herrgott bin ich froh ich habe geburtstag
der tag hat mich wie ein aufruhr geweckt
hört ihr die dampfer tuten die kapitäne
tragen sonnen rosetten und lackschuhe
bringt einen sessel für die freiheit her
und eine girlande für meine schönen augen
die schatten sind kurz wie geschnittenes
gras die möve kreischt nicht sie pfeift
die tücher und scheren pfeifen lieder
beim fahnenschneider geht es laut her
straßen werden gefegt der fluß geputzt
windlichter bereiten sie für den abend
nähmaschinen reden in hehren slogans
über die vergangenheit des vaterlandes
von allen dachfirsten kollern abzeichen
alt und jung sammelt sie der tag blaut
neue briefmarken werden geküßt geklebt
und verabschiedet fahrt wohl fahrt wohl
hört ihr die dampfer tuten die brücke steckt
ihre fischumronnenen pfeiler ins ahornwasser
des königs luftflotte donnert guten tag
der tag blaut über den schornsteinen auf
jeder der sein abzeichen gefunden hat
ist glücklich wie eine sehr neue kirche
alle dampfer fahren mit weißen briefen
in die weite welt das meer ist auch blau
der tag hat mich wie ein aufruhr geweckt
herrgott bin ich froh ich habe geburtstag
H.C. Artmann
EIN BRIEF ZUM 60. GEBURTSTAG
Lieber H.C. Artmann!
Nur wegen des Zufalls von je fünf Fingern an einer Hand soll jetzt ein feierlicher Brief geschrieben werden?
Ich erinnere mich an einen Abend in Deinem Haus. Wir sahen einen französischen Fernsehfilm: Circusnummern junger Artisten in Paris. Solche Leute waren seit meiner Jugend immer Vorbilder für mich gewesen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen der vielen theoretischen Bemerkungen, mit denen ich seither versucht hatte, mich literarisch aufzuspielen.
Vor kurzem sah ich den russischen Staatscircus in Moskau mit seinem Olympiaprogramm: eine Art Show, in der sich ausgezeichnete Artisten dazu hergaben, für den Staat Propaganda zu machen.
Ich dachte an den Abend in Deinem Haus und es schien mir, daß Du, als circusartiger Künstler, niemals in einer Staats-Nummer zu sehen sein würdest.
Darauf wollen wir anstoßen!
Dein Gerhard Amanshauser
EIN PORTRÄT ARTMANNS1
Artmanns Schriften, von Freunden und Verlegern gesammelte „poetische Acte“, sind sie mehr als Scherzartikel? Sind sie nur Pose und Possen? Artmann selbst, ist er nur ein narrenbunter Archipoet, ein Bauchredner der Weltliteratur, ein Rumpelstilzchen der Sprache? Um Leben, Werk und Wirkung Hans Carl Artmanns haben sich zahlreiche Legenden gebildet, von ihm selbst und seinen Freunden überliefert. Die biographisch-historische Wirklichkeit aber ist erstaunlich genug.
Artmann ist ein Erbe des „kakanischen“ Zusammenbruchs, Zeitgenosse der Selbstzerstörung der 1. Republik, Zeuge der Machtübernahme Hitlers, Soldat im 2. Weltkrieg, Gegner der Wiederbewaffnung Österreichs seit 1955 und nach heutigem Selbstverständnis Verteidiger des Poeten-Rechts „auf anarchistische Un-Tätigkeit“. Er ist ein Erbe der österreichischen (und internationalen) Moderne, Promotor der österreichischen Literatur-Avantgarde der Nachkriegszeit, Propagandist und Denkmal des „poetischen Actes“ unter der Patronanz des „satanistisch-elegischen C.D. Nero“ und des „philosophisch-menschlichen Don Quijote“; er ist entschiedener Romantiker, unorthodoxer Surrealist, vielseitiger Manierist – erkennbar mehr als ein polyglott gefiederter Papageno der Literatur. Er ist ein Verwandter von Huysmans philologisch gebildetem Dandy Des Esseints, aber auch ein Nachkomme des volkstümlichsten aller Spitzbuben, des Kaspar. Als Erfinder einer kompletten metaphorischen Biographie (1973) sowie fragmentarischer Meisterwerke ist er unentwegt bestrebt, die Alltags-Wirklichkeit artistisch zu übertrumpfen oder zu überlisten. Sie anders als oppositionell-spielend verändern zu wollen, dazu ist seine poetische Phantasie nicht politisch genug.
Ein angemessenes Bild der um Erfolg, Mode und Ideologie verhältnismäßig unbekümmerten persönlichen wie literarischen Entwicklung Artmanns läßt sich gewinnen, wenn man die schwer überschaubare, in vielen verschiedenen Gattungen, literarischen Mustern und Sprachen versierte literarische Produktion des Autors nicht nach Textarten getrennt betrachtet (Lyrisches, Prosa, Szenen, Übersetzungen), sondern sie in ihrer wechselseitigen Verbundenheit und in Relation zur jeweiligen Produktions- und Rezeptionssituation wahrnimmt. Im Hinblick auf diese Faktoren lassen sich bis jetzt etwa fünf Perioden unterscheiden:
1. ARTMANN ALS PROTAGONIST DER VON DER ÖFFENTLICHKEIT UND DEM LITERATURBETRIEB ABGELEHNTEN LITERARISCH-SPRACHEXPERIMENTELLEN WIENER SUBKULTUR (1945 BIS 1957).
Die frühen Gedichte Artmanns (1946 bis 1953) zeigen die Loslösung vom Stil spätromatischer Naturlyrik und die – auch später anhaltende – Beschäftigung mit dem Surrealismus. Artmanns frühe Prosa, von 1949 bis 1953 (Das im Walde verlorene Totem, publiziert 1970): Personaggi, Greguerias und Fantasmagorien, sind Geistesblitze eines ironischen Antirealismus, preziös und respektlos. Die Prosa der darauf folgenden Jahre, weitgehend erhalten in dem Band Von denen Husaren und anderen Seil-Tänzern (entstanden 1959, publiziert 1971), stützt sich auf Gestaltungsmuster barocker Erzählkunst. Barocke Verskunst lebt wieder auf in den „epigrammata in teutschen alexandrinern“ (1957).
1953 erfolgte Artmanns „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ und mit der surrealistisch-dandy-haften Prozession durch die Straßen Wiens eine poetische Demonstration für die noch immer mit dem Makel des „Entarteten“ behaftete avantgardistische Literatur von E.A. Poe über Trakl bis Raoul Hausmann.
Charakteristische Beispiele aus der Zeit der sprachlich experimentierenden Zusammenarbeit Artmanns mit Achleitner, Bayer, Rühm und Wiener sind die im Sinne des „methodischen Inventionismus“ und der „erweiterten Poesie“ entstandenen Gedichte, die nach dem Prinzip der surrealen Montage hergestellten Texte (z.B. „kleine percussionslehre“, 1956) sowie die „montagen“ und „verbarien“ nach einem alten Lehrbuch der böhmischen Sprache.
In diesen Texten zeigt sich auch die Verbindung zur damals entstehenden „Konkreten Poesie“, deren Prinzipien der spielerisch-intuitive Artmann sich aber nicht streng unterordnete. In dieser Phase entstand auch ein Großteil der makaber-poetischen Pantomimen (Die Zyklopin, 1952) und surrealen Kurzdramen Artmanns (die fahrt zur insel nantucket 1954; tod eines leuchtturms, 1955). Artmann verband dann schwarze Romantik und Surrealismus auf eine dem absurden Theater Frankreichs vergleichbare Weise mit der Tradition der Zauberstücke des Wiener Volkstheaters und der Hanswurstfigur – der er schon 1955 auch eine Reihe von Liedern in den Mund legt: „die ausnehmend schönen lieder des edlen caspar (…)“. Daß jene ,Spiele‘ als Ausdruck einer kritischen Opposition zur sozial-kulturellen Entwicklung der Nachkriegszeit zu verstehen sind, zeigt Artmanns „Manifest“ von 1955:
wir protestieren mit allem nachdruck
gegen das makabre kasperltheater…
(gemeint ist die Wiedereinführung einer Wehrmacht).
2. ARTMANN ALS POPULÄRER WIENER DIALEKT-DICHTER; ERSTER EINSEITIGER RUHM (1958 BIS 1960).
Jene rebellisch-anarchischen Experimente und Aktionen blieben meist auf die Exklusivität der diversen Künstler-Keller und -Kaffees beschränkt. Die neuartigen Dialektgedichte Artmanns und seiner Freunde aber fanden den Weg in die breitere Öffentlichkeit und Artmanns Gedichte aus Breitensee med ana schwoazzn dintn (1958) wurden ein Bestseller, obwohl sich diese „Dichtung mit dem Dialekt“ von der behäbigen Provinzialität der früheren Dialektdichtung bewußt gelöst und befreit hat. Artmanns Synthese von schwarzem Humor und Vorstadt-Mundart, surrealer Montage und Kindheitsmuster hatte die Barriere zwischen poetischem Experiment und öffentlicher Kommunikation durchbrochen – allerdings nur an einer Stelle. Nur partiell war das (1954 begonnene) neutönerische Sprach-Spiel mit Dialekt, diese Enthüllung des Wiener Herzens, zum Gesellschaftsspiel vieler geworden. Kurz darauf entstanden und erschienen, als Auftragsarbeit für den Wiener Neuen Kurier, Artmanns Geschichten Von der Wiener Seite (erst 1972 als Buch).
