John Malcolm Brinnin: Die dritte Rose

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von John Malcolm Brinnin: Die dritte Rose

Brinnin-Die dritte Rose

XVI

Es war die Zeit einer Art Renaissance in der Kunst und in der Literatur, einer Robin’s Egg-Renaissance… Sie hatte vielleicht eine blaßblaue Färbung. Sie fiel aus dem Nest.
Vielleicht hätten wir alle in Chicago bleiben sollen.
Sherwood Anderson

„,So wurde sie denn die verlorene Generation…‘ Gertrude Stein machte Hemingway gegenüber die berühmte Bemerkung, und Hemingway benutzte sie als Motto für einen Roman (Fiesta), und der Roman war gut und wurde ein Schlager“, schrieb der amerikanische Kritiker Malcolm Cowley, der mit der Generation aufwuchs, dann eine selbständige Entwicklung einschlug und als Verfasser von Exile’s Return ihr befugtester und vielleicht mitfühlendster Historiker wurde.

Junge Männer versuchten sich ebenso stur zu betrinken wie der Held, junge Frauen aus guten Familien kultivierten die Nymphomanie der Heldin, und die Bezeichnung wurde zum Begriff. Zunächst gab man damit an wie mit der Erzählung von einem Katzenjammer nach einer Party, zu der der andere nicht eingeladen gewesen war. Später entschuldigte man sich damit, und schließlich erhielt sie einen lächerlichen Beigeschmack. Und doch war sie, solange man sie auf die Schriftsteller anwandte, die um die Jahrhundertwende geboren waren, ein Etikett, das nicht treffender hätte gefunden werden können. Diese Schriftsteller waren vor allem eine Generation und wahrscheinlich die erste wirkliche Schriftstellergeneration in der Geschichte der amerikanischen Literatur. Sie gelangten während einer Epoche heftiger Umwälzungen zur Reife, in einer Zeit, da der Einfluß der Epoche vorübergehend wichtiger zu sein schien als der von Klasse oder Milieu. Nach dem Krieg suchten allerorts Menschen verzweifelt nach einem Wort, das ihre Ansicht ausdrückte, daß die Jugend eine andere Anschauung habe. Jahrelang konnte dieses Wort nicht gefunden werden; doch als Gertrude Stein ihren berühmten Ausspruch tat, hatten die apostrophierten jungen Männer bereits längst die gleichartigen Erfahrungen gemacht und sich die übereinstimmende Haltung angeeignet, auf Grund deren sie eine literarische Generation genannt werden konnten.

Hemingway bedauerte schon bald den entschuldigenden Beigeschmack, der dem Motto, das er für sein Buch gewählt hatte, so zäh anhaften sollte, und war ständig bemüht, seinen Lesern die überschätzte Bedeutung des Wortes auszureden. Es stimmte, daß die jungen Männer seiner Generation durch das Beben des Militarismus unsanft aus ihren Schaukelstühlen geworfen worden waren, und es war Tatsache, daß die Wellen des Patriotismus und die Rhetorik hochtrabender Schlagworte sie auf die Schlachtfelder geschickt oder gelockt hatten. Im Kreuzfeuer des Krieges, den sie für andere Leute führten, hatten sie ihren christlich-demokratischen Idealismus an seinen eigenen Schlagworten zugrunde gehen sehen, während ihre ganze Generation selbst entrechtet, desillusioniert und bis zum Erbrechen mit einer Bitterkeit gefüttert wurde, die sie jahrelang schmecken, wiederkäuen und ausspucken sollten. Dennoch, meint Hemingway, „will ich verdammt sein, wenn wir verlorengingen, es sei denn, die Toten, die gueules cassées und die echten Irren. Verloren, nein. Und Criqui, der eine echte gueule cassée war, gewann die Weltmeisterschaft im Fliegengewicht. Wir waren eine sehr solide Generation…“
Gertrude beanspruchte für die Prägung dieses ungemein dauerhaften Mottos keinen persönlichen Ruhm. Im Gegenteil bezweifelte sie, daß sie diesen Ausspruch überhaupt getan habe. Stammte dieser Ausspruch wirklich von ihr, so mußte er das Resultat einer Unterhaltung gewesen sein, die sie einst mit M. Pernollet, dem Hotelbesitzer in Belley, hatte, wo sie später ihre Sommerresidenz aufschlagen sollte. M. Pernollet war der Überzeugung, daß jeder Mann zwischen achtzehn und fünfundzwanzig zivilisiert wird. Finde der Zivilisierungsprozeß nicht innerhalb dieser Periode statt, so habe der Mann seine Chance verspielt. Und das treffe auf jene zu, die in den Krieg gezogen seien. Weil sie ihre Chance versäumt hatten, waren sie une génération perdue geworden.
Heimwehkrank kamen die Jungen und die Verlorenen in die Rue de Fleurus, wo sie sich, wie Van Wyck Brooks es formuliert hat, an den „reifen gertrudischen Busen flüchten wollten, der dem ihrer weit entfernten Präriemütter sehr ähnlich, aber auch von höchst wohltuender Intellektualität war. Miss Stein gab ihnen ihre Kinderlieder wieder, und sie hatten mit ihr herrliche Plapperstunden.“ Und schlimmer noch, so fand Brooks, sie bot „Knaben, die Rindfleisch und Kartoffeln kaum kannten, eine Nachtigallenzungen-Diät“. Sie kamen in Scharen – frischgebackene Absolventen aus den Colleges der östlichen Atlantikküste, mißverstandene Kinder aus kleinen verpesteten Städten im tiefen Süden, Zyniker in Cordsamt aus den Öden des riesigen Mittelwestens, wo die Kultur aus Caruso auf dem Plattenteller und Millais’ Hoffnung bestand, die über einem imitierten Kamin die Harfe quälte. Greenwich Village war nur Durchgangsstation auf ihrer unvermeidlichen Pilgerfahrt nach der „Lichterstadt“ und den gewundenen Straßen ihres linken Ufers. Nachdem die Schiffe der „French Line“ sie über den Atlantik gebracht und sie im American Express ihre Ausgangsstellung bezogen hatten, waren sie wie Kinder, die man auf einen Riesenbazar losgelassen hat. „Jedermann war in Paris“, schrieb Margaret Anderson in ihrem Buch My Thirty Year’s War, einem der vielen Berichte vom knappen Entkommen aus dem Mittelstand und dem Mittelwesten, die damals ebenso alltäglich waren wie die Geschichten von Flucht und Entkommen aus Hitlers Deutschland oder Stalins Rußland in den nachfolgenden Jahrzehnten: 

Das Schwedische Ballett gab jede Nacht Galavorstellungen im Theatre des Champs Elysées. Jean Cocteaus Les Mariés de la Tour Eiffel wurde uraufgeführt, die Kostüme stammten von Jean Victor Hugo. Gruppen aufrührerischer Künstler erflehten zischend, jaulend und auf Schlüsseln pfeifend einen Skandal herbei. Cocteau erschien mit seiner hohen Haartolle, seinen einzigartigen Händen und seinen wollenen Pulswärmern. Nach einem Ballett zeigten sich Satie und Picabia in einem Automobil auf der Bühne, um den Applaus entgegenzunehmen… Strawinskij brachte seine Noces mit dem Russischen Ballett heraus; Milhaud, Auric, Poulenc und Marcelle Meyer spielten die vier Konzertflügel… Das Russische Ballett hatte einen neuen Vorhang von Picasso – zwei laufende Frauen in hundertfacher Lebensgröße. Picasso saß in Diaghilevs Loge, entschlossen, sich ohne Frack zu zeigen. Braque drohte damit, eine Vorstellung zu schmeißen – man hatte an seinen Dekorationen herumgepfuscht… Satie war in Tränen aufgelöst, weil sein Ballett weniger Applaus erhielt als die der anderen. James Joyce war in allen Symphoniekonzerten zu sehen – wie schlecht sie auch sein mochten. Juan Gris fertigte wundervolle Puppen an, Gertrude Stein kaufte André Masson. Man Ray fotografierte Nadel und Kämme, Siebe und Schuhleisten. Fernand Léger begann mit seinem kubistischen Film, dem Ballett Mécanique mit Musik von George Antheil. Das Boeuf-sur-le-Toit… hatte einen Negersaxophonisten, und Milhaud und Jean Wiéner begannen mit ihrer Anbetung des amerikanischen Jazz. Der Comte de Beaumont brachte seine Soirées des Paris mit Cocteaus Roméo et Juliette mit Yvonne George. Die Dadaisten gaben Vorstellungen im Théâtre Michel, wo der Tumult so groß war, daß André Breton Tzaras Arm brach. Ezra Pound verarbeitete Villons Gedichte zu einer Oper, die er im alten Salle Pleyel singen ließ… 

