedient von den geduldigen schönen Frauen.
In Laboratorien sieht sie
Forscher sitzen vor der zirreligen Welt,
die unter den Linsen elektrisch rotiert,
jahrtausendekilometerweit.
Daneben an der Trödelmauer
messingne Mikroskope,
die am Ende den Anfang noch vorsichtig
verhüllen. Winkt eine Hand
aus dem Staub, drehen Engel Pirouetten,
Fäden durchs Fensterquadrat. Brokat-
vorhänge, melodische Puppen,
Tschingderassa auf Blech,
Brummkreisel, der überm Globus schwebt,
Truhen gefüllt mit Tand, Krokodilzähnen
Dukaten, spakigen Karten,
greisenaltem Passatwind aus Südost,
fleckigen Leinenbüchern und Lederrücken.
Daneben geht einer der Herren aus dem Haus,
wo Türen sich im Lichtstrahl öffnen,
die Schuhsohlen magnetisch geputzt,
Hüte sich von der Garderobe auf die Köpfe
schwingen. Alarmglocken,
falls ein Staubkorn in den Fahrstuhl schlüpft.
Jeder Schweißfleck fotografiert.
Draußen rattert die Rammaschine,
drinnen verschwinden Töne.
Alles ist still. Alles brennt.
Die Feuerwehrleute halten umsonst Ausschau
nach Rauch, verkohltem Gebälk,
es brennt ohne Geruch. Um zehn
zerschmilzt im Antiquitätenladen das
Mikroskop aus dem Jahre achtzehnhunderteins,
Linse elfenbeingefaßt,
unter der blaß, fein,
das Innere der Lilie erscheint.
spinnt der Seemann sein Garn, erzählt von Heimweh und Ferne: Johannes Schenk ist der Lyriker der Heimatlosen und Träumer, seine Gedichte dienen gleichermaßen der Selbstversenkung wie der Welterkundung. „Es geht nicht um Gedichte, die schwierig sind, die nur wenige verstehen, es geht um Gedichte, die eine Geschichte erzählen“ (Peter Härtling).
Deutsche Verlags-Anstalt, Klappentext, 1988
Michael Töteberg: Ein Matrose vor dem Seegericht
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 8. 5. 1988
Walter Hinderer: Im Bierfaß der Bedeutung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 5. 1988
Charitas Jenny-Ebeling: Der Seemann, der ich mal war
Neue Zürcher Zeitung, 31. 5. 1988
Michael Zeller: Der Kopf-Tourist
Nürnberger Nachrichten, 9. 6. 1988
Hans-Jürgen Heise: Seemann, der er einmal war
Süddeutsche Zeitung, 2./3. 7. 1988
Alexander von Bormann: Auf- & Abbrüche
Frankfurter Rundschau, 6. 9. 1988
Michael Wilke: Glaspyramide könnte Dichter-Boot schützen
Weser Kurier, 14.1.2012
lmue: Hinter dem Meer
Süddeutsche Zeitung, 6.12.2006
sv.: Fast der Bürgermeister von Worpswede
Berliner Zeitung, 6.12.2006
Hans-Christoph Buch: Seemann in Berlin: Zum Tode von Johannes Schenk
Die Welt, 7.12.2006
Fred Viebahn: Johannes Schenk: Vignetten der Erinnerung an einen alten Freund
P.E.N. Zentrum, März 2007
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