DER FISCH
Für Erich Arendt
Komm durch die Tür und sieh Dich um,
hier steht der Stuhl, drangehängt das Hemd
draufgelegt die Uhr die tickt und
am Tisch ein Freund, gerade reingekommen
aus der Hafenstadt geflohen, blättert er
hilfslos in Seekarten. Mit seinen zerbrech-
lichen Fingern deutet er auf Leuchttürme
und Wracktonnen,
tippt sich auf die Brust, sagt nichts zu
mir und murmelt was von Untiefen
auf denen er stand, meterhoch gerettet
ohne Schiff auf dem Sand
unterm Himmel voll Stern so nah,
wie seine Fingernägel so nah,
die hellen Löcher des antiken Himmels.
Wo die Nacht der hydraulisch geschlossene
Deckel ist, darüber
der Himmel zum Blinzeln,
worin sich klinkernd die Menschen
die Apparate die bestückten Köpfe,
die Seelen nachgebildet von Elektroden,
am Kreuz des Südens und
entlang der Cassiopeia bewegen.
Dabei trinke ich mein Grappaglas, neige
bißchen den Spiegel, grüngelben und
den Mund für das Wasser hinterher,
das frische. Während
draußen die verbrannten Rücken der Fischer
mitten aus dem alten dem schönsten,
dem mittelsten Meer, dem
so lange durchfahrenen, dem von Homer
durchdachten Ozean,
der an die Küsten spült des Isthmus,
der Kykladen
und Jaffas, am heiligen Strand,
die gekräuselten Küsse am Bein einer Frau
die da liegt,
einen Fisch holen, den geschuppten,
den der schillert. Salzig blaugrün.
MEINE KOFFER UND MEINE GEDICHTE
Für Sidney Rosenfeld
(…)
Ich bin auch ein Fühldichter. Die Fingerspitzen spüren, wenn ich es mir vorstelle, die Haut, die Weiche, meiner Frau und ihr Haar.
Der Geruch von Meer geht nicht aus meiner Erinnerung und den öligen Geruch der Maschinenräume, in denen die Schmierer, Maschinisten und Ingenieure schwitzen, kenne ich genau. Ebenso der Geruch im Kabelgatt oder auf der Back, wenn ohrenbetäubend die rostige Ankerkette Staub wirft, rötlichen, und Funken sprüht.
Der leichte Vorhang im bläulichen Zimmer einer Frau, am Hafen. Das Geräusch des Wassers im dreibeinigen Waschbecken. Das Gefühl des Morgenwindes, durchs geöffnete Fenster, auf der Haut. Der Nachtgeruch des Bettes.
Also, ich bin kein Philosoph. Ich bin der Enkel und Urenkel von Kaufleuten, deren Salzfässer, Heringstonnen, Kaffeesäcke und Zuckerhüte in den Lagerhäusern standen und aus den Teekisten strömte der unvergleichliche Geruch echten Earl Greys, aus der anderen Ecke die umgeworfene Flasche mit schottischem Whisky konnte nicht aufhören zu riechen und machte die Männer, die im Lager arbeiteten, durstig und dösig.
Nun, der Lastwagenfahrer der Firma, Brendel hieß er, nahm mich manchmal mit in die Bremer Osterstraße, als ich sechs Jahre alt war. In seinem Garten baute er zeitlebens an einem Segelboot, mit dem er die Welt bereisen wollte, und das nie fertig wurde.
Ich werde mit meinen Träumen auch nie fertig, deshalb schreibe ich.
Und Gedichte schreibe ich vielleicht auch deshalb, weil ich in der Schule nie richtig auswendig lernen konnte und die immer wiederholte Mühe der Lehrer, mir auf diese Weise den Spaß an Gedichten auszutreiben, nichts fruchtete.
Gedichte können so schön springen, in der Zeit, in den Bildern. Vielleicht sind Gedichte dem Film am allernächsten, nur daß Gedichte viel älter sind.
Sehen Sie, Eisenstein war ja ein Dichter und Chaplin war ja ein Dichter. Nur, daß die Apparate zum Aufschreiben des Gesehenen bißchen komplizierter sind. Ich brauche nur Füller und Papier. Und Ungeduld.
Beim Schreiben bin ich sehr ungeduldig. Oder die Bilder, die mir in den Kopf und dann in die Schreibhand kommen, sind sehr ungeduldig mit mir. Ich schreibe sehr schnell. Wenn ich nicht schnell schreibe, ist es meist ein Gedicht, das mir nicht gelungen ist.