Unter dem Getöse einer überlauten musikalischen Begleitung hatten die brausenden zwanziger Jahre eingesetzt. Die eingeschworenen Exilamerikaner und die sensationshungrigen Touristen, die die Erregungen von Paris in die Mainstreet mit zurücknehmen wollten, hatten in der Rue de Fleurus 27 eine Figur entdeckt, die hinsichtlich Statur, Temperament und Weisheit sowohl Paris wie Peoria übertraf. „Es ist höchst amüsant“, schrieb Professor Carlos Baker in seinem Buch Hemingway: The Writer as Artist, „sich vorzustellen, daß Pallas Athene inmitten der Statuen eines ihrer Tempel wie Gertrude Stein inmitten der Picassos sitzt… und den aus der Schlacht um Troja in die Heimat zurückkehrenden Achäern zumurmelt: ,Ihr seid alle eine verlorene Generation.‘“ Ehe Gertrude Stein die Mutter all der traurigen jungen Männer geworden war, hatte sie das wesentliche Erlebnis ihres ersten Besuchs von Sherwood Anderson. Obgleich Anderson heute der verlorenen Generation zugerechnet wird, gehört er auf Grund seiner fortgeschrittenen Jahre und seiner künstlerischen Reife eigentlich nicht dazu. Er mag das unbestimmte Verlustgefühl, das die Emotionen der meisten von ihnen mitbestimmte, auch empfunden haben, aber bei ihm schien das Gefühl der Trennung und Entwurzelung sich bereits in ein positives Freiheitsgefühl und in die mehr unbewußte Erkenntnis umgeformt zu haben, daß zumindest sein eigenes Leben ein Ziel hatte. Er hatte sich seit langem von den Einflüssen Ohios freigemacht und sich in die eigenständige Boheme in Cleveland, Chicago und New Orleans eingewöhnt. Er hatte lange gebraucht, um sein Talent zu erkennen, dann aber die nötige Sicherheit gewonnen, die ihm erlaubte, die Bewegung der Exilamerikaner mehr zu begönnern als an ihr teilzunehmen. Wie fast alle, die nach Paris kamen, begab auch er sich in Sylvia Beachs Laden, äußerte den Wunsch, Gertrude kennenzulernen und wurde schon bald in die Rue de Fleurus gebracht.
Bei seinem ersten Besuch in Begleitung von Miss Beach, seiner Frau und des amerikanischen Kritikers Paul Rosenfeld zeigte er „eine gewinnende Brüskheit, einen beißenden Witz und ein großes Herz“, eine Vereinigung von Tugenden, die Alice Toklas unwiderstehlich fand. Andersons erster Eindruck von Gertrude war nicht weniger positiv. „Man stelle sich eine kräftige Frau mit Beinen wie Steinsäulen vor, die in einem Zimmer sitzt, dessen Wände mit Picassos bedeckt sind“, schrieb er in sein Notizbuch.

Diese Frau ist geradezu ein Symbol der Gesundheit und Kraft. Sie lacht. Sie raucht Zigaretten. Sie erzählt Geschichten mit der amerikanischen Begabung für Pointen und Schmiß.

Obwohl sich in der herzlichen Atmosphäre ihres Salons niemand ausgeschlossen fühlen konnte, gehörte jener Nachmittag Gertrude und Anderson. Nach langen Jahren des Unbeachtetseins, in denen ihre Manuskripte nicht zu Verlegern, sondern auf die Bretter der dicken armoire auf dem Vorplatz wanderten, war Gertrude, die auch jetzt kaum auf Veröffentlichung oder weltweite Anerkennung hoffen durfte, pessimistisch und ziemlich bitter geworden. Als Anderson ihr in schlichten Worten sagte, was er von ihrem Werk hielt und was es für seine eigene Entwicklung bedeutet hatte, nahm sie das als eine Liebeserklärung auf. „Ich glaube Sie sind sich nicht ganz bewußt was es bedeutet“, schrieb sie an ihn, „jemanden zu haben und Sie waren der einzige der ganz schlicht begriff um was es geht ganz schlicht begriff wie man eigentlich annehmen sollte daß alle es begreifen würden und der es mir so reizend und unumwunden gesagt hat.“ Vom ersten Brief an liest sich die Korrespondenz der beiden wie ein Bündel Liebesbriefe. „Gott, wie ich Sie liebe“, schrieb Anderson. Gertrude antwortete:

Ich kann Ihnen nicht sagen wieviel Sie mir stets bedeuten werden.

Und in dieser Tonart geht es jahrelang hin und her.

Wissen Sie Sherwood eines Tages müssen Sie einen Roman schreiben der ein einziges Porträt ist. Sie sind ein exquisiter Porträtist. Bitte schreiben Sie eines Tages einen Roman der nur ein Porträt ist ohne daß irgendwelche Gefühle eines anderen darin vorkommen.

Auf einen Artikel hin, der eine Arbeit ihrer Feder rühmt, schrieb sie:

Ihr Artikel gefällt mir sehr, mir gefällt die Tatsache, daß Sie die Dinge so sehen können und sehen wo sie sind, und wo Sie sind, mein Lieber, das können nur Sie.

Im Verlauf ihres späteren Lebens trafen die beiden nur gelegentlich zusammen. Dennoch blieb eine Vertraulichkeit, die ganz offenbar auf der beglückenden Erkenntnis ihrer sehr besonderen amerikanischen Temperamente und Persönlichkeiten und dem kämpferischen Gefühl, die Tradition über den Haufen gerannt zu haben, gründete. Wie Gertrude, so hatte auch Anderson seine besten Momente, wenn er sich nach Kräften darum bemühte, in neue Bereiche des Ausdrucks vorzudringen, selbst wenn ihm vor dem gesetzten Ziel die Luft ausging. Beide hatten die unverbesserliche Neigung, aus ihrem schöpferischen Ringen eine Romanze zu machen, und das verführte sie häufig dazu, über die Hochbewertung der Absichten die Bewertung der tatsächlichen Ergebnisse zu übersehen. Auf verschiedene Weise bemühten sie sich, der Umgangssprache einen Gefühlsausdruck oder eine Bildhaftigkeit abzuringen, die schließlich den Anforderungen der sprachlichen Mitteilung nicht mehr gewachsen war. Anderson legte dabei eine Leidenschaft an den Tag, sich ganz und gar auf Beobachtungen zu konzentrieren, die er unverzüglich in Worte zu fassen versuchte. Gertrude Stein hingegen neigte dazu, der Beobachtung alles Leidenschaftliche zu nehmen, um dann den Bodensatz ihrer Erkenntnisse in ein Wortkunstwerk umzuformen. Die repräsentativsten Werke dieser beiden Autoren zeigen nicht die geringste Ähnlichkeit und sind doch Produkte einer gemeinsamen Bemühung, in die Literatur etwas einzuführen, was jenseits der literarischen Mittel steht. Anderson wollte den Worten das messianische Amt der Verkündigung in eine etwas verschwommene Religion der Menschlichkeit übertragen, Gertrude Stein wollte mit Worten ausdrücken, was nur die Malerei oder der Film ausdrücken kann. Doch beide Bemühungen bezeugen jenes Genie, das sich nicht mit den Befriedigungen eines bloßen Talents begnügt.
Im Jahr 1934 tat Anderson in aller Ausführlichkeit kund, inwieweit er Gertrude als Schriftsteller verpflichtet sei. Professor B.F. Skinner hatte in einem Artikel im Atlantic Monthly die Behauptung aufgestellt, daß Gertrude Steins Methoden nicht nur durch ihre frühen wissenschaftlichen Experimente in Harvard beeinflußt seien, sondern daß vieles in ihrem Werk von dem automatischen Schreiben, das jene Experimente hatten ergründen sollen nicht zu unterscheiden sei. Professor Skinner deutet damit an, daß sie durch Zufall auf etwas Brauchbares gestoßen sei und ihren Fund später so ausgeschlachtet habe, daß er ihr Weltruhm eintrug. Um diese Anschuldigungen zu entkräftigen, schrieb Anderson für The American Spectator einen Artikel, in dem er anhand der Beziehung zwischen den bewußten und den unbewußten Aspekten des Schreibens darlegte, daß das automatische Schreiben eine ästhetische Unmöglichkeit sei. Er pries Gertrude Stein als eine „Pfadfinderin“, die es „gewagt hatte, auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen und mißverstanden zu werden, in uns allen, die wir schreiben, ein neues Wortgefühl zu erwecken“. In einem Brief an seine Schwiegertochter, Mary Chryst Anderson, führt er diesen Gedankengang noch weiter: 

Ich habe es immer für durchaus möglich gehalten, daß man sich angewöhnen könne, Worte mit der Hand oder mit dem Arm so automatisch niederzuschreiben, daß etwas in unserem Innern frei wird. Das kann man gewiß nicht automatisches Schreiben nennen, und doch glaube ich, daß alles Schöne und Klare, alles Volltönende und Strahlende in meinen Schriften von einer Art zweiten Ichs geschrieben wurde, das in solchen Augenblicken von mir Besitz ergriff.
In jenem Artikel kommt der Autor darauf zu sprechen, daß Miss Stein nicht weiß, was sie schreibt. Ich weiß es auch nicht, aber während sie jegliches zweite Selbst abstreitet, schreibe ich alles dem zweiten Selbst zu. Du siehst also, was das für Vorteile hat. Der Dichter entkam auf diese Weise der lästigen Aufgabe, vor der Welt als Dichter aufzutreten.
Und da ist noch etwas anderes; der Dichter lebt nur als Schreibender. Er hat kein anders Leben, und ich kann ehrlich sagen, daß die Person, die meine Freunde, meine eigene Familie etc. kennen, nichts oder zumindest nur sehr wenig mit der zweiten Person zu schaffen hat, dem Schreibenden als Person.
Ich glaube, das bringt mich zu dem, was die Stein für mich getan hat. Das Geschwätz über sie amüsiert mich immer. Es geht stets am Wesentlichen vorbei. Nimm einmal an, sie habe mir beigebracht, dieses zweite Ich in mir zu erkennen, den dichtenden Menschen, damit ich diesen hin und wieder befreien kann.
Und daß ich ihm nicht die Schuld an dem ängstlichen Menschen gebe, an mir, wie mich die anderen kennen.
Du siehst also, was für ein großer Gewinn das für mich ist, und weshalb ich die Stein für ein Genie halte.
Ich glaube, der Mann in dem Artikel hat das auch nicht erkannt.