Die schärferen Dialektgedichte des damals publizierten Bandes hosn, rosn, baa (von Achleitner, Artmann, Rühm) lösten bei einer öffentlichen Lesung Empörung aus.
Auch Artmanns Theaterstück Kein Pfeffer für Czermak (1959), den blauboad-Moritaten des Autors verwandt, konnten erst später einer breiteren Öffentlichkeit zugemutet werden. Seine Übertragungen aus den religiösen Dichtungen der Kelten (Die Schlüssel des heiligen Patrick, 1959) erzielten nur einen Achtungserfolg; die Geschichten Von denen Husaren und anderen Seiltänzern (publiziert 1959) wurden wenig beachtet. Selbst ein A.P. Gütersloh suchte für Artmanns Gedichtzyklus Verse, reime, formeln (1954/55) vergeblich einen Verleger.
3. ARTMANN AUF DEM LANGEN WEG ZUR ANERKENNUNG ODER FLASCHENPOST VON REISEN IN DIE WESTLICHE WELT (1961 BIS 1967).
Artmann löste sich 1961 von der einschränkenden, aber zugleich herausfordernden kulturellen Situation im Wien der 50er Jahre und begann ein unstetes Wanderleben, unterbrochen von längeren Aufenthalten in Schweden und Berlin. Die nun entstehenden Kasperl-Stücke Artmanns („die hochzeit caspars (…)“, fragm., 1960, und „die liebe fee pocahontas (…)“, 1961) machen deutlich, daß ihm die Welt nicht nur ein Kasperl-Theater, sondern ein Kasperl-Fresser-Theater ist, wobei für den Autor immer die Analogie Kaspar und Poet mit im Spiele ist.
Artmanns Lebens- und Sprachformen betonen so oder so ihre Distanz oder Opposition zur Dienstleistungsfunktion in der Welt des Nutzens und zur vom Dichter erwarteten Sinnstiftung im Rahmen vorgegebener Ordnungen; daraus ergibt sich der für ihn charakteristische Zusammenhang zwischen (poetischer) Anarchie und (wechselnder) Manier.
Etwa zu der Zeit, als er in seinem schwedischen Diarium Das suchen nach dem gestrigen tag (…), 1964, 22. Okt.) den Versuch notiert, „der vacuumverpackten ,grand merde‘ mit anstand zu entfliehen“, nämlich imaginär-phantastisch, durch einen aeronautischen sketch, enthüllt er rücksichtslos unanständig seine Auffassung von der Lebensqualität dieser Welt in dem ebenfalls in Schweden (1963) entstandenen Stück Erlaubent, Schas, sehr heiß bitte!: ein surreal-groteskes Bühnengleichnis auf Alltagsfaschismus und Prostitution (Antisemit Anton Lackl, Hitler im Rollstuhl; Stephanie als Perversion des Schnitzler’schen „süßn Madl“). Hier zeigt sich der Zusammenhang von Obszönität (Fäkalismus und Sexualismus) einerseits und Weltuntergangsstimmung andererseits. Außerdem wird der Zusammenhang von Agnostizismus und Abenteuersucht in manchen seiner Prosaarbeiten deutlich.
Aber jene Wiener Kaffeehaustragödie wie auch die 1966 geschriebenen Stücke punch und brighella (mit komischen Figuren aus der volkstümlichen englischen Stegreifkomödie wie der italienischen Welt der Commedia dell’arte) sind zur Zeit ihrer Entstehung so gut wie unbekannt geblieben und damit um ihre unmittelbare Wirkung gebracht worden. Eine Ausnahme macht der dramatisierte, im Berliner Europa-Center 1966 in Szene gesetzte Kurzroman: Dracula, Dracula. Ein transsylvanisches Abenteuer; er wurde als früher Beitrag zur deutschen Happening-Szene (miß-)verstanden.
Auch die Prosa der 60er Jahre zeigt auf ihre Weise die für Artmann charakteristische Konstanz und Variation der Grundmotive (z.B. Jagd, Reise; Liebe, Tod; Zauber, Verwandlung), die Vielfalt der Formmuster, die Kombination des Entlegenen und Trivialen. Der Pop-art-Züge vorwegnehmende experimentelle schwedische Tagebuch-Roman Das suchen nach dem gestrigen tag (…) (1964) führt Artmanns Perspektive und Arbeitstechnik ,im Kern‘ vor. Wie von einer Radnabe die Speichen ausgehen, so lassen sich frühere wie spätere Prosaarbeiten den entsprechenden Anschlußstellen in diesem ,Zentrum‘ zuordnen. Etwa die ironische Traumbuchimitation Grünverschlossene Botschaft. 90 Träume (entst. Berlin 1965); Die Abenteuer der Robinsonia (…) (1966); der Horror-Kurzroman: Dracula Dracula (1966) und das verwandte indische Abenteuer der rätselvollen Werwolf-Jagd: töck ph’rong süleng (1967). Ein Beispiel für seine ins Nachtseitige, ins Labyrinthische verliebte bizarre Fabuliertendenz, für seine Neigung zum Abenteuer- und Horror-Kunstgewerbe bietet: Frankenstein in Sussex. Die in der Art einer alten Fibel gereihten Berufs-Bilder von Fleiß und Industrie (1967 entstd.) propagieren weder Fleiß noch Industrie. Nicht Berufe, sondern rätselhafte, unheimliche Ereignisse bzw. Geschichten sammelt der Band: Die Anfangsbuchstaben der Flagge (publiziert 1969).
Die Gedichte der 60er Jahre zeigen zunächst Artmanns Kunst der Wiederaufnahme alter Versmuster: etwa in der Reihe der betörend schönen persischen quatrainen (vor 1960 entstanden, erst 1966 publiziert). Anders der Zyklus: auf meine klinge geschrieben (1960); er schließt unmittelbarer an Erinnerung und Gegenwart an. Wie in diesem so finden sich auch in anderen Gedichtzyklen dieser Zeit (z.B. hirschgehege & leuchtturm, 1962) zahlreiche Liebesgedichte. Dabei fällt auf, wie konkret-sinnlich Artmanns „Choreographie“ der Gefühle und Erfahrungen der Liebe (und des Todes) wirken kann, obwohl der Autor Liebe (und Tod) durchaus nicht unverblümt zur Sprache bringt. Nach Gedichten in freien Langversen (Berlin 1962) im Anschluß an den spanischen Dichter Vicente Aleixandre, nach den experimentellen Verbarien flaschenpost (Malmö 1964) und dem folkloristischen Kompendium seiner Schreckens- und Zauberwelt in den Kinderreimen allerlei-rausch (1966) erreicht Artmann in dem Zyklus landschaften (1966) jenseits seiner vielfältigen Sprachmasken einen neuen Höhepunkt seiner lyrischen Dichtung; sie wurden von ihm selbst erläutert und von Walter Höllerer als exemplarische Realisierung des sogenannten „langen Gedichts“ begrüßt.
4.DIE WERKE DES WELT- UND ZEITREISENDEN, VON FREUNDEN GESAMMELT, WERDEN DER ÖFFENTLICHKEIT PRÄSENTIERT (1967–1970).
Artmann wäre wohl als ,blauboad‘, als fahrender Scholar und Archipoeta, als „Landgraf zu Camprodon“ (= Festschrift für den Husar am Münster Hieronymus Caspar Laertes Artmann, 1967) eher in die Legende als in die Literaturgeschichte eingegangen, hätten seine Freunde nicht die Manuskripte des sorglos Produzierenden gesammelt und das Interesse großer Verlage an diesem (wenn, dann meist in Kleinverlagen publizierten) Werk mobilisiert. Die Sammelwerke zeigen Artmann in seiner ganzen Vielseitigkeit:
Ein lilienweißer brief aus lincolnshire, hg. von Gerald Bisinger bei Suhrkamp (1969), präsentiert die über 450 Gedichte aus 21 Jahren (1945 bis 1966) in einer von Artmann autorisierten Anordnung.
Unter dem Titel: die fahrt zur insel nantucket versammelt Peter O. Chotjewitz 29 seit 1952 entstandene bzw. erhaltene Spiele und Szenen Artmanns (Luchterhand, 1969).
Hannes Schneider legt (1970, Residenzverlag) Artmanns verloren geglaubte frühe Prosa aus den Jahren 1949 bis 1953 vor: Das im Walde verlorene Totem.