Für ein langes Gedicht brauche ich oft nur eine Viertelstunde. Gucke ich mirs dann an, bin ich selber überrascht über das, was ich da aufschrieb. Gedichte machen mich neugierig, mehr noch als Geschichten.
Meine ersten Versuche, Kurzgeschichten zu schreiben, brachten mir das Gefühl ein, Tischler zu sein und bedächtig einen Tisch zu bauen. Beine zu sägen, Tischplatten zu hobeln, Leim Hammer und Nägel zu gebrauchen. Ein ziemliches Repertoir an Geduld dazu. Da konnte ich zwischendurch auch einmal den Füller weglegen und hinausgehen. Und dann wieder weiterarbeiten an der Geschichte.
Das kann ich als Reisender nicht. Und in Gedichten bin ich das. Kann ein Reisender aussteigen aus dem Flugzeug, der Eisenbahn oder dem Schiff, ohne zu fallen? Gewiß nicht, das würde schmerzlich enden. Also, aus einem Gedicht aussteigen, das geht nicht. Auf die Weise hat mein Koffer und haben meine Gedichte viel miteinander zu tun. Ohne Koffer zu reisen, würde mich vollends einsam machen und unbehaust, ohne Gedichte zu existieren, existieren zu müssen, wäre beinahe undenkbar. Und mein großer Bruder, Arthur Rimbaud, er war ja unglücklich genug, als er mit dem Schreiben so abrupt aufhörte und zwischen Harrar und dem Roten Meer seine Karawanen trieb, beladen mit Gewehren für den äthiopischen König und Whisky für die englischen Kaufleute.
Gedichteschreiben heißt auch, sein eigener Arzt sein und sich immer wieder neu vorm Tod zu retten. Gedichte sind auch meine Rettungsboote, meine Lifeboats. Nicht mein Anker, das wäre zu statisch und auch zu schwer. Weil ich ja fahren will und vielleicht sind die Metaphern, Assoziationen, so etwas Ähnliches wie Paddelschläge, der Wind in den Segeln oder das Kolbengestampfe der Maschine, das Gedicht vom Fleck zu bewegen. Ich brauche Metaphern, ein Gedicht, das Wirklichkeit nur abbildet, also nur beschreibt und nicht die Realität wie eine Zwiebel schält, um dahinter zu schauen, das ist wie eine Fotoplatte, wo der Fotograf die Linse auf sein Motiv hält und vergißt, das Tuch vom Apparat, den Deckel vom Objektiv zu nehmen oder gar nicht bemerkt, daß schon die Nacht hereingebrochen ist und kein Scheinwerfer da, sein Bild zu beleuchten, die Fotoplatte ist schwarz, unbelichtet, wenn auch ein Gesicht auf dem Foto zu sehen ist oder ein Baum. Zufällig.
Obwohl ich nichts, aber auch gar nichts gegen den Zufall sagen will. Ich liebe den Zufall, der mich an einen Ort bringt, wo gerade irgendein erstaunliches Detail geschieht. Ich liebe beides, den Zufall, der nur dadurch zum Zufall wird, nämlich für mich, weil ich gerade um die Ecke biege und sehe, was der andere gar nicht zufällig im gleichen Moment tut. Ich liebe das Detail.
Es ist das Salz in der Suppe, es ist der Fisch und der Pfeffer. Es ist die Musik des Gedichtes und seine Melodie aus so verschiedenen Tönen.
Für mich ist die Erinnerung an das Detail das wichtigste Handwerkzeug des Gedichteschreibers.