Nachdem Anderson nach Amerika zurückgekehrt war, erschien als einer der ersten der jungen Männer, die zur Rue de Fleurus pilgern sollten, der rothaarige Robert Coates, ein Romancier, der später der Kunstkritiker des New Yorker wurde. Gertrude und Alice schätzten ihn als Menschen und als Schriftsteller, und Coates erwiderte ihre Zuneigung, indem er im Verlauf einer langen Freundschaft Gertrudes Werk rühmte. Nicht nur, daß er ihr unentwegt seine Gefühle ausdrückte, er veröffentlichte seine Anerkennung auch dort, wo es zur Mehrung ihres Ruhms strategisch wichtig war. Ihm folgte Ezra Pound, den Gertrude und Alice weder als Menschen noch als Dichter schätzten. Pound interessierte sich damals besonders für japanische Holzschnitte, Wirtschaftspolitik und orientalische Musik. Gertrude teilte keine dieser Interessen und fand auch sonst wenig Anziehendes an seiner Person, seinem Wesen oder seinem Denken. Pound, ein kräftiger, nervöser, schüchterner Mann mit roten Haaren, einer hohen Stimme und einem Lachen, das wie das Triumphgeschrei eines Esels geklungen haben soll, wirkte auf viele Leute, als sei er fortwährend in Bewegung. „Sein Bart, sein offener Kragen, sein Ohrring, der schiefe Tisch, den er sich selbst gezimmert hatte, die Jacken, die er trug, sein aggressiver Manierismus“, schrieb der Kritiker Herbert Gorman „verkündeten der Welt in der aufreizendsten Weise, daß er unentwegt damit beschäftigt sei, die Philister zu strafen oder ihnen eine Nase zu drehen.“ Zu Gertrudes Einwänden gegen den Mann Pound gehörte sein Benehmen Frauen gegenüber; ohne jede Vorwarnung oder ohne jede Berechtigung küßte er weibliche Wesen auf die Stirn oder zog sie auf seine Knie und kümmerte sich nicht im geringsten darum, ob ihnen diese Entgleisungen behagten. Dennoch war Gertrude zunächst „in gewisser Weise“ von Ezra beeindruckt, aber schon bald fand sie ihn „nicht amüsant“. Sie hielt ihn für einen „Dorf-Aufklärer“ (eine Bezeichnung, mit der sie einmal ihren Bruder charakterisiert hatte), was besagen sollte, daß sein Gerede „für ein Dorf vorzüglich sei, sonst aber nicht“. Ganz besonders verargte sie ihm seine Versuche, ihr die Bedeutung der an ihren Wänden hängenden Bilder zu „erläutern“. Da sie beide als Entdecker und Mäzene neuer Talente weit und breit berühmt waren, mag es für den Frieden im Reich der Literatur ein glücklicher Zufall gewesen sein, daß sie sich niemals um denselben Schützling zanken mußten. Gaudier-Brzeska, Pounds hochbegabter junger Bildhauerfreund, war im Krieg gefallen, und George Antheil, der junge Komponist, für den er sich später begeisterte, war noch nicht in Paris eingetroffen. Selbst wenn Gertrude Ezra Pounds Mangel an persönlichem Charme hätte übersehen können, hätte das Air von Rivalität, das er ausstrahlte, ihn ihr vom Leibe gehalten. Jede Art von Konkurrenz war ihr zuwider, und sie war stets auf der Hut, nicht in irgendwelche Rivalitäten verstrickt zu werden. Pound kränkte die betont kühle Behandlung, die sie ihm zuteil werden ließ, aber sie beharrte fest auf ihrer Weigerung, ihn in ihrem Salon zu empfangen. Aus Rache nannte Ezra Gertrude einen Schmarotzer am Leib der Literatur und ließ sich keine Gelegenheit entgehen, ihr am Zeug zu flicken.
Für die Jungen im kreisenden Wirbel des Jazz-Zeitalters war Gertrudes Name unlösbar mit Rebellion verknüpft. Daß dieselben jungen Männer ihr Werk entweder nicht lesen konnten oder nicht lesen wollten, spielte keine Rolle. Die Epoche der Revolte brauchte nun einmal Gestalten und Symbole, und so wurde Gertrude Stein zu einem der Heroen dieser Epoche. Wie die klagenden Töne von Gershwins Rhapsody „durch das gotische Dämmern von Oxford rieselten“, so auch der Geist und die Melodie, wenn auch nicht die Buchstaben von Tender Buttons. Gershwins „totale Rhapsody“, schrieb der englische Romancier Harold Acton, „die nie wieder so elegant aufgeführt worden ist wie in den Tagen ihrer jungfräulichen Frische, übte einen dem zwanzigsten Jahrhundert eignen Zauber aus, der fächerförmig in die eigenwilligen Schöpfungen von Picasso, Mr. Prufrock und Gertrude Stein mündete“.
Es war unvermeidlich, daß der Autor, der mit dem Jazz-Zeitalter am engsten identifiziert wird, F. Scott Fitzgerald, eines Tages ebenfalls zu dem magischen Kreis um Gertrude gehören mußte. Vom Augenblick der ersten Begegnung an hatte er tiefstes Zutrauen und große Zuneigung zu ihr gefaßt. In Gertrudes Augen war Fitzgerald „der erste der verlorenen Generation… der einzige der bereits sein Talent bewiesen hatte, als diese Generation über Paris hereinbrach“.
Sie glaubte, daß er „für die Öffentlichkeit die neue Generation ins Leben rief“, indem er zunächst ihr Repräsentant und dann ihr Symbol wurde. Fitzgerald war von Gertrude beeindruckt, sie amüsierte ihn aber auch. Er schilderte ihr Aussehen als das des „Great Stone Face“, und einmal bemerkte er einem Freund gegenüber:

Was ist sie doch für ein alter Planwagen!

Alice Toklas meint, er sei damals „distinguiert, hochintelligent und außerordentlich zutraulich“ gewesen. Bei einem späteren Besuch, den er beiden Damen an seinem dreißigsten Geburtstag abstattete, sagte er, es sei unerträglich, sich mit der Tatsache abzufinden, daß seine goldene Jugend nun vorüber sei. Als Gertrude mit Nachdruck erklärte er habe schließlich schon seit vielen Jahren wie ein Mann von Dreißig geschrieben, dankte er ihr dafür, daß sie ihm das gesagt habe, was er gerne glauben wolle. Sie hatte This Side of Paradise mit warmen Worten gelobt, und als The Great Gatsby erschien, sagte sie ihm, ihrer Meinung nach sei ihm ein eben so vollkommenes Zeitbild gelungen wie Thackeray in Pendennis und Vanity Fair. Auf dieses Lob reagierte Fitzgerald, indem er ihr einen Tribut zollte, wie ihn ihr kein anderer Schriftsteller ihrer „verlorenen Generation“ mehr entgegengebracht hat.

Ich brenne darauf, The Making of Americans zu bekommen und etwas daraus zu lernen und Dinge daraus zu übernehmen, was ich zweifellos tun werde… Sehen Sie, ich begnüge mich damit, Sie und die paar anderen, die wie Sie hochempfindsam sind, für mich und meinesgleichen künstlerisch denken oder nicht denken zu lassen, so wie der Mensch von 1901 beispielsweise Nietzsche für sich denken lassen würde. Im Vergleich zu erstrangigen Menschen bin ich ein sehr zweitrangiger Mensch – ich bin heftig und habe auch sonst die meisten anderen Kardinalfehler – und der Gedanke, daß eine Schriftstellerin wie Sie meinem unoriginellen The Side of Paradise solche Bedeutung beimißt, macht mich zittern. Ich finde, Sie ordnen mich falsch ein. Wie Gatsby kann ich nur hoffen.

Diese Hoffnung sollte Fitzgerald auch durch sein ganzes kurzes Leben begleiten. In seinen Notizen zu The Last Tycoon, dem Roman, den sein Tod unvollendet ließ, schreibt er:

Ich möchte Szenen schreiben, die erschreckend und unvergleichlich sind. Ich möchte für meine Zeitgenossen nicht so verständlich sein wie Ernest, von dem Gertrude behauptet, er würde sicherlich in den Museen enden. Ich bin überzeugt, daß ich weit genug voraus bin, um ein klein wenig Unsterblichkeit zu bekommen, wenn ich mich gut halten kann.

