VOM WEGGEHEN II
(frei nach Hertha Müller)
„Ein Sommer der an Asthma litt“
ein herbst der menschen spuckte
das maul der erde hungrig
novemberader war mir haut
dezember kopfte aus
der wind trug strümpfe vors gesicht
ein winter der nach atem rang
jemand war da der sensenmannte
auf menschenackerhalden tanz
für Luis Sepúlveda
des Gastling 1993 erschien, war die Euphorie der deutschen Wiedervereinigung verflogen und die Gesellschaft geprägt von der Auseinandersetzung mit den aufflammenden fremdenfeindlichen Übergriffen der Nachwendezeit. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda im Herbst 1991, in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 und die Mordanschläge von Mölln und Solingen zeigten eine unfassbare, neue Dimension fremdenfeindlich motivierter Gewalt in Deutschland. Politikern und Medien wurde vorgeworfen, durch eine zum Teil populistische Kampagne die Stimmung gegen Ausländer angeheizt und so den teilweise pogromartigen Exzessen den Boden bereitet zu haben.
Die in Westdeutschland geborenen und aufgewachsenen, völlig integrierten Nachkommen der Gastarbeiter der 1950er bis 1970er Jahre waren schockiert und verunsichert.
Die Auseinandersetzung mit den neuen gesellschaftlichen Zuständen fand in den Medien und auf der Straße statt, manifestierte sich in soziologischen Deutungsversuchen wie Demonstrationen gegen den Hass und die Gewalt – und hielt Einzug in die Literatur: José F.A. Oliver verbindet H wie Hoyerswerda mit Hiroshima und bringt mit dem Selbstempfinden als ,Gastling‘ im eigenen Land die Stimmung auf den Punkt.
Verlag Hans Schiler, Klappentext, 2015
du doitsch?
ich?
estumialei
aber
ichhabeniverstande
wasSiegesachthabe
du was?
ich? – ja, mit Fragezeichen!
[aus: „s’isch november wore“]
„Heimatverbunden“ nennt man das wohl, wenn einer vor 32 Jahren in einem Kaff im tiefsten Schwarzwald geboren wird, dort aufwächst, zur Schule geht, sich eifrig in katholischer Jugendgruppe und örtlichem Fassnachtsverein engagiert, zwecks Studium der Germanistik und Romanistik ins (nahegelegene) Freiburg exiliert, um gleich darauf wieder an den Heimatort zurückzukehren. Und in der Tat ist José Oliver wohl der bekannteste zeitgenössische Heimatdichter rund ums Kinzigtal. Ein echter Badenser – mit spanischem Pass. Seine Eltern stammen aus Malaga, verließen ein Jahr vor seiner Geburt ihre andalusische Heimat, um „zwei, drei Jahre“ in Deutschland zu arbeiten. Noch als José eingeschult wurde, glaubte seiner Mutter, „nur vorübergehend in diesem Land zu sein“, und weigerte sich konsequent, die deutsche Sprache zu erlernen. So wuchs José Oliver zu Hause andalusisch auf, während seine Freunde draußen im alemannischen Dialekt des Kinzigtals schwätzten; gemeinsam mussten sie dann auf dem Gymnasium ihre erste Fremdsprache lernen – das Hochdeutsche.
Oliver ist das, was Deutschrassler alpträumen: ein Grenzgänger, „in Deutschland gezeugt, aus Spanien importiert“, ein selbstbewusster Repräsentant deutscher Realität. Schon auf dem Gymnasium war Oliver das einzige Arbeiter- und Ausländerkind seiner Klasse. Dass er überhaupt dorthin gelangte, verdankte er einer „tief religiösen katholischen Deutschen“, einer älteren Dame, die ihn aufzog, als beide Eltern arbeiteten. Vielleicht lag es daran, dass José einen extremen Ehrgeiz entwickelte, vor allem im Fach Deutsch, und schon bald einer der Besten war.