Stimmt das? „Schreib doch einen Roman oder eine Erzählung. Vielmehr als ein Gedicht benötigen sie doch das Detail, das Erlebnis, das Gerochene und das Geschmeckte.“ Wo prompt der Streit da ist, und heftig, darüber, ob in einem Gedicht überhaupt erzählt werden kann, „und“, hebt jemand den Zeigefinger, zieht die Stirn kraus und den Mundwinkel herab – „werden darf“. Ich erzähle im Gedicht, sooft ich kann. Das Gedicht erlaubt es mir, die Zeiten zu überfliegen, zurückundvorwärts zu fliegen, ohne daß ich es erklären muß. Meine liebste Form des Erzählens ist das Gedicht und es ist die einzige Möglichkeit, mich dialektisch zu artikulieren, die Widersprüche untereinander, der Bilder und Metaphern, bringen das fertig. Denn Erinnerung ist doch nichts anderes als die Aufzählung von Bildern. Ich erinnere den Schuhputzer an dem Praca Albuquerque in Lissabon. Und den Taxifahrer, der sich seine Schuhe putzen läßt. Der Taxifahrer, der auch gleich wieder zur Arbeit muß, sehr eilig hat er es und so, daß der andere Schuh ungeputzt bleibt und ich auf der Bank, der sitzt und zuguckt, es sieht, wie ein Diener dem anderen Diener . . und es mir auch nicht gutgeht. Bißchen amphibisch, mit Zeit, der Arbeit von anderen zuzuschauen, und dem Bewußtsein im Kopf, einer der Ihren zu sein.
Wenn auch ein Gelernter. Ich wollte auch sagen, daß ich ein gelernter Arbeiter bin, aus „bürgerlichem“ Haus, dem nichts anderes übrigblieb, trotz der Anstrengung meiner Mutter, die Kinder mit ihrer Keramik zu ernähren. Aber sie hat nicht nur damit mich ernährt, auch mit ihrer Phantasie hat sie mich aufs Schreiben gebracht, wie die Oma es machte mit ihrer Erzählkunst.
Mich haben auch die Seeleute, die Schuhputzer, die Taxifahrer, die Kellner, die Barmusiker, die Nutten, die Bootsleute, die Schiffsköche, die Passanten, die Maroniverkäufer, die Fischhändler, die Ladenbesitzer, die Busschaffner, die Zeitungsverkäufer, die Hafenarbeiter, die Stauer mit den Bananenstauden aufm Rücken, die Lotsen, die Bettler, die an den Ecken stehen und die Trinker das Schreiben gelehrt. Ohne sie wäre ich ja ein armer Mann, wüßte nichts zu berichten.
Und hätte ich meinen Traum, meinen Kindertraum, verwirklicht und wäre auf einer beinahe einsamen Pazifikinsel, Angatau oder Fatu Hiva, gelandet, ich hätte sehr bald nach Papeete fahren müssen und mir meine Kompagnons nachholen müssen. All die, die ich eben aufzählte, denn was sollte ich ohne sie schreiben?
Womit ich nicht sagen will, daß die Einsamkeit etwas ganz und gar Unproduktives hat. Ich brauche sie auch beim Schreiben. Aber in der Synagoge beginnen die Juden das Gebet auch nicht eher, als bis die Minjan, zehn Menschen, versammelt sind. Wie, sollte das mit dem Schreiben anders sein!
Und wenn ich mich mit all den Menschen im Kopf zusammensetze, und sie in dem Moment des Schreibens gar nicht da sind, sind sie doch vorher da und nachher. So, wie auch das Meer alleine befahren, sehr bald den Kopf in irgendeiner Ecke verwirrt, verwirrt mich das Leben ohne Freunde. Ich habe vielleicht drei oder vier dieser einsamen Segeler erlebt in Casablanca oder Lisboa. Sie waren unfähig geworden, zu reden. Konnten nur noch stottern, die Vokabeln waren ihnen aus dem Kopf gefallen, sie waren sprachlos geworden.
Auch ist die Chronologie der Ereignisse im Gedicht nichts Unwichtiges, wenn auch sehr sprunghaft. Aber gebe ich meinen Koffer im Bahnhof, Hafen oder am Flugzeug ab, muß ich wissen, wohin ich ihn befördert wissen will, damit er ankommt. Früher nahm ich den Koffer auf die Schulter, fuhr zum Schiff, kletterte die Gangway hoch und gab dem Steuermann mein Seefahrtsbuch. Solang ich das Schiff nicht verließ, blieb der Koffer mit mir. Mit dem Wenigen drin, das mein Privates war. Meine in den Koffer verstaute Psyche. Verstehen Sie jetzt, warum Koffer und Gedicht sich so ähneln? Klapp den Koffer auf, guck rein, so ist das zu finden, was mich angeht, klapp das Buch auf, guck rein, es ist das zu finden, was mich angeht. Das Gedicht aus jener oder dieser Zeit. Ich bin also egoistisch. Beim Schreiben der Gedichte denke ich nur an mich, meine Angst, meine Trauer, meine Wünsche, meine Utopie. Nur eben in der vielleicht nicht falschen Annahme, daß beim Lesen der, dem dies Buch in die Hand fällt, für sich das wieder entdeckt, was auch ihn angeht.