Und Klaus Reichert ermöglicht mit seinem wohlfeilen und kritisch ausgewählten Artmann-Lesebuch: The Best of H.C. Artmann (Suhrkamp, 1970) eine breitere Rezeption des neugewonnenen Bildes von diesem Autor.
In der Folge, 1974, erhielt Artmann den österreichischen Staatspreis für Literatur; 1977 den Preis der Stadt Wien für Literatur. Er hatte nicht nur die „editorische Schallmauer durchbrochen“ (W. Maier), sondern auch öffentliche Anerkennung gefunden.
5. ARTMANN ALS WOHLETABLIERTER AUSSENSEITER DER ÖSTERREICHISCHEN LITERATUR DER GEGENWART (1971ff.).
Sein (verspäteter) Ruhm und sein (mit Mißtrauen gewürztes) Ansehen ermöglichten es Artmann, seinen Freunden – als Gegengabe für treue Sammeltätigkeit – ein Denkmal zu setzen; es wurde ein Gruppenbild: Der Poet und seine Freunde als Detektive, „stets auf der jagd nach dem gefährlichsten wild der welt – dem menschen in seinem wahn, der perfekteste verbrecher zu sein und nie gefaßt zu werden“ (Detective Magazine der 13, 1971).
Artmann ist seit etwa 1973 in Salzburg wohnhaft, aber nicht seßhaft. Das Jagdmotiv zeigt sich demgemäß auch in den folgenden poetischen Arbeiten: im Bild der Angelrute, der Erwartung eines Romantikers (Unter der Bedeckung eines Hutes, 1974, 26 Montagen und Sequenzen) und im Bild der Botanisiertrommel (Balladen und Naturgedichte, 1975). Am deutlichsten in der längeren Prosaarbeit Die Jagd nach Dr. U. (1977); diese Jagd nach Doktor Peterwardijn Unspeakable, dem „scheusal im inneren des fleisches“, entpuppt sich als Artmanns Suche nach der eigenen Biographie, nach Identität; der Autor erzählt aus der Perspektive eines „eremiten“, der hinter seinen 12 Schlüssellöchern sitzend die Welt beobachtet. Auch die Nachrichten aus Nord und Süd (1978) sind eine Suche nach der eigenen Identität; es sind sprachassoziativ verschlungene Nachrichten von dem nun kaum maskierten Autor, seinem Leben mit Frau und Kind, seinen Freunden und seinem „einzigen Stolz“, der darin besteht, „daß ich niemals ein vom staat als staatsfördernd anerkannter schreiber war und ich habe auch keinerlei gelüste jemals ein solcher zu werden“.
In diesem Sinne hatte Artmann sich vor Jahren zum Präsidenten der Grazer Autorenversammlung, dem innerösterreichischen ANTI-PEN wählen lassen; in diesem Sinn ist er 1978 mit Eklat (und Rosei und Eisendle) ausgetreten. Er will – mit Freunden – das bleiben, als was er begann: ein „unbewaffnete(r) Individualanarchist (…) austriazistischer Prägung“ (1978).
Die schon rein quantitativ imponierendste Sammlung hat 1979 der Salzburger Residenzverlag zustandegebracht: Unter dem Titel: Grammatik der Rosen wurde in 3 Bänden und auf 1.362 Seiten Artmanns Prosa von den Anfängen bis zur Gegenwart (nahezu) vollständig versammelt. Damit ging ein langgehegter Wunsch des Autors – und seiner Leser in Erfüllung. Vielleicht wird Artmann als Hausautor des Residenzverlages in seinem Haus vor dem Untersberg – als externer Paladin Kaiser Karls im Untersberg – auf den (unvermeidlichen?) Weltuntergang warten?
BÖSE GÄRTNER? – ODER: DIE ANFÄNGE DER ARTMANN-PHILOLOGIE
Die Früchte von Artmanns poetisch-anarchischer Vielseitigkeit und Extravaganz werden zunehmend auch mit akademisch-philologischer Aufmerksamkeit registriert, wie die seit den 70er Jahren sich mehrenden Würdigungen seines Werkes erkennen lassen:
Nach dem Erscheinen der Sammelpublikationen begann Artmann in den neueren Literaturlexika aufzutauchen (z.B. Rowohlt, VEB Bibliographisches Institut Leipzig) und bald nach dem Suhrkamp-Band: Über H.C. Artmann (1972) stand Artmanns Porträtbüste (von Karl Riha) in Benno von Wieses Sammlung Deutsche Dichter der Gegenwart (1973). Entsprechend seiner Tätigkeit als Lyriker, Prosaschriftsteller, Bühnenautor – und Übersetzer fand sich Artmann auch in Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart, deren Österreich-Band Hilde Spiel herausgab (1976), ausführlich dargestellt. In der von Dietrich Weber hg. Deutschen Literatur der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Bd. 2 (1977) legte Werner Eggers eine kritisch würdigende Gesamtdarstellung Artmanns vor, die mit alten Irrtümern aufräumt und mit großen Aufgaben einer künftigen Artmann-Philologie rechnet.
Im Jahr darauf kam die erste Artmann-Dissertation auf den Markt der Sekundärliteratur: Peter Pabisch: H.C. Artmann. Ein Versuch über literarische Alogik. Während diese Arbeit zeigt, daß und wie die Artmann-Philologie noch in den Anfängen steckt, wird in dem ebenso gelehrten wie vergnüglichen Aufsatz von Christian W. Thomson und Gabriele Brandstetter vorgemacht, wie philologische Arbeit an Artmann-Texten sein kann, wenn sie philologischen Grundsätzen und dem bizarren „Gegenstand“ gerecht werden will (In: Thomson/Fischer (Hg.): Phantastik in Literatur und Kunst, 1980). Ein erstes vorbildliches Beispiel der Artmann-Philologie hatte 1972 Mechthild Rausch mit ihrer Studie über „Punch und Putschenelle“ geliefert (In: Bisinger (Hg.): Über H.C. Artmann).
Die Entwicklung einer zünftigen und kritischen, belehrenden und ergötzlichen Erkenntnis des Phänomens Artmann wäre vor allem eine Aufgabe für Komparatisten, Linguisten und Literatursoziologen – wenn man nicht in dem aktuellen Gegensatz der Artmann-Fans und Artmann-Gegner stecken bleiben will. Diese „wissen“ entweder, daß „Artmann der wahrscheinlich einzige wesentliche Dichter ist, den die deutsche Literatur nach 1945 hervorgebracht hat (…)“ (Peter O. Chotjewitz) – oder sind sicher, daß „die ,ganz reinen poeten‘, wie etwa ein Artmann, als literarisches Gegenstück zu unserem Jodler- und Schuhplattlerexport“ zu beurteilen sind (Michael Scharang).
Josef Donnenberg
Obwohl Artmann am 12. Juni 1981 sechzigsten Geburtstag hat – „nua ka schmoez ned…“ Aber freuen dürfen wir uns doch, daß Artmann derzeit ein Salzburger ist – und wollen mit diesem Sammelband (nicht nur) respektvoll den Hut ziehen. Natürlich wäre es schön, über Artmann zu schreiben, wie er selber etwa über die Zigeuner schreibt, oder mit scharfsinnig-poetischen Greguerias anzutanzen, aber wir ziehen den Hut auf unsere Weise, jeder auf seine Art, und nehmen uns dabei kein Blatt vor den Mund.
Die Verfasser der Beiträge kommen aus dem Bereich von Schule und Hochschule, aus Stadt und Land Salzburg, sind miteinander durch Freundschaft und das Interesse für Artmann verbunden, aber keiner gemeinsamen programmatischen Linie verpflichtet. Sie wollen Artmann nicht auf eines der gängigen Schemata festlegen, wie „enfant terrible der Literaturszene“, „Mundartdichter“, „villonesker Vagant“, „skurriler Poet“, „vampirischer Altgraf“ und dergleichen; sie sind vielmehr bestrebt – um Artmann in seiner unnachahmlichen Vielfalt zu zeigen –, einige wichtige Perspektiven seiner vielschichtigen Eigenart deutlich zu machen.
Deshalb folgen auf den Geburtstagsbrief Amanshausers, das Artmann-Portrait und den Bericht eines Artmann-Lesers, der über eine beneidenswert umfassende Sammlung von Artmann-Schriften verfügt, zunächst die Beiträge über Artmanns Mittelalter-Okulation (mit einem bisher unveröffentlichen Lied Artmanns), über seine Barock-Rezeption und über seine Stärken und Schwächen als Übersetzer. Darauf folgt die Gruppe der Aufsätze, die sich an Beispielen mit Artmann als populärem Mundart-Lyriker, als Prosa-Autor, als Verfasser von Kurz-Dramen beschäftigen sowie seine poetische Manier charakterisieren und interpretieren.