Alfred Kreymborg, der amerikanische Dichter, kam auf der Durchreise nach Rom, wo er mit seinem Freund aus Princeton, Harold A. Loeb, die Zeitschrift Broom gründen und herausgeben wollte, in die Rue de Fleurus und erzählte von seinem neuen Unternehmen, das vermutlich mit allem aufräumen würde. Gertrude kostete diesen Besuch bis zur Neige aus. „Sie zog eine Reihe von wuchtigen Schubladen in einer Kommode heraus“, entsinnt sich Kreymborg, „um einen Stoß gewaltiger Manuskripte ans Tageslicht zu fördern, an denen sie jahrelang gearbeitet hat, von denen nicht eines jemals in Buchform erschienen ist und nur kleine Auszüge von Zeitschriften angenommen wurden.“ Diese Mitteilung und der Anblick der von niemandem gewünschten Manuskripte überwältigte Kreymborg, und er nahm zwei der gebundenen Wälzer, darunter A Lang Gay Book, mit, um sie seinem Mitherausgeber zur Begutachtung zu bringen. Loeb ließ sich für dieses Werk nicht begeistern, erklärte sich aber schließlich damit einverstanden, eine kleine Erzählung von Gertrude, „If You Rad Three Husbands“, zu veröffentlichen, und zwar „in kurzer Fortsetzungsdosierung“.
Kate Buss aus Medford in Massachusetts, eine Dame, die einem Haus voll bejahrter Invaliden und der Düsternis der neuenglischen Winter entflohen war, führte ein Bostoner Kontingent in der Rue de Fleurus ein und wurde selber dort Stammgast. Obgleich ihr Gertrudes Werk ziemlich schleierhaft war und sie einen beunruhigenden Verdacht hinsichtlich seines Wertes hegte, hielt Miss Buss doch jahrelang die Leser der trockenen Seiten des Boston Evening Transcript mit dem Namen Stein in Verbindung. Obwohl ihre persönliche Zuneigung zu Gertrude ihr nicht zum Verständnis ihres Werkes verhelfen konnte, gehörte sie doch zu den wenigen Menschen, denen es gelang, Gertrude direkte Fragen über ihre Absichten zu stellen, ohne sich eines Treubruchs verdächtig zu machen. In Kate Buss’ Begleitung erschien auch die herbe Schönheit Djuna Barnes, die später den bemerkenswerten Roman Nightwood schreiben sollte. Gertrude las dieses Buch nicht. Hätte sie es getan, so hätte sie feststellen können, daß es gewisse ihrer Theorien auf einem Niveau und mit einer Eindringlichkeit veranschaulichte, die sicherlich ihren Neid erweckt hätten. Als Theoretikerin hatte sie vielerlei Ideen, die in schöpferischen Leistungen anderer weit besser zum Ausdruck kamen, als es ihr selber gelungen ist. Aber die Insularität, die sie allen ihren Zeitgenossen gegenüber mit Ausnahme der ganz Jungen kultivierte, ließ sie nicht über ihre eigene Nasenspitze hinaussehen. Die Kurzsichtigkeit bezüglich einiger der bedeutendsten literarischen Hervorbringungen eines Zeitalters, das sie als das ihre betrachtete, war nur eine der Folgen ihrer übermäßigen Egozentrik.
Ein weiterer Besucher, der von den manchmal recht herrscherischen Gastgeberinnen der Rue de Fleurus weniger beachtet wurde, als ihm seinem Rang nach gebührt hätte, war Glenway Wescott, der gefeierte junge Romancier, der, eingehüllt in die Staubwolken von Wisconsin und den byronischen Mantel, für den er an der Universität von Chicago berühmt war, hereingeschneit kam. Gertrude meinte, Wescott habe zwar in seiner Persönlichkeit „einen gewissen Sirup “, jedoch „er fließt leider nicht“. (Jahre später sollte diese Äußerung eine Retourkutsche finden, als Malcolm Cowley, ebenfalls einen kulinarischen Vergleich gebrauchend, bemerkte, Gertrude habe „einen gewissen Pfeffer, aber leider läßt er sich nicht streuen“.)
T.S. Eliot hatte sich in diesen Jahren einen festen, wenn auch begrenzten Ruf erworben, aber als Figur war er bereits klar genug umrissen, um den großen Strahlungskreis seines späteren Einflusses erkennen zu lassen. In der Rue de Fleurus war sein Name zum erstenmal von Ezra Pound erwähnt worden. Eine gemeinsame Freundin Gertrudes und Eliots, Lady Rothermere, die die von dem Dichter herausgegebene Zeitschrift The Criterion finanzierte, arrangierte es, daß Miss Stein und Mr. Eliot eines Abends einander kennenlernen sollten. Gertrude bekundete kein allzu großes Interesse an dieser Begegnung, aber Alice und andere sagten ihr, Eliot sei der einzige junge Mann, den sie unbedingt kennenlernen müsse. Alice machte gerade die letzten Stiche an dem neuen Abendkleid, das Gertrude bei dieser Gelegenheit tragen sollte, als unerwartet Lady Rothermere und Eliot in Begleitung von Jane Heap, der Herausgeberin von The Little Review, bei ihnen eintrafen. Alice erinnert sich an Eliot als an „einen ernsten, beinah feierlichen, nicht ganz so jungen Mann, der sich weigerte, seinen Regenschirm abzulegen, und dessen Griff umklammerte, während seine Augen in einem ausdruckslosen Gesicht brannten“. Mit Gertrude führte er ein nüchternes Gespräch über gespaltene Infinitive und andere grammatikalische Verstöße und ihr Talent, diese in ihr Werk einzubauen. Eliot meinte, er würde sich sehr freuen, wenn sie ihm etwas zur Veröffentlichung in einer der ersten Nummern des Criterion überließe. Aber, darauf bestand er, es dürfe nur ihre allerneueste Arbeit sein. Kaum war er mit seinen Begleiterinnen wieder abgezogen, setzte sie sich an den Schreibtisch und schrieb ein Porträt von Eliot, das sie, da sein Besuch am 15. November stattgefunden hatte, „The Fifteenth of November“ betitelte. Eliot nahm es an, die Veröffentlichung verzögerte sich jedoch um fast zwei Jahre.
Das Eliot-Porträt war nur eines von einer Reihe ähnlicher Arbeiten, die in einer nun vertrauten Methode geschrieben waren. Da es jedoch in einer Zeitschrift von so hohem Rang wie The Criterion erschien und da der Dargestellte ein so angesehener Mann war, trug es zur Festigung von Gertrudes rapide zunehmendem Ruf als Zerstörerin der Tradition und als eine Bedrohung für die Akademien bei. Die seismographische Feder von Henry Seidel Canby registrierte Beben, die anfingen, die Welt der althergebrachten Literatur zu erschüttern, eine Welt, in deren Zentrum wie ein efeubewachsener Kreml die Harvard-Universität stand. „Wenn das Literatur ist“, schrieb Canby, „oder überhaupt irgend etwas anderes als Torheit von schlimmerer Form als Wahnsinn, dann war jede Kritik seit Anbeginn der Literatur nur leere Theorie. Ist es aber Literatur, dann wehe der Literatur! Dem Himmel sei Dank, daß es immer noch Professor Lowes und die Männer von Harvard gibt, die die Tradition wahren und den Geschmack lenken und es verhindern, daß die Exzentrizität in der Welt Fuß fassen kann. Erhebt man das Groteske und das Absurde auf eine gleiche Stufe mit dem Seriösen, so erweist man der Literatur einen schlechten Dienst. Mehr noch, es ist eine Beleidigung für die Intelligenz und eine Verfluchung der Kritik.“
Gertrude äußerte ihr Wohlgefallen, als sie einige Zeit später erfuhr, Eliot habe bei einer Vorlesung in Cambridge gesagt, ihr Werk sei „sehr gut, aber nicht für uns“. Was Eliot wirklich sagte, war:

Es gibt einem nichts, es ist nicht amüsant, es ist nicht interessant, es ist nicht gut für den Verstand. Aber seine Rhythmen haben eine eigenartig hypnotische Macht, wie wir sie bis jetzt nicht kannten. Es ist dem Saxophon verwandt. Wenn das die Zukunft ist, dann gehört diese Zukunft, was sehr wahrscheinlich der Fall sein wird, den Barbaren. Das aber ist die Zukunft, für die wir uns nicht interessieren sollten.