Weil, wir wohnen ja in derselben Welt, wissen von ähnlichen Erfahrungen zu berichten. Zum Beispiel in dem Lande, in dem ich wohne, von der merkwürdigen Eigenschaft seiner Bewohner, mißtrauisch zu sein gegen so vieles, das um sie herum vorgeht, sich nur sehr zögernd zu öffnen, die Entfremdungen mit einer Art schrecklicher Leidenschaft zu lieben.
Ich aber liebe sie keineswegs, die Entfremdungen, das heißt, ich fühle mich fremd in dem Land, in dem ich geboren bin. Weil sich zu oft Menschen, auf die ich zuging, zurückzogen, mir auf diese Weise bedeuteten, daß ich in dem Land ein Fremder bin. Auch ein Grund, weshalb ich so früh aufs Schiff ging.
Das Dorf, in dem ich mit meiner Mutter lebte, und das Dorf, in dem ich zur Schule gehen mußte, waren voneinander einen Kilometer entfernt. Jeden Mittag, auf dem Nachhauseweg, hielten mich, ungefähr auf der Mitte zwischen den Dörfern, größere Kinder auf und fragten mich nach meinem Namen. Ich sagte „Johannes“, woraufhin sie mich in den Graben stießen und verprügelten. Das nächste Mal sagte ich wohlweislich nichts, aber das half auch nichts, es erging mir wie vorher. Irgendwann dann fand ich den Ausweg aus der mißlichen Lage, jeden Tag nach dem Namen gefragt und dann verprügelt zu werden. Ich erzählte ihnen, ich käme gerade eben aus einem fernen Land, das sie nicht kennen würden. Amerika, Afrika, Indonesien, Westindien, Bali. Ich mußte viele neue Länder erfinden, in denen auch ich ja noch nie gewesen war, aber sie ließen mich dann in Ruhe. Das Erfinden von Geschichten half nicht immer, aber manchmal. Es half nicht, meine unbändige Sehnsucht zu verdrängen, woandershin zu gehen.
Ich ging dann ja auch.
Mit Koffer und, noch, ohne Gedichte.
Ich habe erst spät denken gelernt, abstrakt zu denken, Bilder vor der Tür zu lassen, in Begriffen zu denken, die Worte zu umschleichen wie ein Dieb, ob da nicht ein Fenster ist, wo ins Wort einzusteigen wäre.
Das ist ja eine ungeheuere Anstrengung, zumal, wenn jemand ohne Lehrer ist, oder um im Bild zu bleiben, ohne den zu sein, der die Leiter hält. Noch besser, erst einmal eine Leiter leiht. Oder?
Als ich mir das erste Mal bewußt wurde, daß ich außer täglicher Geschehnisse während der Schiffsarbeit und der Schönheit der Häfen, Frauen, des Meeres, auch noch einen Kopf dafür besaß, Widersprüche zu klären, die ich vorher nur spürte, fühlte, war das in einer absonderlichen Situation, die ich nie vergessen werde:
Ich hatte Freiwache, brauchte nichts zu tun und saß in meiner Kajüte, die ich mit einem anderen Matrosen auf dem Apfelsinendampfer „Castor“ teilte. Vielleicht fuhren wir gerade an der portugiesischen oder spanischen Küste vorbei, der Koch, ein kleiner, runder, gutmütiger Mann, der mich öfter besuchte tagsüber, um Geschichten zu erzählen oder über den geizigen Kapitän zu schimpfen, saß dabei und ein Matrose. Ich begann, den beiden mein Elend auseinanderzusetzen, das mich ankam, wenn ich über mein Unvermögen stolperte, dem Wust von Erfahrungen theoretisch beizukommen.
Ich tat dann das, was ich, viel später, in Kleists wunderbarem Aufsatz nachlesen konnte, ich „verfertigte die Gedanken beim Reden“. Mir schien es so, als täte ich es das erste Mal und der Koch bekam ein rotes Gesicht, staunte, ich staunte auch, der Matrose nickte, er kannte das schon, wir nannten ihn alle den „Leser“. Weil, was ihm unter die Augen kam, ob Buch oder Zettel, er las es.