Immer wieder drängen sich in der Diskussion um Artmann Fragen auf wie: Sind seine Gedichte, Theaterstücke und Prosabände am Ende nur Scherzartikel und Possen? Artmann selbst – ist er nur ein narrenbunter Vagabund in der Pose des Archipoeten?
Ein Bauchredner der Weltliteratur, ein Rumpelstilzchen der Sprache? Sein Leben und seine Poesie – eine romantische Pose der Verweigerung oder gar der Ausflucht vor der „Realität“?
Indem die Verfasser der Beiträge sich solchen und ähnlichen durchaus nicht nur schmeichelhaften Fragen stellen und sie zu beantworten versuchen, hoffen sie einerseits, dem interessierten Artmann-Leser Hinweise und Anregungen zu vertieftem Verständnis zu geben, andererseits auch Beiträge zur Artmann-Forschung zu liefern. Nicht zuletzt will dieser Sammelband Impulse geben zu ergötzlichem und nützlichem Umgang mit Artmanns Schriften, in denen der Poet in der „allergrünsten aller Sprachen“ die „abschaffung der gleichgültigkeit unter menschen“ anstrebt.
„Gut ding braucht wohlbedachte eile“, sagt Artmann. Daß aus den Beiträgen ein Sammelband geworden ist, verdanken wir Ulrich Müller, der sie in die Schriftenreihe der Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik aufgenommen und den Herausgeber mit Rat und Tat unterstützt hat. Daß aus den Manuskripten Druckvorlagen wurden, dafür danken wir sehr herzlich Fräulein Margit Schönauer. Daß den Umschlag des Sammelbandes zwei „historische“ Artmann-Fotos (1969) aus der Frühzeit des Salzburger Literaturforums Die Leselampe zieren, das danken wir dem Salzburger Pressefotografen Johann Barth.
Artmann selbst möchten wir um Nachsicht bitten, daß die „burschen von der germanistik“ (die ihn nach seinen eigenen Worten „samt und sonders für einen launigen equilibristen halten / für einen sprachfex und tausendsassa / der sich halt einen jux machen will“) ihm und seinen „edlen taten“ nur langsam auf die Spur kommen.
Josef Donnenberg, Vorwort
– Vorwort
– Inhaltsverzeichnis
– „herrgott bin ich froh ich habe geburtstag“ (H.C.A., 1962)
– „kraft des raben dir“ (H.C.A., 1959)
– Gerhard Amanshauser: Ein Brief zum 60. Geburtstag
– Josef Donnenberg: Ein Porträt Artmanns
– Gerhard Schmuck: Wie ich Artmann-Leser wurde
– Ulrich Müller: Das suchen nach dem gestrigen tag: ARTus und ARTmann oder: Die Okulation des Mittelalters durch H.C. Artmann
– Adolf Haslinger: Zwei Randglossen zur Textrealisation bei H.C. Artmann
– Wolfgang Pöckl: „gedichta r aus baris“ und “Der abenteuerliche Buscón teutsch“ – H.C. Artmann als Übersetzer Villons und Quevedos
– Gert Kerschbaumer: „med ana schwoazzn dintn“ – Dialektgedichte von H.C. Artmann im Unterricht
– Eduard Beutner: „Das Monster schwamm einen ausgezeichneten Stil“ – Trivialmythen bei H.C. Artmann am Beispiel Frankenstein in Sussex
– Gerd-Dieter Stein: „Das Mirakel der Nebensächlichkeit“. Ein Versuch zu Artmanns Theaterspielen
– Josef Donnenberg: Pose, Possen, Protest und Poesie – oder: Artmanns Manier
– Literatur von und über H.C. Artmann (Auswahl)
– Die Autoren
– H.C. Artmann im Rückblick über Anekdoten zu seiner Literatur. –
Das von H.C. Artmann persönlich in mein 24. Materialienbuch (MB)2 geschriebene Zitat im Titel dieser germanistischen Betrachtung lautet im handgeschriebenen Gesamttext:
da kaos in taos
is aa wos!
aaaaagut? Oder?
aaaaaH.C. 14.5.1894
Das Datum am Ende stimmt, nur das Jahrhundert muss um zehn Dekaden vorgerückt werden – und soll demnach 14. Mai 1994 heißen; das Datum von Artmann selbst war seinem Mystifikationsprinzip entsprungen. Da saß er mit dem damals, vor zwei Jahrzehnten namhaften, im Jahre 2005 jung verstorbenen deutschen Dichter Thomas Kling3 und mit mir in einer Kneipe im Dorf Holzheim am Rhein des Kreises Neuss. Dorthin hatten uns Landrat Dieter Patt und der Leiter des „Internationalen Mundartarchivs Ludwig Soumagne“ in Zons, Achim Thyssen,4 nach einer Lesung Artmanns auf der Kunstinsel Hombroich bei Düsseldorf mit dem Auto geführt. Wir sollten dann auf Betreiben der Veranstalter zu dritt – Artmann, Kling und ich – bis lange nach Mitternacht sitzen, angeregt fachsimpeln und Bier trinken. Ich verfasste am 15. Mai den historischen Moment in dem genannten MB (S. 125–137) und gebe ihn hier zum ersten Mal in leicht editierter Form zunächst wieder, belasse aber unvollständige Sätze und Einzelworteinfügungen im MB. Durch Schrägstriche gekennzeichnet sind Auslassungen („ / … /“) oder neue Einfügungen zum besseren Verständnis („/ […] /“). Erst danach folgen weitere Erläuterungen zur Sache des Themas.
/BEGINN MEINER AUFZEICHNUNG vom 14. und 15. Mai 1994:/
14. Mai 1994, 15:15 Uhr. Um 16 Uhr soll mich Achim Thyssen für die Kunstinsel Hombroich abholen – und ich bin erfreut nervös. Weiß nicht genau warum, weil ich Herrn Artmann persönlich kaum kenne – vielleicht deshalb. / … /
15. Mai 1994: DAS Erlebnis: 14.5.
Um 16 Uhr holte mich Achim mit seiner Frau Christa zur Fahrt nach Hombroich ab. / … / So kamen wir auf die „Insel“. Landrat Patt hatte eingeladen und holte uns zum „5. Inseltreffen 1994“ ab. In der Scheune sollte H.C. Artmann aus eigenen Werken lesen. Wir schlenderten durch das Müllersche5 Kunstgelände, um vor 17 Uhr in der Scheune einzutreffen. Mir blieben Skizzen Rembrandts in Erinnerung und Tadeus-Skulpturen ebenso. Dann noch der Architekt und Künstler ERWIN HEERIG, der architektonische Zeichnungen nach dem Muster des Bauhauses vorstellte. Alle Gebäude auf der Insel stammen von ihm und waren von ihm in /Modell-/Messingformen vorgegossen, ehe sie in voller Größe errichtet wurden. Wir schlossen unseren Weg beim Kaffee in einem weiteren dieser Gebäude ab.
Schon waren wir bei der SCHEUNE, wo Müller prompt seinen Ehrengast vorführte: H.C., der sich an mich erinnerte, obwohl die Begrüßung kurz war; der Autor stellte sich auf die Lesung ein. Zugegen waren ca. 150 Leute. Artmann las zuerst aus Die Sonne war ein grünes Ei, gefolgt von einer Erzählung aus how much, schatzi? Und einer heiteren Sache aus Von der Wiener Seite (die Geschichte mit dem Zorro aus Senf). Gedichte gab es leider keine. Viel Applaus nach einer spannenden Stunde.
Ich wurde in Anwesenheit von Dieter Patt und den Thyssens noch einmal vorgestellt und eingeladen, ins Haus Müllers mitzukommen, wo Delikatessen und Getränke geboten wurden. Da sprach ich wieder mit Müller und auch mit Peppo Lampertsberg, dem Komponisten und alten Artmannfreund. Doch es begann an diesem Tisch ein Gespräch mit Artmann und dem jungen deutschen Dichter Thomas Kling, das in einer Neusser Kneipe bis nach Mitternacht angeregt fortgesetzt wurde. Während des Gesprächs wurden H.C., Thomas und ich per Du – ich nenne ihn „Hace“. Artmann ist nach Taos für /den Sommer/ 1995 eingeladen und wird sogar demnächst nach Graz kommen.6
Geduldig, aber auch interessiert antwortete H.C. auf alle meine Fragen, wobei mich Thomas unterstützte, der sich wie ich des historischen Moments voll bewusst war. Nach anfänglichen Zweifeln der beiden dem Germanisten gegenüber („a Germanüst“) entfaltete sich bald ein sehr freundschaftliches Verhältnis, das ich so spät nach meinen Artmannstudien /samt erster Doktor-Dissertation (1974) über ihn und sein Werk/ nicht mehr erwartet hätte. Was da nicht alles besprochen wurde! Der Reihe nach wird’s wohl nicht vorangehen, aber ich will mich sehr bemühen, vieles, wenn doch nicht alles auf den nächsten Seiten festzuhalten.