Eliot beklagte zwar ihren Einfluß, gestand ihr aber dennoch die Wirksamkeit einiger ihrer Methoden zu und ließ sie in einem Brief wissen, daß er an allem, was sie schreibe, „ungeheuer interessiert“ sei.
In dieser Ära der großen Persönlichkeiten, als ein neuerstandenes Paris zum Schmelztiegel für Experimente auf allen künstlerischen Gebieten und zum Symbol der Freiheit für Künstler jeder Art wurde, fuhr Gertrude fort, in abgeklärter Heiterkeit und tiefster Selbstüberzeugung zu schreiben. Sie schrieb jeden Tag und unter jeder Bedingung, die ihr die Haushaltsroutine auferlegte, die sie und Alice mit peinlicher Genauigkeit einhielten. Im Gegensatz zu den langen ununterbrochenen nächtlichen Sitzungen der früheren Jahre hatte sie nun gelernt, in konzentrierten Zeitabschnitten zu schreiben – manchmal dauerte das Minuten, manchmal Stunden. Sie hatte sogar gelernt, beim Modellsitzen zu schreiben, und während einer Reihe von Sitzungen für den Bildhauer Lipschitz hatte sie stets den Bleistift in der Hand. Aber den größten Teil ihrer schriftstellerischen Arbeit verrichtete sie auf dem hohen Vordersitz von Godiva, dem Ford, der vor kurzem das vom Krieg zerzauste Tantchen ersetzt hatte, während sie darauf wartete, daß Alice ihre tägliche Runde bei den Kolonialwarenhändlern und in den Metzgerläden beendete. Sie entdeckte, daß die Straßengeräusche und der Rhythmus des Verkehrs kontrapunktisch und beflügelnd auf den schöpferischen Vorgang wirkten. Sie entwickelte eine Methode, bei der sie sich einen Satz als eine Art Stimmgabel oder Metronom bildete, um dann zu dessen Tempo und Melodie zu schreiben. Zu den auf diese Weise entstandenen Werken gehören Mildred’s Thoughts, das Gertrude für das charakteristischste Werk der frühen Nachkriegszeit hielt, und Birthplace of Bannes sowie Moral Tales 1920–1921.
Als sie wieder ein vollendetes Manuskript in der Hand und keinerlei Aussichten für seine Veröffentlichung durch einen Verleger hatte, mußte sie, wie schon früher, in die eigene Tasche greifen, um ihre Ware auf den Markt zu bringen.
Auf Anraten eines Freundes traf sie Vereinbarungen mit der Four Seas Company in Boston wegen der Veröffentlichung von Geography and Plays. Dieses obskure Verlagshaus hatte sich wenige Jahre zuvor ausschließlich der Veröffentlichung von Werken gewidmet wie School Ethics von Eleanor Marchbanks, Running and Training, das den Trainer der Sprinter von Harvard zum Verfasser hatte, und Manna for the Months von Helen Elizabeth Jeffers, „eine Sammlung von originellen Gedanken zur geistigen, physischen und religiösen Weiterentwicklung“. Plötzlich hatte sich die Four Seas Company der Literatur zugewandt. Bücher eigenwilliger neuer Schriftsteller wie Conrad Aiken, John Gould Fletcher und William Carlos Williams standen jetzt auf den Verlagslisten, und Gertrudes Freundin Kate Buss hatte mit der Firma über eine Veröffentlichung ihrer Studies in the Chinese Drama abgeschlossen.
In der Hoffnung, dadurch die Aufmerksamkeit Amerikas auf sich zu lenken; bat Gertrude Sherwood Anderson um eine Einleitung zu ihrem Buch und versicherte ihm abermals, daß seine Reaktion auf ihr Werk einzigartig sei und wie unvermindert sie seine Meinung schätze. Anderson antwortete, er könne sich keine schönere literarische Aufgabe denken, und nach kurzer Zeit lag ein Essay vor, der die folgenden Abschnitte enthält:

An einem Winterabend vor vielen Jahren kam mein Bruder in meine Wohnung in der Stadt Chicago und brachte ein Buch von Gertrude Stein mit. Dieses Buch hieß Tender Buttons, und damals wurde in den amerikanischen Zeitungen viel Aufhebens davon gemacht. Ich hatte bereits ein Buch von Miss Stein gelesen, das Three Lives hieß, und ich fand, daß es mit die beste Prosa enthielt, die jemals von einem Amerikaner geschrieben wurde. Ich war neugierig auf dieses neue Buch.
Mein Bruder war am Abend zuvor auf irgendeiner Versammlung von Literaten gewesen, und jemand hatte aus Miss Steins neuem Buch vorgelesen. Die Party wurde ein voller Erfolg. Nach wenigen Zeilen brach der Vorlesende ab, und lautes Gelächter erscholl. Man war allgemein der Ansicht, daß die Autorin etwas getan habe, was wir Amerikaner „putting something across“ nennen – das heißt, daß es ihr durch seltsame Narrenpossen gelungen war, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ihren Namen in die Presse zu bringen und in unserer schnellebigen sorgenvollen Zeit vorübergehend eine bekannte Erscheinung zu werden.
Es stellte sich heraus, daß meinen Bruder diese Erklärung von Miss Steins damals in Amerika erhältlichen Büchern nicht befriedigte, und so kaufte er sich
Tender Buttons und brachte es mir, und wir saßen eine Weile zusammen und lasen die seltsamen Sätze. „Die Worte bekommen ein eigenartiges neues intimes Aroma, und gleichzeitig wirken vertraute Worte beinah wie Fremde, findest du nicht auch“, sagte er. Sehen Sie, mein Bruder weckte mein Interesse an dem Buch, und dann ging er und ließ es auf dem Tisch liegen…
Seit meine Aufmerksamkeit zum erstenmal auf Miss Steins Werk gelenkt wurde, war ich der Meinung, daß es die bedeutendste Pionierleistung auf dem Gebiet der Literatur meines Zeitalters ist. Das Hohngelächter der breiten Masse, das unvermeidlich auf weitere Werke aus ihrer Feder folgen muß, irritiert mich nicht, aber ich sähe es gern, wenn Schriftsteller, und ganz besonders junge Schriftsteller ein klein wenig von dem begreifen würden, was sie zu tun versucht und was ihr meiner Meinung nach auch zu tun gelingt.
Was ich zu dieser Angelegenheit zu sagen habe, ist etwa das: Jeder Künstler, der mit dem Wort arbeitet, muß manchmal durch das, was die Begrenztheit seines Mediums zu sein scheint, ungemein irritiert werden. Was möchte er nicht alles mit Worten schaffen! Vor sich hat er das Gemüt des Lesers, und er möchte eine ganz neue Empfindungswelt im Gemüt dieses Lesers entstehen lassen oder vielmehr alle toten und schlummernden Sinne ins Leben zurückrufen.
Es gibt etwas, das man „die Erweiterung der Bezirke seiner Kunst“ nennen könnte, und diese Erweiterung möchte man erreichen. Man arbeitet mit Worten und man sucht nach Worten, die einen Geschmack auf den Lippen hinterlassen, einen Duft in den Nüstern, klappernde Worte, die man in eine Büchse werfen und schütteln kann, die ein scharfes klirrendes Geräusch erzeugen, Worte, die, sieht man sie auf der bedruckten Seite, eine ausgesprochen plakative Wirkung auf das Auge haben, Worte, die man, springen sie unter der Feder heraus, mit den Fingern fühlen kann, wie man die Wange der Geliebten mit den Fingern streicheln kann.
Und ich bin der Meinung, daß Gertrude Steins Bücher in einem sehr realen Sinn mit solchen Worten das Leben neu schaffen…
Für mich besteht das Werk von Gertrude Stein in einem Wiederaufbau, einer völligen Neugestaltung des Lebens im Bereich der Wörter. Hier ist eine Künstlerin, die stark genug war, sich der Lächerlichkeit auszusetzen, die sogar auf das Privileg verzichtete, den großen amerikanischen Roman zu schreiben, das englische Sprachniveau zu heben und sich mit dem Lorbeer der großen Dichter zu schmücken, um inmitten der kleinen Wörter für den Hausgebrauch zu leben, der prahlerischen rohen Wörter, die an den Straßenecken zu Hause sind, der ehrlich arbeitenden geldsparenden Wörter und all der anderen vergessenen und vernachlässigten Bürger des geheiligten und fast vergessenen Reiches.
Wäre es nicht eine schöne und bezaubernd ironische Geste der Götter, wenn am Ende das Werk dieser Künstlerin sich als das dauerhafteste und bedeutendste Werk aller Wortjongleure unserer Generation erwiese!

Als Geography and Plays schließlich an den Verleger in Boston abging, verstauten Gertrude und Alice ihr Gepäck im Ford und machten eine Sommerreise nach Saint Rémy, um wieder einmal durch die Landschaft zu schweifen, die sie im Verlauf ihres Samariterdientes im Krieg lieben gelernt hatten. Von den Reizen des Rhonetales aufs neue bezaubert, dehnten sie die Reise bis in den Herbst aus. Ihr Hotel war nicht sonderlich komfortabel, aber als sie sich einig waren, daß die große Schönheit der Landschaft sie für jeden Mangel an Komfort entschädigen würde, beschlossen sie, auch den Winter über zu bleiben. Froh, dem Wirbel ihres üblichen Pariser Lebens inmitten der ernsten Bilder und der dilettierenden Touristen entronnen zu sein, verbrachten sie ihre Tage ausschließlich mit der ländlichen Bevölkerung. Die einzige Ausnahme bildeten die Besuche ihrer Freundinnen, der Bildhauerin Janet Scudder und der Opernsängerin Camille Sigard, die in der Nähe ein Haus gemietet hatten. So begann Gertrudes „Saint-Rémy-Epoche“, und im Verlauf der folgenden Monate gelangen ihr einige der schönsten und lyrischsten Arbeiten ihrer schriftstellerischen Laufbahn. Wieder war die Landschaft bestimmend für den Ton und die Melodie. Sie besichtigte die Ruinen der römischen Bauwerke in der näheren und weiteren Umgebung, sie sah die riesigen Schafherden über die Gebirgspässe ziehen und sich über die Felder verteilen, und unentwegt durchstreifte sie die kleineren Berge, versunken in Gedanken über die Anwendung der Grammatik und die Gesetze der dichterischen Ausdrucksformen. Das waren Monate, von denen sie später sagte:

Ich verarbeitete die innere Melodie des Daseins die ich in der Relation zu erschauten Dingen erlernt hatte in die Gefühle die ich damals hatte… (die Melodie) des Lichts und der Luft und der bewegten Luft und der stillen Luft. Ich arbeitete damals mit großer Konzentration an diesen Dingen, und weil es für mich eine völlig neue Arbeitsweise war, war die Folge eine ungeheuer gesteigerte Melodie.