Der „Leser“ hat einmal, am Steuer stehend und mitten im dichten Gewühl der Elbemündung, beim Lesen im Kompaßlicht das ganze Schiff einmal um sich selbst drehen lassen, bis der Lotse es merkte und der Kapitän ihn anschrie. Zuhause besaß er in einem kleinen gemieteten Zimmer am Hafen Tausende Bücher, ringsum an den Wänden.
Die Kunst des Lesens mußte ich neu lernen, denn die Schiffe hatten mir wenig Zeit dazu gelassen, und, nicht zuletzt, hatte ich drei Jahre versucht, mich selber wie einen altgewordenen Mantel abzulegen. Aber der Mantel klebte an mir mit allen Fasern. Er ging nicht ab, wie sollte er auch.
Dabei war ich ständig bemüht, mir meine Träume nicht nehmen zu lassen. Von der Realität der Seefahrt, die grob war und oft genug brutal. Ich wollte mich nicht brutal machen lassen. Das wurde mir erst richtig bewußt an dem Tag, an dem ich mich wiederentdeckte.
In den Häfen machte ich die ersten zögernden Schritte über die Schwellen der Buchhandlungen, kaufte mir Maupassants Novellen, Baudelaires Gedichte, Shakespeares Dramen und Komödien, dann Laotse oder den buddhistischen Palikanon, der mich aber nicht zu Hause fühlen ließ, oder ich versuchte es mit Meister Ekkehart, dem Mystiker, doch es blieb mir fremd. Vielleicht auch, weil die Welt, in der ich lebte, ganz anders war. Dann las ich Martin Bubers Geschichten des Baalschem, die machten mir die Tür auf und luden mich ein. Haben die Tür seitdem auch nicht wieder zugemacht.
Wehe die Welt ist voll gewaltiger Lichter
und Geheimnisse, und der Mensch verstellt
sie sich mit seiner kleinen Hand.
Die chassidischen Geschichten haben sich ja unter armen Leuten abgespielt, Handwerkern, Bauern, Fischern und kleinen Ladenbesitzern. Meine Geschichten spielten sich ja auch unter armen Leuten ab, denn Seeleute wurden nie reich, jedenfalls habe ich noch nie von einem reichen Matrosen gehört. Die chassidischen Geschichten zeigten mir ein Haus für meinen bedrängten Kopf und für mein vages Gerechtigskeitsgefühl. Sie zeigten mir, daß sich mit vielen Menschen zusammen die „süße Revolution“, die Isaak Babel vom Gedalje in Schitomir erzählt bekam, doch verwirklichen ließe. Irgendwann.
Aber die Ohnmächtigkeit angesichts der Wirklichkeit fällt mich oft genug an, trotzdem geht der Traum nicht aus dem Kopf, er läßt sich nicht abschütteln, mindestens nicht in den Gedichten, und seien sie noch so depressiv und verzweifelt.
Die Lichter und Geheimnisse der Welt zu entdecken, zu sehen, zu hören, ist die Arbeit des Gedichteschreibers, aber auch die Geheimnisse zu entschleiern der Maschinen, die von Arbeitern umschultet werden und die nicht einmal mehr die kleine Hand brauchen, sich die Welt zu verstellen, dafür sorgt schon die Maschine, die vor der Welt steht und die Ohren mit Krach zustopft und die Augen blind macht:
Für die Geheimnisse der Träume mit ihren Lichtern, die morgens gleich wieder verschüttet sind, und die Lichter der kleinen Wünsche, die jeder hat und das Geheimnis der Utopie, des realen Traums vom gerechteren Leben, wo jeder das tun kann, was er möchte.
Ich als Dichter tu das schon, bin so vermessen, müßiggängerisch, dies Leben mir gut anzuschauen, bin auch faul, hab auch viel Angst, hab auch viel Lust. Ich schreibe mir meine „Assoziation freier Menschen“, von der Karl Marx im Manifest spricht, schon mal aufs Papier, damit sie dort wenigstens existiert, in meinem Kopf und dann auf lesbarem Papier.