Ich spazierte heute früh /15. Mai 1994/ nach dem Frühstück durch das schöne Waldstück auf der Strecke entlang der ERFT und dachte an einen Abend, der beinahe meinen Lebenszweck bestätigte, war doch meine Dissertation über Artmann Wurzelstock meiner folgenden Forschungskarriere, wie immer wichtig man sie sehen mag.
Zurück zum Vorabend in Holzheim: Wir tranken zu dritt 33 kleine Hanen-Alt, das sind je elf oder ca. 2,2 Liter Bier pro Mann – eigentlich nicht so viel für fünf Stunden. Immer intensiver wurde das Wechselgespräch. Artmann war immer freundlich und informativ und bestach durch seine Kenntnis der Weltliteratur. Kling wusste recht viel über Artmann und Reinhard Priessnitz,7 musste aber unseren Informationsvorsprung (sicherlich aus Altersgründen) anerkennen.
Artmann kannte Friedrich Polakovics,8 d.h. er kennt ihn und erinnert sich freundlichst an ihn. Sie haben in der Wiener Schuljugendzeitschrift neue wege zusammengearbeitet (Ernst Jandl wurde nie gebracht, sagte er, ich denke aber doch – aus der Phase /seines frühen Bandes/ andere augen. Dazu Artmann: „Jo, jo. Do hod a se später eh geniert.“). Polakovics sei als Schriftsteller sehr begabt, habe aber nie Disziplin und Durchhaltekraft gezeigt. Das sei wirklich schade bei so viel Talent.
Woher ich so frühes Interesse für das Neue bezogen habe, fragt Thomas. Von Anton Scheiblin,9 erwidere ich und erkläre das Wirken meines verehrten Lehrers /an der Lehrerbildungsanstalt in Wien III, Kundmanngasse/. Scheiblin leitete fünf Jahre vor uns /1947 bis 1952/ den „Hermann-Jandl-Jahrgang“. Kennt Artmann Hermann Jandl?10 „Jo, habe ich schon getroffen, steht gänzlich im Schatten seines Bruders.“ Den (Ernst) verehrt er sehr. Sein Sohn Patrick musste zu ihm in der Schule „Herr Professor“11 sagen. „Des wär’ jo no gaungan, oba doss er auch noch da Schui Professor sogn soitat, nachdem er scho johrelong Ernst! – aus unsara Bekenntschoft eben – xogt hot, des woa eam zvü!“ Ich zitiere hier Artmann im Dialekt, er spricht eher Schönbrunnerdeutsch. Wiederholt betont er, dass er kein Dialektdichter sein wolle, dass er sich aber zu der Sache bekenne.
Und nun weiter zu Stichworten, die ich ihm zuwarf, und die er, wie erwähnt, geduldig kommentierte:
Wiener Gruppe habe es nie gegeben. Liege ihm doch nicht. Auch nicht mit Gerhard Bronner, Peter Wehle. Nein! Die haben das Unterhaltsame, Oberflächliche im Dialektgebrauch hervorgekehrt. Es gebe gute Wiener Lieder – er singt ein mir Unbekanntes vor. Ich frage ihn über „die Hausherrnsöhnln“. Nur gut, wenn es Helmut Qualtinger und André Heller singen.12 Gerhard Rühm habe die Gruppe für die Geschichte forciert. Da gebe es eher eine Grazer Gruppe. Er erwähnt weitere Mitglieder einer Ära Wiener Gruppe: Ernst Jandl, Friederike Mayröcker (ihre frühen Gedichte seien die besten), Andreas Okopenko. Konrad Bayer habe nie Selbstmord begangen. Er habe das Gas aufgedreht im Russischen-Roulette-Stil, um seine Frau zu erwarten, die an diesem Abend später nach Hause kam… Ossi Wiener, wird zu stark betont – auch Friedrich Achleitner macht nichts Literarisches mehr. Aber als Freunde mag er sie alle!
Nun zu Werken. Ich frage ihn alles, um meine verschiedenen Thesen und Behauptungen zu überprüfen. Er bemüht sich, ehrliche, genaue Antworten zu geben. (Ich verspreche ihm und Thomas Kling mein Werk Luslustigtig (1993):
1. Frühe Studien: Er war in der Nationalbibliothek, Gerhard Rühm nicht. Neben Andreas Gryphius nennt er noch andere Barockdichter.
2. Übersetzungen: H.P. Lovecroft erwähnt er mit Nachdruck. Edward Lears Nonsense-Verse haben ihm Spaß gemacht. Wir erwähnen /den Übersetzer und Schriftsteller/ Lars Gustafsson.
3. Es gebe über dreißig schwedische Gedichte von ihm /Artmann/, nur acht haben „überlebt“. Seine ehemalige schwedische Frau müsse sie, „die übrigen“, noch haben. Er habe schwedische und finnische Epen studiert, Kalevala möge er sehr (wir denken über den Dichternamen nach und erinnern uns nicht: /Lönnrot/).13 Märchen und Mythen aus Lappland seien seine, Artmanns, eigenen.
4. Wie stehe es mit dem Dazischen /oder Dakischen/? Nun, er könne es nachempfinden. Er liebe romanische Sprachen – vor allem Spanisch, auch Französisch und Italienisch.
5. Wir erwähnen rasch die kurzen Sachen – verbarien, Lautgedichte. Walter Höllerer wird von H.C. Artmann erwähnt und dessen Aufforderung /um 1966/ zu zeitgemäßer Sprachbehandlung durch die Autoren.
6. Habe er nichts zwischen hosn rosn baa und das suchen nach dem gestrigen tag geschrieben? Doch, die schwedischen Gedichte und Übersetzungen.
7. Das suchen nach dem gestrigen tag sei sehr autobiographisch. Er sei Europäer, aber doch Österreicher.
8. Wir kommen auf das amerikanische literarische Journal Dimension14 zu sprechen. Arnos Leslie Willsons Leistung als dessen Herausgeber wird gewürdigt.
9. Es gebe jetzt noch andere englisch/amerikanische Übersetzungen seiner Werke, die ihm gefallen. Ich verspreche ihm meine drei übersetzten Gedichte zu senden.
10. How much, schatzi? – die Titelgeschichte mit dem „wabbelweichen sülzknie“ – das sei er in einer miesen Phase seines Lebens.
11. Beiden, Artmann und Kling, haben die Mütter sehr beigestanden. Artmanns Mutter starb 94-jährig! Sie habe ihn immer zur Dichtung ermuntert.
12. Thomas Kling sagt mir, dass die junge Generation /um 1990/ wenige Beziehungen zu den Anfängen in den fünfziger und sechziger Jahren hege. Artmann sei nicht mehr so bekannt.
13. Vom Buchverkauf könne er, Artmann, nicht leben. „37,60 DM letztes Jahr /1993/ vom Suhrkamp-Verlag.“ Der Residenz-Verlag zahle sehr schlecht. Die Lesungen, ihrer siebzig pro Jahr, halten ihn über Wasser. Für die heutige Lesung gab es DM sechstausend. Nicht immer liege das so hoch.
14. Thomas Kling sei eine große Begabung. Ich solle etwas für ihn tun. Ich verspreche es, betone aber dessen Jugend; zuerst wolle ich ihn, Artmann, einladen. Er sagt für Taos 1995 zu und schreibt sein kurzes Gedicht vom Kaos in Taos.
15. Er habe acht Enkelkinder und sechs Kinder. Griselda Emily, am liebsten Emily genannt, sei ihm am nächsten, mit ihm aufgewachsen. Die anderen (außer Patrick, der jetzt /d.h. 1994/ 47 Jahre alt sei) haben sich erst mit 17, 18 Jahren bei ihm vorgestellt: „I moch ma meine eiganan Kinder, brauch kane Enkelkinder, aber hob ihrer acht!“
16. Die irische Dichtung – er liebe das Irische und empfinde es nach. Es lässt sich nicht feststellen, wie gut er es kann. Ein lilienweißer brief aus lincolnshire beziehe sich auf die Gegend der WASH, sagt er leuchtenden Auges. Ich kann den Grund für deren Leuchtkraft nicht erfragen, weil er zuweilen mit Thomas in Seitenbemerkungen gerät. Das werte ich gar nicht als unhöflich, aber manchmal beziehen sie sich auf die Gegenwartsszene, die ich nicht kenne. So empfiehlt er mir Ferdinand Schmatz als Priessnitz-Herausgeber.
17. Gerald Bisinger lebe ein sehr einsames Leben. Guter Freund.
18. Wieland Schmied, René Altmann und er seien eine Art „Mödlinger Gruppe“.
19. Greguerías liebe er sehr (ich verspreche ihm, meinen Artikel mit Alfred Rodriguez15 in World Literature Today zu senden). Ramón Gómez de la Serna, den Namen spricht er spanisch aus.