Alles, was sie schrieb, wurde plötzlich durch Musik geformt. Ihre visuellen Themen waren noch immer ohne Zusammenhang, ohne jede Rücksicht auf eine andere Wiedergabe als die im kubistischen Sinne aneinandergereiht und atomisiert, aber in ihrer Metrik lagen ein neuer Schwung und eine neue Lebensbejahung. Saints in Seven und Talks to Saints in Saint Rémy gehören zu den glücklichsten Resultaten dieses Aufenthalts, und diese Stücke waren der Anfang jener langwährenden Beschäftigung, sich auf eine merkwürdige un-himmlische Weise mit dem Wesen der Heiligkeit auseinanderzusetzen. Sie schrieb ihr berühmtes „A Valentine for Sherwood Anderson“ und eine Reihe weiterer Liebesgedichte von duftiger Zartheit und Verspieltheit, und sie schrieb Capital Capitals, eine „Unterhaltung“ zwischen den vier Hauptstätten der Provence – Aix, Ades, Avignon und Les Baux –, das ihr wenige Jahre später das erste bedeutende Libretto liefern sollte. Es war ein Winter größter schöpferischer Intensität und tiefen Glücks, fern von der Unruhe der Nachkriegsgeneration und der Ablenkung durch eigenwillige und oft lästige Freunde und Besucher. Aber nicht einmal die konzentrierte Melodie des Daseins konnte sie lange ertragen. „Ich war ziemlich berauscht von dem was ich getan hatte“, sagte sie. Und ich ziehe es stets vor nüchtern zu sein. Ich muß nüchtern sein. Es ist soviel aufregender nüchtern zu sein, exakt und konzentriert und nüchtern zu sein. So begann ich also wie ich schon sagte von neuem.“ Als der März kam und der gnadenlose Mistral tagelang brauste und der Frühling noch kaum zu ahnen war, kehrten sie gern wieder in die Rue de Fleurus und ihre vertraute solide Behaglichkeit zurück.

 

 

Die Kultur begann mit einer Rose. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose.
Gertrude Stein

Was wäre wohl natürlicher als anzunehmen, daß ein Gegenstand, der durch einen bestimmten Namen bezeichnet ist, auch durch eine bestimmte geistige Empfindung wahrgenommen werden sollte?
William James

Manchmal denke ich, daß es in Zukunft Raum für eine Literatur geben wird, deren Wesen dem einer Sportart ungemein ähnlich sein wird.
Lassen Sie uns den literarischen Möglichkeiten alles wegnehmen, was heute durch den unmittelbaren Ausdruck der Dinge und die mittelbare Stimulierung des Empfindungsvermögens durch neue Mittel – Film, Musikberieselung etc. – für die Kunst der Sprache nutzlos oder wirkungslos gemacht wird.
Lassen Sie uns fernerhin eine ganze Kategorie von Themen wegnehmen – psychologische, soziologische etc. –, deren großzügige Behandlung durch die zunehmende Präzision der Wissenschaft schwierig wird. Damit verbleibt der Literatur ein privater Bereich: der des symbolischen Ausdrucks und der imaginativen Werte, die wir der freien Verbindung von Sprachelementen verdanken.
Paul Valéry

Der Mensch ist schüchtern und apologetisch; er ist nicht mehr aufrecht; er wagt es nicht mehr zu sagen „ich denke“ oder „ich bin“, sondern er zitiert irgendeinen Heiligen oder Weisen. Beschämt steht er vor dem Grashalm und der blühenden Rose. Diese Rosen unter meinem Fenster nehmen nicht Bezug auf Rosen früherer Zeiten oder auf schönere Rosen; sie stehen für das, was sie sind; sie sind für diesen Tag des Herrn da. Für sie gibt es keine Zeit. Es gibt nur die Rose; sie ist in jedem Augenblick ihres Seins vollkommen.
Ralph Waldo Emerson

 