Ich bin frech genug, mir um meine Pension keine Gedanken zu machen, da ich sowieso nicht weiß, was morgen sein wird. In den Gedichten stößt den Figuren viel zu, was mir ähnlich auch schon zustieß, und ich schreibe ihre Reden auf, wie aus dem Unglück herauszukommen ist, das sie überfiel, wie ich selber solche Reden kenne. Das können kleine und große Unglücke gewesen sein. Das ist die Eifersucht um die Geliebte, ohne die keine Liebe ist, das ist die ständige Angst vorm Tod und die Vorstellung, wie es Menschen auf einem Schiff ergeht, die im Fieber liegen, mitten in der Karibischen See oder im Hurrikan zwischen Santo Domingo und den Virginischen Inseln, das ist der Streit am Morgen und die zerbrochene Tasse, der gelbe Teefleck an der Kalkwand, das ist der Mann an der Ecke, der einen anstarrt, als ob er gleich zum nächsten Polizisten laufen würde, mich ans Messer zu liefern, das ist der Schrei im Hinterhof, nachts, einer Frau, und der tiefere Schrei ihres Mannes, das ist die Einsamkeit der Alleingelassenen, das ist die entsetzliche Erfindung der Monotonie in der Fabrik, die die Köpfe zerschabt und die Herzen zu Zahnrädern macht, das sind all die Gleichgültigkeiten, die Menschen sich von Unglücklichen abwenden läßt. Das sind die barbarischsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, die Deutschland begangen hat, in einer bösen Zeit, in der ich geboren wurde, 1941, und schon früh der Schrecken sich in mein Herz senkte, der nie wieder weggeht und die Erinnerung an die Eltern vorm Radio nachts, der Stimme der BBC London, der einzig tröstlichen. Das ist das Aufschreiben gegen das Vergessen. Das ist das Benennen. Das ist das Schreiben gegen das Abstumpfen der Menschen. Das ist das Anrühren der Menschen, wenn auch nur mit einer Seite dünnen Papieres, auf der ein Gedicht steht. Und das kann ja ein Gedicht, es kann berühren, es kann antatschen, es kann den Kopf fliegen machen, es kann wie ein Lied Gänsehäute den Rücken hinunter machen, schöne Gänsehäute, nicht die Gänsehäute des Schreckens.
Es kann hinter den Tag gucken, denn mein Gedicht ist neugierig, es klappt mich um, meinen Kopf und mein Herz und setzt mich in Erstaunen.
Mein Gedicht schreibt sich selbst. Mein Gedicht hat mehrere Berufe:
Es ist Matrose und Liebender, es ist Bootsbauer und Forscher, es ist Seiltänzer und Akrobat, meinem Gedicht würde bei der Vielzahl von Berufen, die es hat, von einem gewissenhaften deutschen Beamten sofort die Lizenz entzogen.
Deswegen mein Koffer und mein gehütetster Schatz, mein Reisepaß und mein Seefahrtsbuch, in andere Länder kommen zu können, denn ich bin nicht nur Reisender aus freien Stücken.
Auch mein Gedicht reist nicht immer freiwillig, wenn ich und mein Gedicht auch oft genug gern wegfahren, kommen wir ja ebenso gern mal wieder zurück. Wenns geht.
Johannes Schenk, April 1979
Schenks neuer Gedichtband verspricht wiederum Reisebilder, was keinen seiner Leser verwundern kann: die bilderreiche, erzählfreudige Vergegenwärtigung ferner Länder und naher Eindrücke ist das Signum dieses wirklichkeitsbesessenen Poeten geworden. Die Abteilungen, die den Band gliedern, heißen Rom, Bremen, Berlin; der vorherrschende Texttyp ist wiederum das vollgepackte Erzählgedicht. Den Prolog bildet ein Brief aus Rom nach Göteborg, ein Nachdenken über Deutschland, das von der Bemerkung des ausländischen Freundes ausgeht: „I’ll never go to Germany“. Dieser Text legt leider vor allem die Schwächen Schenks bloß. Da gibt es zahlreiche Klischees, längst vertraute Abziehbilder, die stimmen und nicht stimmen, und die gewiß nichts provozieren können als ein Abwinken auf allen Seiten: „die immer wieder gekrümmten Köpfe seiner Bewohner“, „die Polizisten mit Rücken aus Draht“, „Die Mörder harken in ihren Gärten die Blumen“ usw. Das sind, muß man betrübt konstatieren, Bilder aus der Polit-Klamottenkiste, die so einfach nicht mehr stimmen und auch nicht zum ästhetischen Programm Schenks passen, zum Bekenntnis zur wahrnehmbaren Wirklichkeit.