20. Unter den Germanisten schätze er Josef Donnenberg – in Salzburg erhielt er das Ehrendoktorat „in schwarzer Robe“ –, Wendelin Schmidt-Dengler, auch Jörg Drews – den scharfen, eigenwilligen, auch arroganten, und auch mich…
21. Das Werk Aus meiner Botanisiertrommel sei ihm sein liebstes Werk – keine Travestie, eigene barock-empfundene Dichtung!
22. nachrichten aus nord und süd sei mit Absicht ohne Interpunktion geschrieben, damit man es „von vorne und von hinten lesen“ könne. Er erwähne drin die Freunde der Wiener Gruppe aus Überzeugung, auch wenn er an die Gruppe nicht glaube.
23. Der Verlag Renner bringe nun seine zehnbändige Gesamtausgabe heraus.16
24. das prahlen des urwaldes im dschungel habe er auf Anregung seiner Tochter Emily geschrieben.
25. Ich skizzierte Artmann während der Lesung: 6 Skizzen, darunter jedoch eine von Müller, dem Mäzen.
26. Artmann erinnert sich nicht an Bernd Doerdelmann.17
27. Artmann erinnert mich an Anton Wimmer.18 Ähnliche freundlich-scharfe Grundsätze, ähnlicher Humor.
28. Artmann bespricht mein erstes Buch aus der Dissertation und dass ich in vielem recht habe, nur nicht das „uurw’pp“ im „descarnatio talftlrock“, das habe ich falsch interpretiert. Es sei reine Lautdichtung – eher aus dem Irischen…
29. Der zerbrochene Krug, Umdichtung ins Niederösterreichische (er erklärt Kling ein paar Dialektunterschiede) werde noch immer gespielt – zur Zeit /1994/ in Klagenfurt.
30. Hans Haid19 – Artmann lobt ihn als guten Sprachempfinder. Lobt sein Tirolerisch.
31. Es wird über Heimito von Doderer und den Erfolg der Dialektseite im KURIER gesprochen – und daraus entstand auch Artmanns Von der Wiener Seite.20
Patt und die Thyssens verstanden sofort, dass ich noch weiter mit Artmann sprechen wollte, und entfernten sich, nachdem sie eine Weile mit uns gesessen hatten, so um 20 Uhr freundlich. Ich werde sie heute wiedersehen und verdanke ihnen auf dieser und früheren Forschungsreisen viel. Der 14. Mai 1994 („1894“) hat meinen Lebensweg als Forscher zusammengeknüpft, ihm Sinn gegeben – ohne Gefühlsduselei: ich habe meine Arbeit bestätigt gefunden.
Noch zu Müller: Dieser Mäzen kann nicht genug gepriesen werden. Alle Kunstrichtungen fördert er, auch die Musik.
Peppo Lampertsberg lud mich ein, ihn wiederzusehen. Er wirkt als zeitgenössischer Musiker und fehlt als ältester Freund Artmanns auf fast keiner Veranstaltung dessen.
Im Publikum befanden sich auch viele Frauen: Artmann Frauenlob.
Eine Freude dieser Tag!
/ENDE DER AUFZEICHNUNG/
Diese für mich und mein größeres Verständnis von Artmann wichtige Begegnung kam zu einem auch für den Dichter wichtigen Lebensabschnitt. Er hatte gerade seine zehnbändige Lyrik-Ausgabe Das poetische Werk unter Mitwirkung des Autors fertiggestellt bzw. neu zusammengestellt. Herausgegeben wurde es von seinem langjährigen Förderer und Verehrer Klaus Reichert im Verlag Klaus G. Renner, wie schon erwähnt. Darin fasst er zusammen und überschaut noch einmal sein für ihn wichtigstes Genre – die Poetik als Kunst des Lyrischen. Da er selbst bei dieser Auswahl mitwirkte, gab es Nachteile der objektiven Auswahl, die aber von den Vorteilen der Kenntnisse des Dichters klar übertroffen wurden. Bei dem Treffen in Holzheim lag das Werk noch nicht vor und ich konnte daher keine Fragen dazu stellen. Ich las es erst nach Artmanns Hingang vor einem Jahrzehnt genauer und las es für die vorliegende Studie noch einmal eingehend. Es stellt tatsächlich die Essenz seiner Kunst des Lyrischen vor, wenn auch von seinem Gestaltungswillen zurechtgeschnitten. Dabei gingen die „greguerías“ verloren, die ihn einst mit Ramón Gómez de la Serna verbanden. Das war in den 1950er Jahren, als er auch „fantasmagorische greguerías“ vorstellte. Oder es fehlt das geschmeidige Gedicht aus dem Band Aus meiner Botanisiertrommel, das mit den schwungvollen Zeilen beginnt:
herr artmann kommt auf den vulkan, den urwald hat er längst verlassen.
Ich hätte gerne die Gründe gewusst, warum er dieses und anderes ausschied. Gleichzeitig repräsentiert diese mehrbändige Ausgabe in jeder Weise den Meister des Poetischen Actes, der im 10. Band im Essay des Herausgebers Klaus Reichert (1994) noch einmal als ein wesentliches Element von Artmanns dichterischer Auffassung vorgestellt wird. Die Darstellung des Poetischen Actes hatte ich schon in meiner Dissertation (1974) und dem daraus folgenden Buch (1978) ins Zentrum der Betrachtung des Artmann’schen Werkes gestellt, und daran haben sich nachfolgende Theoretiker orientiert, oft ohne mich zu zitieren.
Zuerst jedoch weiter zur historischen Situation des Jahres 1994 und ihres Bezugs zu historischem Geschehen um Artmann aus meiner Erfahrung davor und danach. Er durfte mit dieser großen, festgebundenen und hervorragend edierten Ausgabe sein poetisches Gesamtwerk zusammenfassen, zu einer Zeit, als Thomas Kling (Punkt 12) darauf aufmerksam machen musste, dass Artmann beim Leserpublikum nicht mehr bekannt war. Der Suhrkamp-Verlag habe ihm 1993 nur mehr ganz geringe Tantiemen bezahlt. Doch seien die Lesungen gut besucht und ebenso gut dotiert, davon lebe er eigentlich.21
Der Kreis Neuss lud ihn schon wieder im Herbst 1994 zur Verleihung des Friedestrom-Preises ein, wozu das „Internationale Mundartarchiv Ludwig Soumagne“ in Zons/Rhein eine Konferenz zur Wiener Gruppe veranstaltete, wo ich ihn erneut traf und er zu meinem Vortrag das Gedicht „i bin a bluadbankdirekta“ (1993: 104f.) vorlas. Die Laudatio zur Preisverleihung am Tag darauf hielt kein geringerer als Friedrich Achleitner, mit dem wir uns auch einige Zeit unterhielten. Ein Streitpunkt war dabei Achleitners Behauptung, dass seine Schreibung des Dialekts anders sei als die von Artmann, und dass es zur Zeit der Dialektanfänge der Wiener Gruppe diesbezüglich gegensätzliche Auffassungen gegeben habe. Mein eigener Standpunkt dazu ist immer gewesen, dass sich die neue Dialektliteratur im Allgemeinen an phonemisch-graphemischer Schreibung orientierte, obwohl es in einigem individuelle Unterschiede gab. Damit kam ich bei Achleitner nicht an, obwohl wir uns sonst klaglos verstanden. Ich bin mir noch immer nicht sicher, ich gestehe es, worin er den großen Unterschied zwischen den Schreibungen sah.
Es war mein erstes Zusammentreffen mit dem verehrten Friedrich Achleitner, während ich Artmann schon 1978 nach Veröffentlichung meines Buches über ihn und sein Werk kurz im Café Hawelka traf. Ich kam mit Hilde Spiel in dieses berühmte literarische Lokal und saß zunächst mit ihr, Peter Jungk und anderen Vertretern der Wiener Szene, als wir ihn am Nebentisch ausmachten. Hilde Spiel, die ihn sehr gut kannte, stellte mich ihm vor; und das war mein erstes persönliches Treffen mit ihm. Wie immer zeigte er sich äußerst freundlich und verbindlich, diskutierte auch ein wenig mein Buch und äußerte Zufriedenheit, nur nicht mit meiner Analyse des Gedichts „descarnatio talftlrock“ (Punkt 28), was er mir nie verzieh, da er noch 1994 darauf zurückkam.