Vorwort

Als ich meinem Freund Erv Harmon gesprächsweise davon erzählte, daß ich ein Buch über Gertrude Stein schriebe, wurde er plötzlich nachdenklich. „Ja, weißt du“, sagte er schließlich – „ihre zwei ersten Rosen, die kaufe ich ihr noch ab. Aber bei jener dritten Rose komme ich einfach nicht mehr mit.“ Erv Harmons Reaktion auf Gertrude Steins berühmtesten Ausspruch ist natürlich nichts Außergewöhnliches. „Eine Rose ist eine Rose“ stört das Gleichgewicht der meisten Menschen nicht wesentlich und mag sogar wie „Geschäft ist Geschäft“ manchen Menschen einfach als schlichte Vernunft erscheinen, die klar und lapidar ausgedrückt ist. Aber für Erwägungen, die die unbegrenzten Bereiche der Bedeutungslehre und der Metaphysik einschließen müssen, eröffnet der Satz „Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ eine literarische Straße, die zu betreten nur wenige Menschen den Mut oder den Wunsch haben. Ich habe versucht, auf diesen Seiten den Absichten Gertrude Steins in Begriffen von eben „jener dritten Rose“ nachzuspüren (und auch der vierten, fünften und manchmal sechsten Rose) und im Verlauf dieser Recherchen das Leben und die Entwicklung einer Künstlerin aufzuzeigen, die wenige Jahre lang im Herbst ihres Lebens gleichzeitig die unklarste und berühmteste Schriftstellerin im angelsächsischen Sprachraum war.
Wenn Gertrude Stein nie gelebt hätte, so wären früher oder später von jemand anderem Werke geschrieben worden, die denen, die sie hervorgebracht hat, sehr ähnlich gewesen wären. Sobald ganz bestimmte Bedingungen geschaffen waren, mußte sie in Erscheinung treten – wie ein chemischer Vorgang.
Vollständiger und besessener als jeder andere Schriftsteller ihrer Zeit hat sie die Geschichte ihres Lebens und ihres Werkes berichtet. Aber ihr Gesichtskreis war subjektiv bis zur Kurzsichtigkeit, und sie war so selbstzufrieden und schnurrig wie eine Katze auf der Ofenbank. Die Aufgabe des Biographen ist in ihrem Fall eine dreifache: Er muß das Unterholz der Subjektivität lichten, das den Ausdruck ihrer wahren Persönlichkeit überwuchert hat; er muß ihr schöpferisches Leben mit den ästhetischen Maßstäben und Bewegungen in Einklang bringen, die sie entweder mit Gleichgültigkeit betrachtet oder überhaupt ignoriert hat; er muß die Geschehnisse, die sie in ihrer sprunghaften Erzählweise ineinander verwebt, falsch gegeneinanderstellt oder in keinem Verhältnis zu ihrer Bedeutung vergrößert, chronologisch ordnen. Da sie mehr als die meisten anderen Menschen dazu neigte, sich als den Mittelpunkt alles Geschehens zu sehen, besteht die Aufgabe auch darin, geistige oder anekdotische Ereignisse so zu sehen, daß ihre Bedeutung manchmal größer wird als die, welche sie ihnen ursprünglich zugemessen hatte, manchmal aber auch geringer, in jedem Fall aber so, daß sie mit der allgemeinen Geschichte einer Epoche in Übereinstimmung gebracht werden, die sie gern vergewaltigt und zu ihrer eigenen gemacht hätte.
Gertrude Stein gehört in die letzte Phase der Herrschaft der Vernunft, sie ist eine der letzten Töchter der Aufklärung. Zwar versuchte sie ein Leben lang dem 19. Jahrhundert zu entfliehen, aber ihre Karriere gehört zum Sonnenuntergang dieses Jahrhunderts – sie gehört in die Ära von William James und John Dewey, George Bernard Shaw und der „Fabier“, des Frauenstimmrechts und der Glühbirne.
Sie glaubte ausschließlich an die Macht und Wirkungskraft der Ratio, als all ihre bedeutenden Zeitgenossen in Kunst und Literatur fasziniert die Macht des Irrationalen als eine Quelle ästhetischer Ausdrucksform untersuchten, sie glaubte an das Bewußte als etwas durch und durch Wunderbares, während man allgemein dazu tendierte, die Erforschung des Unbewußten als eine wesentliche Quelle der Erkenntnis zu proklamieren.
Zu Gertrude Steins Lebzeiten weigerte sich die Öffentlichkeit, sie überhaupt ernst zu nehmen, wohingegen gewisse Intellektuelle sie allzu ernst nahmen. Amerikaner, die von dem Drang besessen waren, auf irgendeine Weise zu begreifen, was sie auf keine Weise erfühlen konnten, machten sie zur heiligen Kuh der modernen Literatur, und es wäre ihnen beinah gelungen, die Person von ihrem Werk zu trennen. Aber hinter der romantischen Fassade ihres Ruhms war sie nichts anderes als eine Schriftstellerin, die etwas vollkommen Neues hervorbrachte, etwas, das in der lebendigen Vorstellungskraft einer kenntnisreichen Persönlichkeit und eines geschulten Verstandes gründete. Mag sein, daß sie eines Tages vergessen sein wird, so wie vielleicht auch James Joyce oder Picasso vergessen sein werden. Aber unsere Geschichte wäre ohne sie ärmer und enger, und kommende Generationen würden sich des Vergnügens ihrer Gesellschaft wohl nicht absichtlich berauben. Sie kann ebenso oft entzücken wie sie verwirren oder fesseln kann, und wer sich lange auf den üppigen Weiden ihrer Monotonie ergangen hat, ist nie ohne Gänseblümchen zurückgekehrt.
Sich an ihrem Werk zu begeistern, ist wohl ebenso schwierig wie – an einem Vogel von Brancusi oder einer Leinwand von Mondrian. Aber es ist leicht und vielleicht notwendig, sich an ihren hingebungsvollen Übungen in der Kunst der Sprache, die ohne Rücksicht auf den Nutzen betrieben wurden, zu begeistern. Seit Gertrude Stein haben unaufhörlich ölige Wogen von Kitsch unter der Bezeichnung Literatur schleimige Massen von Sensationsmacherei und die glitschigen Ablagerungen pubertärer Gemüter angeschwemmt. Obwohl etliche Dichter auch diesem literarischen Zeitalter Glanz verleihen, müssen wir leider sagen, daß die Bücher, die vor dreißig, vierzig und fünfzig Jahren geschrieben wurden, noch heute die einzig aufregenden sind. Je älter unser Jahrhundert wird, desto wehmütiger wird die Kritik. Denn unsere repräsentative Literatur – mit der rühmlichen Ausnahme der Werke einer Handvoll Schriftsteller, die in ihre Sprache verliebt sind – scheint sich immer peinlicher auf Symptomatik, Diagnose und Gekonntheit auszurichten und ist so idiotensicher, so aseptisch und die fünf Sinne so wenig verwirrend wie ein Selbstbedienungsladen oder die Halle eines Hiltonhotels. Auf jeden Fall läßt sich von Gertrude Steins Bewunderern nur berichten, daß sie sich an ihren kühnen Vorstößen berauschten. Beinahe ausnahmslos neigten sie dazu, Gertrude Steins Methoden auf Kosten der Schriften, die diese Methoden belegen, zu preisen und in der Autorin selbst weniger ein Forschungsobjekt denn ein Etwas zu sehen, über das man sich Rechenschaft ablegen oder das man einfach bejahen muß.
Ihr Einfluß – im nachweisbaren Sinne, in dem Whitman und Henry James, Flaubert oder Proust, Rilke und Hopkins beeinflussend waren – ist nahezu Null gewesen. Ihre unwesentliche, leicht erkennbare Wirkung auf die Entwicklung von Ernest Hemingway und Sherwood Anderson ist stark übertrieben und infolgedessen als etwas Wichtiges angesehen worden, und das in der Hauptsache von Kritikern, die ihre Bestes im Umgang mit dem Zweitrangigen geben. Sie hatte stets Menschen, die ihr wohl wollten, selbst unter jenen, die ihrem persönlichen Werk fernstanden oder ihm nur oberflächliche Beachtung zollten. Meist haben die Literarhistoriker, Kritiker und Herausgeber von Lehrbüchern über ihren vermeintlichen Einfluß auf eine Weise geschrieben, der man die Verwirrung über ihren Ruhm und ihre auch sonst unleugbare Existenz nur zu deutlich anmerkt. Was ihr fehlte, war das schlichte unproblematische Verständnis, das ihr anstatt einer ausgeklügelten und meist verlegenen Verteidigung hätte gewidmet werden sollen.
Die Art und Weise, in der sie ihr Leben – ihr künstlerisches Leben – integer hielt, macht ihren wahren und nachhaltigen Einfluß aus. Und dennoch hat in ihren letzten Lebensjahren, als viele ihrer Schriften von Kompromissen mit dem literarischen Markt bestimmt zu sein schienen, ihr Verhalten als eine Erscheinung der Öffentlichkeit sogar jene ihrer Freunde und Bewunderer, die ihre Integrität stets als unantastbar betrachtet hatten, an ihr zweifeln lassen.
Im Verlauf einer schriftstellerischen Karriere, die mehr als vierzig Jahre währte, hat Gertrude Stein die Literatur von der Geschichte, von der Soziologie, von der Psychologie, von der Anthropologie, ja sogar vom Wissen selbst getrennt. Als Dichterin zerstörte sie die verbindenden Fäden, welche wahrgenommene Wirklichkeiten zusammenhalten, und als Romanschriftstellerin versuchte sie, die Sehnen und Knochen der Erzählung aus dem Körper der Literatur zu entfernen. Sie predigte, die Literatur sei eine Kunst, die nicht unbedingt von irgendeinem der oben genannten Faktoren abhängig sein müsse, und was sie predigte, setzte sie in die Tat um. Sie glaubte zwar, daß es den meisten Schriftstellern nicht gelänge, den letzten Ausdruck aus dem geschriebenen Wort herauszuholen, sie selbst aber achtete peinlich darauf, daß das, was sie schrieb, weniger ausdrückte, als es hätte ausdrücken können.
Unter den Schriftstellern, die es auf die eine oder andere Weise drängte, bis an die Grenzen der Sprache vorzustoßen, hatte sie Vorgänger in den Dichtern von Alexandria, in den Übersetzern der King James’ Bibel, in John Lyly, in Góngora, in Marivaux; und auf dem europäischen Kontinent waren Max Jacob und Pierre Reverdy in Frankreich, Carl Einstein in Deutschland, vorübergehend Pär Lagerkvist in Schweden und Ramón Gomez de la Serna in Spanien ihre tatkräftigen Zeitgenossen. Wenn es ein kontinuierliches Leben der Literatur gibt, dann dürfen wir wohl annehmen, daß sie in dem Geist, der im Unterholz ihrer vierzig Bücher raunt – oder im Fleisch eines Menschen, der wie sie Wortgebilde wie Alhambren, aus Luft gebildet, erstehen lassen möchte – wiederkehren wird.

John Malcolm Brinnin, Vorwort

Epilog

Da ich schon immer auf das Werk Gertrude Steins mit unmittelbarem Vergnügen und ohne das abträgliche Bedürfnis, „verstehen“ zu wollen, reagiert habe, verdankt dieses Buch sein Entstehen nicht so sehr einem vorgefaßten Plan als den Umständen. Im Juli 1946 hielt ich mich in Saratoga Springs auf und fand zu meiner großen Freude eines Nachmittags in einem Papiergeschäft, das auch Bücher führte, ein Exemplar von Gertrude Steins Geography and Plays. Es war verstaubt, aber sonst wie neu, und schien seit nahezu 25 Jahren hier völlig unberührt gestanden zu haben. Auch der aufgedruckte Preis von 3 Dollar 50 war, wie ich feststellen konnte, noch gültig. Einigermaßen erstaunt über mein unverhofftes Glück kaufte ich das Buch und ging nach Hause, wo ich mit großem Genuß eine neue Seite einer Autorin entdeckte, die mich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr beschäftigt und in ihren Bann gezogen hatte. Am selben Abend erfuhr ich aus der Zeitung, daß Gertrude Stein gestorben war.
Zutiefst erschüttert von der Tatsache, daß die Stimme, deren Rhythmen ich soeben mit Entzücken „entdeckt“ hatte, nun verstummt war, verbrachte ich den Abend mit der Abfassung eines Gedichts. Ich wollte mir die Gefühle von der Seele schreiben, die ich anders nicht loswerden konnte. Das Gedicht erschien einige Monate später in Harper’s, und kurz darauf erhielt ich einen Brief von Alice B. Toklas. Sie schrieb, die kleine Elegie habe sie sehr angerührt, sie finde darin ein „zartes Verständnis“ und sie hole sie, seit ein Freund sie ihr zugeschickt habe, täglich mehrmals hervor, um sie immer wieder von neuem zu lesen. Es kam zu einem Briefwechsel, und bald darauf schenkte mir Miss Toklas eine Schnitzerei – nicht größer als meine Handfläche – die ein Pferd darstellt, dem ein Oktopus auf dem Rücken sitzt, dessen Fangarme wie die Seidenbänder einer Festschabracke herunterhängen. „Es ist eine winzige Schnitzerei, die Gertrude schon besaß, als ich nach Paris kam“, schrieb Miss Toklas. „Sie war ihr sehr ans Herz gewachsen, und sie hatte sie immer um sich, und deshalb erscheint es mir richtig, daß Sie sie haben sollen.“ Mit diesem Talisman in der Hand machte ich mich einige Jahre später daran, sine ira et studio, den Verlauf eines Lebens nachzuzeichnen, das, wie die folgenden Zeilen vielleicht deutlich machen, mich alles andere als unberührt gelassen hat.