Ein Spanier, der den Deutschen zeigt, wie man mit der deutschen Sprache umgeht, das war natürlich ein Fressen für einen Lehrer, der frisch von der Uni kam.
Nicht alle sahen das so. Als ein neuer Lehrer die Namensliste studiert, fragt er José vor der Klasse, was denn ein „Gastarbeiter“ auf dem Gymnasium zu suchen habe. Und der Religionslehrer vertritt im Unterricht eines Tages die These, „Gastarbeiterkinder“ seien dümmer als deutsche. José, der zwischenzeitlich nicht nur gläubiger Ministrant, sondern auch Pfarrjugendleiter der Katholischen Gemeinde geworden war, reicht eine Beschwerde ein.
Als in der Diskussion darüber sich über die Hälfte der Lehrer der Meinung des N. anschloss, ist für mich eine Welt zusammengebrochen.
José Oliver hat seine Ohnmacht überwunden, indem er zu schreiben und zu veröffentlichen begann.
Ich habe nie für die Schublade geschrieben, sondern immer, weil ich was zu sagen hatte.
Bis heute. Die Sprachlosigkeit nach Mölln, die ersten Fluchtreflexe („Nur wohin? Meine Heimat ist auch die der Täter“) überwand er mit einem neuen Gedichtband, Gastling, seinem ersten Hardcover. Obwohl José Oliver keine tagespolitisch aktuelle Eingreif-Lyrik produziert (das unterscheidet ihn von Erich Fried, der die Gedichte von José Oliver sehr schätzte), zieht sich der rassistische Terror als blutroter Faden unvermeidlich durch das Werk.
Es riecht nach Schweigen.
Es riecht nach abgelegten Tagen.
Das Schweigen.
Das betrunkene Gelächter der Brandstifter.
Das betrunkene Gelächter der Gerechten,
der Immergerechten,
die nach Wasser fahnden.
Nicht finden.
Zündeln.
[aus: „Poem eine mir anvertrauten Gastlings“]
Olivers Poesie ist alles andere als multikulti-pflegeleicht, weder weinerlich noch rücksichtsvoll gegenüber den „guten Deutschen“ der Lichterkettengemeinde. „Zwischen den Stühlen / lebt die Möglichkeit“, formulierte er schon in einem seiner frühen Gedichte. Eine naheliegende Möglichkeit, „wenn man in einem Land geboren wurde, aber nie dazugehören durfte“, es sei denn, als kulturelles Rahmenprogramm auf Solidaritätsfesten und Vorzeigedichter beim „Tag des ausländischen Mitbürgers“. „Ausländer“, „Mitbürger“, „Gast-Arbeiter“, „Zu-Flucht“ – Oliver entwickelte eine außergewöhnliche Sensibilität für das Zweideutige von Sprache, für die hinter höflichen Floskeln verborgenen Vorurteile und Diskriminierungen. Er nimmt sie wörtlich, spielt mit ihnen, scheinbar naiv, lautmalt mit ihnen – wie sein Vorbild Jandl – bizarre Gemälde deutscher Realität.
Stefan Hölscher im Gespräch mit José F.A. Oliver am 30.12.2020 bei TEN-4-POETRTY
Marie T. Martin im Gespräch mit José F.A. Oliver „Alles Leben ist Peripherie und Zentrum zugleich“.
Sibel Kara im Gespräch mit José F.A. Oliver „Ich bin ein mehrkultureller Dichter.“
„Alles hat poetische Augenblicke“
Schwarzwälder Bote, 20.7.2021
Gespräch „Der Autor José F.A. Oliver ist als Sohn andalusischer Gastarbeiter im Schwarzwald aufgewachsen: Jetzt wird er mit dem Heinrich-Böll-Preis ausgezeichnet“
Südkurier: 20.7.2021
Ralf Burgmaier: Die Tür zu seinem Elfenbeinturm steht jedem offen
Badische Zeitung, 23.7.2021
In der Zwischenzeit: Poesie – mit José F.A. Oliver.
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