An dieser Stelle möchte ich ein paar Worte zu meiner Dissertation über ihn festhalten. Ich schloss mein Doktorat in Urbana-Champaign an der University of Illinois ab, nachdem ich auch in Österreich einige Semester an der Universität Wien und am Pädagogischen Institut der Stadt Anglistik, Germanistik, Naturwissenschaften – besonders Geologie und Philosophie studiert hatte. In Wien wäre es damals in der Germanistik unmöglich gewesen, über einen noch lebenden Dichter zu schreiben, aber in den U.S.A. ging das ohne Probleme. Meine Doktorbetreuerin war Professor Ruth Lorbe, die selbst an der Universität Erlangen studiert hatte. Sie stand in einem persönlichen Verhältnis zu Walter Höllerer, der einige Semester in Illinois als Gastprofessor lehrte. Dazu kam, dass diese Universität neben Harvard die größte Sammlung der deutschen Literatur in den Vereinigten Staaten besaß und noch besitzt, und zwar in der Germanistik viel umfassender als etwa die Nationalbibliothek in Wien. So konnte ich alles über Artmann finden oder es wurde für mich und meine Forschung bestellt. Besonders wertvoll beurteilte ich die Tatsache, dass ich die Rezensionen aller deutschsprachigen Tageszeitungen mit internationaler Ausstrahlung lesen konnte, besonders die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die Presse (Wien), die Neue Zürcher Zeitung u.a.m., dazu auch die London Times, für die damals Michael Hamburger deutsche Literatur kommentierte und rezensierte, oder auch den Corriere della Sera, hatte doch Artmann bekanntlich durch sein Buch med ana schwoazzn dintn sofort internationale Anerkennung erlangt. Anders als in Wien, wo man noch heute nicht in die Sammlung der Nationalbibliothek Eintritt findet und seine erwünschten Bücher mit Zettelsystem bzw. über den Computer ausleihen muss, darf man in den U.S.A. schon als Student und gar als Hochschullehrer in allen Universitätsbibliotheken zu den Bücherregalen gehen. Auf diese Weise erwirbt man einen umfassenden Überblick der Primär- und Sekundärwerke eines Autors. Ich konnte alles über die Wiener Gruppe und die Moderne des 20. Jahrhunderts finden, ein wahres Forscherparadies. Allerdings fehlte mir die Tuchfühlung mit der lebendigen Szene, die ich selbst in den 1960er Jahren, als ich noch in Wien lebte, nur aus der Entfernung zur Kenntnis nahm. Allerdings kannte ich Hermann Jandl, der mein Kollege in Hietzing an der Otto-Glöckel-Schule war und der mir die Szene zum Teil beschreiben konnte. Besonders lernte ich durch ihn Friedrich Polakovics persönlich kennen, der ganz wichtig für die Bekanntmachung Artmanns wirkte und die Herausgabe seines Dialektbandes 1958 wesentlich mitgestaltete. Wenige Jahre danach (1968)22 versuchte er auch Hermann Jandl weiten Kreisen bekannt zu machen, was leider nie gelang, obwohl Hermann Jandls Texte sogar bei S. Fischer erschienen. 1965 wurde ich Hauptschulkollege von Friederike Mayröcker im 10. Wiener Gemeindebezirk, in Favoriten, wo sie Englisch lehrte. Unsere gemeinsame sehr literaturverständige Bezirksschulinspektorin Dr. Thea Meier stellte sie immer wieder für Lese- und Literaturreisen vom Unterricht frei, bis sie selbst wie ihr Lebensgefährte Ernst Jandl in den frühen Ruhestand trat. Ernst Jandl erteilte allerdings am Gymnasium Unterricht für Deutsch und Englisch. Mit den Autoren der Wiener Gruppe im engeren Sinn – Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Ossi Wiener – hatte ich damals keinen Kontakt, aber die gesamte Szene verfolgte ich als Außenstehender angeregt mit.
1969 kam ich in die U.S.A. und das folgende Jahrzehnt widmete ich intensiv der germanistischen Literaturforschung. Germanistik in den U.S.A. wird meist eng mit Komparatistik, also Vergleichender Literaturwissenschaft, gelehrt, sodass unter meinen Professoren an der University of Illinois sehr bewundernswerte, vielsprachige Fachleute arbeiteten, wie etwa der namhafte Forscher des Gotischen James Marchand,23 bei dem ich gotische, altsächsische und angelsächsische Literatur belegte, was mich auch an die Wurzeln vieler deutscher Dialekte geleitete. James Marchand spricht 15 Sprachen in Wort und Schrift. Mit ihm diskutierte ich auch Artmanns Übersetzung der mittelalterlichen Galgenlieder von François Villon. So hatte das Germanistikstudium an dieser namhaften Universität in den U.S.A. viele exotische Reize, vieles wurde auch auf Englisch gelehrt, sodass das Studium, das ich durch meine Vorstudien in Wien nur drei Jahre als Lehrassistent belegen musste, unerwartete Reize bot. Ich hatte nämlich die Absicht, Anglistik oder Erziehungswissenschaften weiterzustudieren, blieb aber wegen der anspornenden Forschung und Lehre bei der Germanistik hängen, wo ich für die deutsche Sprachlehre ein Stipendium erhalten hatte. Dieses Stipendium erhielt ich durch den Komparatisten Dr. Rudi Schier,24 der für die Universität von Illinois ein Lehrerbildungsjahr an der Pädagogischen Akademie in Baden bei Wien 1969 einrichtete. Die Geschichte ist komplexer, aber so lernten wir uns kennen. Da er mein Interesse für moderne deutsche Literatur aus Österreich zur Kenntnis nahm und auch meine Vorstudien für geeignet hielt, kam es zu meiner Einladung für dieses Stipendium, das ich sofort annahm. Der Wiener Stadtschulrat, für den ich seit 1959 als Lehrer tätig war, gab mir fünf Jahre Karenzurlaub ohne Bezüge – und so ging es auf in die Ferne. In den U.S.A. vertiefte sich die germanistische Forschung um diese Zeit sehr in Fragen der modernen deutschen Literatur. Peter Handke war in aller Munde mit seinen frühen Dramen. Ernst Jandl und Friederike Mayröcker wurden schon 1971 zu einer Lese-Rundreise eingeladen. Artmann stand im Mittelpunkt des Interesses, besonders auch, aber nicht nur wegen seiner Dialektdichtung.
Meine erste persönliche Begegnung mit Artmann und Achleitner kam erst nach meiner Buchveröffentlichung 1978 über Artmann und der Publikation etlicher Fachartikel und Rezensionen in den 1980er und 90er Jahren zustande. Die Universität Wien erkannte mein Doktorat wegen meiner vorangegangenen Studien 1985 ohne Zusatzprüfungen offiziell an. Als ich Artmann 1994 wieder traf, arbeiteten inzwischen etliche Forscher weltweit über Artmann und sein Werk; und einige Jahre danach folgte Marc-Oliver Schuster mit seiner gigantischen Doktorarbeit aus Kanada, die er englisch verfasste und die bekanntlich erweitert in Buchform in Deutschland erschienen ist (Schuster 2010; 582 Seiten!).
Artmann wollte tatsächlich meiner Einladung an die Deutsche Sommerschule in Taos Ski Valley im Sommer 1995 Folge leisten. Ich durfte ihn noch ein drittes Mal in Wien treffen und wir gingen in ein levantinisches Restaurant in der Josefstadt, nachdem ich ihn von seiner Wohnung in der Schönborngasse abgeholt hatte, wo ich auch seine Frau Rosa kennenlernte. Darüber kann ich hier ebenfalls eine kurze Aufzeichnung vom 9. Mai 1995 vorlegen:
/AUFZEICHNUNG 2, 26. MB, S. 48f:/
Die großartige Tirade zum Abschluss meines /damaligen/ Österreichaufenthalts lag im Abendessen mit H.C. Artmann in einem levantinischen Restaurant nahe der Josefstädterstraße, /das der Autor ausgewählt hatte/. Zuerst traf ich Rosa Pock – Artmann in deren gemeinsamer Wohnung in der Schönborngasse 1/10. Es erwies sich als günstig, über Reisefragen in Abwesenheit Artmanns zu sprechen, da der Gute sich zur Zeit nicht der besten Gesundheit erfreut. Er musste zum Arzt und Rosa sprach davon, mit ihm zu reisen, was sicherlich am besten wäre.
Als er endlich /vom Arzt/ zurückkam, brachen wir sogleich ins Restaurant, aber ohne Rosa auf. Wir sprachen dort über vieles, besonders über die Arbeit in Taos. Viele Werke hat Artmann geschrieben, besonders seine gesamte Lyrikausgabe wurde wieder erwähnt. Er gibt sich jedoch äußerst bescheiden. Sein Gesundheitszustand macht mir Sorgen. Ob er es wohl schaffen kann? Wenn ja, dann werden wir uns sehr um ihn bemühen.
Die historische Qualität des Zusammentreffens wog schwer. Für mich gestaltet sich die gesteigerte Bindung zu Artmann zu einem Ballungserlebnis; wie oft habe ich ihn in den letzten Monaten treffen dürfen!“
/ENDE DER AUFZEICHNUNG 2/
Artmann musste seine Reise zu uns an die Deutsche Sommerschule aus Gesundheitsgründen absagen und ich sah ihn leider nie mehr wieder. 1996 feierte sein Familien- und Freundeskreis seinen 75. Geburtstag; die Presse gratulierte ihm, wenn schon nicht lauthals, so doch bemerkbar. Danach wurde es still(er) um ihn. Er durfte zwar noch Silvester 2000 erleben und das neue Jahrtausend begrüßen, sein Schicksal neigte sich jedoch im selben Jahr im Sinne seiner Zeilen:
waun i amoe a bangl reis
zu deidsch: de bodschn schdreck
(1993: 82).