Schenk geht von der Umgangssprache aus, weil er bewußt für jene (und mit jenen?) sprechen möchte, die eine kultivierte, bis in die letzte Nuance durchgebildete Sprache nicht zur Verfügung haben – soziale Sensibilität und politisches Engagement sind wohl als die Grundlagen einer Sprachverweigerung zu benennen, die eben nur deutlicher erkennbar gehalten werden müßte. Im Prolog-Briefgedicht an Willy Josefson heißt es anläßlich einer idyllisierenden Vergegenwärtigung Manhattans:
Da
will ich hin wo geredet wird
in allen Sprachen und doch versteht
einer den andern
Ein wenig läßt Schenk das wohl auch für Berlin gelten, „einzige Stadt in dem Lande, wo ich leben kann“. Eines der Zentralmotive ist der Koffer: die Reisemöglichkeit, das Sich-Nichteinhausen-Wollen signalisierend. Eine autobiographische Skizze schließt den Band und heißt sprechend: „Meine Koffer und meine Gedichte“. Beide haben miteinander zu tun und setzen ein provisorisches Leben gegen die entfremdete Wirklichkeit.
Die Reiselust meint den Traum von einem nicht-entfremdeten Leben, was noch die Wahrnehmung draußen einfärbt. Ist für Schenk Deutschland „das Land, wo die Entfremdungen am Tisch sitzen. All die so mächtig befreundeten Entfremdungen“, so zeigen seine Reisebilder letztlich (schon im Jona, 1976), daß dies anderswo auch gilt. Dann geht aber auch das Bekenntnis zum (von Brecht in „Volkstümlichkeit und Realismus“ so streng kritisierten) sensualistischen Realismus nicht mehr auf: „Meine Grammatik ist das Leben, das ich sehe, fühle, rieche und schmecke“ – diese Unmittelbarkeit steht quer zum tiefreichenden Befund, daß die Entfremdungen bei uns häuslich geworden sind, mit am Tische sitzen. Die Rom-Gedichte beschwören noch Gegenbilder; die folgenden Abteilungen versuchen den Alltag durchzubuchstabieren, um unverstellte Lebensmöglichkeiten zu gewinnen: in der Liebe, in den Träumen und Phantasien, in der Selbstentblößung, in der unorthodoxen Solidarität mit allen, die ihr Leben auf Hoffnungen setzen müssen. Die Gedichte aus Bremen und Berlin erzählen auch eine Geschichte, sehr vorsichtig und verhalten, die von Trennungen und Liebe handelt. Deutlich wird die Vielfalt Schenks wahrnehmbar – kleine, fast emblematisch verdichtete Bilder stehen neben ausführlichen Erzählgedichten, ein phantastisches Porträt der Meerfrau neben einem gewichtig-pathetischen Text über die Neutronenbombe:
Geheftet an die Schwärze des Himmels
sind wir verstreut wie jene schwarzen Löcher
der Sterne in einem Moment.
Sein Bilderreichtum ist das Pfund, mit dem Schenk wuchern sollte. Er gibt es einfach aus und sagt dazu, getreu der Poetik der fünfziger Jahre: „Mein Gedicht schreibt sich selbst.“ Das sind alte Illusionen und Redeweisen, die es sich recht bequem machen. Schenks Gedichte werden nur gewinnen können, wenn er sich ihnen ab und zu in den Weg stellt.
Alexander von Bormann, Deutsche Bücher, Heft 3, 1980
Hans-Jürgen Heise: Die Metaphern: trocken
Stuttgarter Zeitung, 10.5.1980
Franz Josef Görtz: Wo jeder tun kann, was er möchte
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.6.1980
Anton Krättli: Für die Freunde an den Wasserstellen
Neue Zürcher Zeitung, 26.8.1980
Holger Jergius:
Nürnberger Zeitung, 6.9.1980
Michael Wilke: Glaspyramide könnte Dichter-Boot schützen
Weser Kurier, 14.1.2012
lmue: Hinter dem Meer
Süddeutsche Zeitung, 6.12.2006
sv.: Fast der Bürgermeister von Worpswede
Berliner Zeitung, 6.12.2006
Hans-Christoph Buch: Seemann in Berlin: Zum Tode von Johannes Schenk
Die Welt, 7.12.2006
Fred Viebahn: Johannes Schenk: Vignetten der Erinnerung an einen alten Freund
P.E.N. Zentrum, März 2007
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