LITTLE ELEGY FOR GERTRUDE STEIN

Pass gently, pigeons on the grass,
For where she lies alone, alas,
Is all the wonder ever was.

Deeply she sleeps where everywhere
Grave children make pink marks on air
Or draw one black line… here to there.

Because effects were upside down,
Ends by knotty meanings thrown,
Words in her hands grew smooth as stone.

May every bell that says farewell,
Tolling her past all telling tell
What she, all told, knew very well.

If now, somehow, they try to say –
This way, that way, everywhichway –
Good bye… the word is worlds away.

Come softly, all; she lies with those
Whose deepening innocence, God knows,
Is as the rose that is a rose.

John Malcolm Brinnin

Nachwort

Es gibt kaum eine Autorin, deren Leben so oft und scheinbar auch so gründlich geschildert worden wäre wie das der Gertrude Stein. Nicht nur unzählige biographische und kritische Abhandlungen sind ihr gewidmet worden, sondern auch Bühnenstücke, ein kürzlich gedrehter Film, ja selbst ein Comic strip. Rosalyn Drexler behauptete in ihrer Besprechung des Films für die New York Times, sie habe sich mittels eines Ouija-Bretts mit Alice Toklas in Verbindung gesetzt und habe zu hören bekommen:

Au revoir, Mme. Drexler, und sorgen Sie bitte nach Kräften dafür, daß sich diese Leute, die sich an unsere Rockzipfel hängen, um berühmt zu werden und zu Geld zu kommen, nicht länger an unser beider Leben vergreifen.

Bei dieser Lage der Dinge kommt es selbst Menschen, die von der Literatur des 20. Jahrhunderts kaum eine flüchtige Kenntnis haben, leicht so vor, als hätten sie der ehrfurchtgebietenden doyenne von der Rue de Fleurus 27 in ihrem mit Kunst vollgestellten Atelier einen regelrechten Besuch abgestattet und das Sitzfleisch für ihre Monologe und für die diskretere Wißbegier der nicht weniger verehrungswürdigen Miss Toklas mitgebracht. Wir meinen, wir hätten so ungefähr alles, was es über sie zu wissen gibt, osmotisch in uns aufgenommen. Fast sind wir versucht, ihr übelzunehmen, wie wenig sie vom Geheimnis umwittert ist.
Und doch, etwas bleibt rätselhaft oder wenigstens paradox. Gertrude Stein ist eine ungelesene Berühmtheit. Sie gehört zu den Autorinnen, über die man lieber liest, statt sie zu lesen, und unter den Abnehmern von Abhandlungen über die Stein ist kaum jemand zu vermuten, der sich über vergleichsweise leicht verdauliche Klassiker wie die Three Lives (Drei Leben) oder The Autobiography of Alice B. Toklas (Die Autobiographie von Alice B. Toklas) hinaus sonderlich auf das Werk selbst eingelassen hätte. Und dabei kann man ihnen aus dieser Unterlassung nicht einmal unbedingt einen Vorwurf machen: Miss Stein – und das ist ein weiteres Paradox – ist strapaziös und packend zugleich. Mit anderen Worten, ihr Werk ist teils packend, teils strapaziös, und bildet großenteils ein störrisches, unentwirrbares Gemenge aus beidem. Aber wie verstiegen und unzugänglich sie sich auch präsentieren mag – man kommt an ihr nicht vorbei. Wer ein Buch wie Tender Buttons (Zarte Knöpfe) oder How To Write aufschlägt und einige Seiten liest, um das Buch dann geräuschvoll wieder zuzuklappen (eine Methode, mit der ich bestimmt nicht allein dastehe), dem wird ein schräges, leicht irritierendes, aber ganz einmaliges Vergnügen zuteil, wie man es nirgends sonst findet.
John Malcolm Brinnins Buch handelt mehr von Gertrude als von Miss Stein. Es bietet nicht die geschlossenste oder detaillierteste Darstellung ihres Lebens oder ihres Werks, was auch gar nicht sein Anspruch ist, wohl aber die vergnüglichste, auf die ich bislang gestoßen bin. Wie Mr. Brinnin in einem Nachwort erläutert, verdankt es sich einem Zufall. Ihm, der seit seiner Jugend für Gertrude geschwärmt hatte, fiel an einem Tag des Jahres 1946 in einer kleinen Buchhandlung im Norden des Staates New York eine Erstausgabe von Geography and Plays (Porträts und Stücke) in die Hände. Er machte sich mit dem Buch einen schönen Nachmittag, um dann aus dem Radio zu erfahren, daß Gertrude Stein an diesem Tag gestorben war. Es war die Betroffenheit über diese zufällige Fügung, die ihn schließlich zur Niederschrift der Dritten Rose veranlaßte – eine Aufgabe, zu der er unwissentlich schon lange gerüstet gewesen sein mußte. So entstand die erstaunlich flüssige und bestrickende Betrachtung eines Bewunderers, der ihr nie begegnet war und doch mit ihr offensichtlich auf so vertrautem Fuße stand, daß er keine Skrupel hatte, neben ihren Vorzügen auch ihre Schwachstellen als Autorin und als Person zu benennen wobei er zweifellos davon ausging, die offensichtliche Zuneigung, aus der heraus er schrieb, werde jede Unausgewogenheit geraderücken.
Und so ist es auch. Mr. Brinnin kann verzückt an ihren Lippen hängen, aber ebensogut kann er Gertrude auf die Finger klopfen, wenn sie ins Schwadronieren kommt. Streng geht er mit mißlungenen Werken wie dem Bestseller Wars I Have Seen (Kriege die ich gesehen habe) ins Gericht. Sein Urteil etwa über Mrs. Reynolds: „Trotz der stilistischen Klarheit des Romans dürfte den meisten Lesern bei dem unentwegten small talk darin zumute sein, als bekämen sie tage- und wochenlang die eine Hälfte eines Telefongesprächs zu hören“, fiele fast schon zu akribisch scharf aus, wäre nicht seine Gesamteinschätzung der Autorin von solch spontaner Toleranz getragen. Ihr begegnet man in seinem Buch auf Schritt und Tritt, etwa in folgender Beurteilung eines anderen Spätwerks, The Mother of Us All:

Gertrude Stein kam aus der Tiefe des 19. Jahrhunderts, und ihre letzten, beredsamsten Äußerungen sind beseelt von dem Behagen, ja von der Liebe, die sie bei dem empfand, was sie ein Leben lang hinter sich zu lassen suchte.

Diese Toleranz scheint in der Tat die herausragendste Eigenschaft zu sein, die beide Autoren gemeinsam haben. Mr. Brinnins Dichtung, etwa seine im Nachwort abgedruckte, glockenhelle „Kleine Elegie an Gertrude Stein“, ist in einer geregelten Welt neoklassischer Milde beheimatet, die Lichtjahre weit von der Gertrude Stein entfernt liegt. Auf den ersten Blick würden die beiden ein recht ungleiches Paar abgeben. Und doch findet sich der Widerhall der unverwüstlichen Wärme, des Lachens und des Schwungs; den er bei ihr ausmacht, auch in seinen eigenen Arbeiten. Er nimmt ihr Werk wie Atemluft auf. Zweifellos hat er es deshalb so erfolgreich vermocht, ein Gesamtwerk mit Licht und Luft zu durchfluten, das allzulang von einer Mixtur gelehrsamer Ignoranz als unbezwinglicher Palisade umschlossen war. Wer immer daran gehen will, eines der packendsten und unergründlichsten Abenteuer unseres Jahrhunderts auszuloten, schuldet ihm dafür Dank.

John Ashbery, Nachwort

 

Als leidenschaftlicher Bewunderer

der Stein stieß der Verfasser 1946 auf eine Erstausgabe von Geography and Plays. Nachdem er einen glücklichen Nachmittag mit dem Buch zugebracht hatte, erfuhr er aus dem Radio, daß Stein ausgerechnet an jenem Tag gestorben war. Bewegt von diesem Zusammentreffen, begann er Die dritte Rose zu schreiben. Das Ergebnis ist eine wunderbar flüssige und einnehmende Studie von einem Bewunderer, der, obwohl er sie nie getroffen hatte, so vertraut mit ihr war, daß er sich nicht scheute, auf die Mängel ebenso wie auf die Vorzüge ihres Schreibens und ihres Charakters hinzuweisen, ganz zweifellos im Vertrauen darauf, daß die offenkundige Liebe, mit der er schrieb, irgendwelche Unausgewogenheiten zurechtrücken würde.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1991

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

 

Fakten und Vermutungen zu Gertrude Stein + Pennsound +
MAPS 1, 2 & 3Internet Archive + Kalliope

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