Das führt zu dem wichtigen Punkt, wie ich seine Literatur heute im Rückblick sehe und bewerte und dabei auf einige der Punkte vom Holzheimer Gespräch näher eingehe, die bis auf seine Anfänge zurückreichen. Schon der kleine Spruch im Titel – „da kaos […] – projiziert das einmalige Talent dieses Poeten in den hellsten Farben. Unter den Gedichten hätte es in die Sammlung das prahlen des urwaldes im dschungel (1994a: S. 7–25) gepasst – aphoristisch, doch ungebunden, total der Sprachgestaltung des Dichters unterworfen, mit gewissem Assoziationsbezug auf einen Inhalt, was aber gänzlich alogisch erscheint, in einem gestischen Verfahren, welches das extralinguale Element gleichberechtigt eröffnet. Wieder verweise ich auf die Auffassung Artmanns vom vorsprachlichen, extralingualen „poetischen Act“. Ich stehe zu meiner einstigen Darstellung, die ich im wesentlichen, doch weiter ausgebaut, in Klaus Reicherts vorhin zitiertem Essay (1994) aus Band X des Poetischen Werkes Artmanns wiederfinde. Von meinem Standpunkt aus regiert hier die Mythik, nicht die Logik, und damit bestätigt sich die Auffassung der griechischen Philosophie vom Gegensatz zwischen mythos und logos, eine Erkenntnis, die auch den ursächlichen Gang der Poetik aus der Rage des (antiken) Dichters andeutet, sodass das deutsche Wort „Wut“ und der Begriff „Poet“ etymologisch verwandt sind – siehe Friedrich Nietzsches Hinweis auf die Musik in Harmonie, Rhythmik und Tanz als Vorphase zur Tragödie, seine Unterscheidung von Apollinischem und Dionysischem, und aus Letzterem der einst trancebezogen gedachte Zustand des Poeten. Dieser Zustand galt auch für Martin Heidegger25 als das Wesen der „dichtenden Rede“ zur Wahrheitsfindung des poetischen Wortes gegenüber sprachlogischen Erklärungswegen, die er nach der Niederschrift von Sein und Zeit aufgab und als „Holzwege“ bezeichnete. Die gesamte Bewegung der dichterischen Moderne vom Futurismus zum Dadaismus und zu deren Neo-Formen nach dem Zweiten Weltkrieg zeugt von einem Bezug zum Neuanfang vom Grunde her, wenn auch die Ursachen dem Bewusstsein zum Strukturalismus (Marc-Oliver Schuster) und nicht gefühlsbetonten Zuständen zugeschrieben werden. Daraus erklärt sich die Zerstörung des hergebrachten Sprachguts, besonders im Deutschen, und dessen Neuaufbau, was durch den Begriff des Dekonstruktivismus in der modernen Kunst- und Literaturauffassung durch Jacques Derrida und andere Sprachphilosoph(inn)en etabliert wurde. In dem Begriff versteht sich Ab- und Aufbau in einem Prozess. Artmanns Dichtung nimmt im Sinne dieser Auffassung eine international führende Rolle ein. Er baut mit dem zerstörten, sicherlich gestörten Sprachgut des Deutschen eine neue Welt, deren Konstruktionsidee vorsprachlich instigiert wird. So kommt er dann über das extreme Experiment, das in den frühen 1970er Jahren schon überwunden ist, in eine neue Sprachwelt, die gerade bei Artmann eine Originalität hervorbringt, die an die großen Sprachschöpfer deutscher Dichtung im 20. Jahrhundert denken lässt. Waren es für Martin Heidegger noch die Werke Friedrich Hölderlins (seit dem Zeitalter Johann Wolfgang Goethes) und Rainer Maria Rilkes, so änderten sich die Ansichten über die Werke Georg Trakls und besonders Paul Celans, doch auch Ernst Jandls, Friederike Mayröckers, des erwähnten Reinhard Priessnitz und auch Thomas Klings – der stand übrigens Mayröcker in seinen letzten Jahren sehr nahe. Doch Artmanns poetisches Werk, von vielen oft als leichtherzige Spielerei abgetan, birgt eine elementare Gültigkeit aller Poetik, die tiefgründig in Schusters Monumentalwerk (2010) herausgeschält wird. Zwar betont dieser Forscher das strukturelle Gebäude der Sprache Artmanns, aber verweist wesentlich auf das Profunde dieser Dichtung.
Hier müsste nun eine buchlange Begründungsthese meiner Behauptungen erfolgen. Dazu ist dieser Beitrag nicht bestimmt. Die angeschnittenen Punkte, besonders in unserem Gespräch von Holzheim am 14. Mai 1994, wie sehr sie auch biographisch-beschreibend orientiert sind, beleuchten Artmanns Lebensbezug und die Unabhängigkeit der poetischen Sprache von Konvention und sachlogischer Augenscheinlichkeit. Er hat es sich aber auch nie leicht gemacht. So betont er seine frühen Studien (Punkt 1) und damit seine Auseinandersetzung mit historischen Formen der deutschen, doch auch fremder Sprachen (Dazisch – Punkt 4; Übersetzungen – Punkt 2; Dichtung in anderen Sprachen, z.B. Schwedisch – Punkt 3). Gleichzeitig auch sein Vergleich mit den Kollegen: Rühm war nicht in der Nationalbibliothek, Achleitner und Wiener dichten nicht mehr. „Wer dichten kann / ist Dichtersmann,“ heißt für Artmann totale Hingabe zum kreativen Schreiben, was er ein Leben lang durchgehalten hat. Er ist wirtschaftlich meist schlecht gefahren, was oft mit künstlerischer Konsequenz ineinandergreift, wie schon lange erkannt – etwa bei Goethe im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre, wo die Schicksale des Harfners und seiner Familie bis hin zu Mignon Beispiele liefern. Viele Künstler müssen wenigstens zeitweise in sogenannte Brotberufe ausweichen; das war Artmanns Weg nicht.
H.C. Artmann bildet sich stets weiter, wird zur Gallionsfigur der Wiener Gruppe, die Walter Höllerer (Punkt 5) zum Vorbild für die gesamte Generation dient. Doch betont Artmann wiederholt autobiographische Tendenzen in seinen Werken (Punkt 7, 10, 16, 22, 31); anerkennt das Werk anderer – etwa von Hans Haid (Punkt 29), besonders aber von Thomas Kling (Punkt 14); und nimmt seine verlorene Leuchtkraft gegenüber der neuen Generation(en) als Prinzip der Welten Lauf zur Kenntnis (Punkt 12). Er war aber kein Freund der Theorie, und es fiel ihm schwer, literaturtheoretische Aufsätze zu verfassen. Als er im Herbst 1994 den Friedestrompreis in Anerkennung seiner Dialektdichtung und deren Auslösung der neuen deutschen Mundartwelle empfing, musste er eine Dankesrede halten. Er erwähnte schon vorher seinen Bekannten gegenüber, so auch mir, dass diese Rede hauptsächlich von seiner Frau Rosa konzipiert und geschrieben worden war, und er überraschte das Publikum damit tatsächlich. Er konnte sich auch in Widersprüche verwickeln, etwa wenn er mich aufzuklären versuchte, dass „descarnatio talftlrock“ reine, unbeeinflusste Lautschreibung sei, sie aber dann doch der Lautung des Irischen naherückte (Punkt 28). Dass er so manchen Fehl in seinem Leben durchmachte, ist bekannt, und er erwähnt den Umstand öfter selbst als die „miesen Phasen seines Lebens“ (Punkt 10).
Er war auch dem Ulk nicht abgeneigt. So erwähnte er die „Mödlinger Gruppe“ (Punkt 18), die es selbstverständlich in dieser Form auch nie gegeben hatte. Wohl aber gab der spätere Kunstfachmann Wieland Schmied die Mödlinger Nachrichten heraus und erlaubte sich einmal den Scherz, mit keltischen Funden beim Karner der alten Kirche aufzuwarten. Das gelangte in die österreichische Presse und wurde einige Zeit breitgetreten. Dabei ,half‘ ihm Artmann, der mit seiner Faszination für Yeti und Dracula auch dem langweiligen, weil ereignislosen Ort Mödling eine Sensation zujauchzen wollte. Sie lässt an die Mythe von Loch Ness mit Nessie oder Roswell, New Mexico, mit den UFOs denken. Die alte, zum Teil romanische Kirche und ihr Karner sind mythenumwobene, daher touristisch interessante Bauwerke, denen Artmann, Schmied und Genossen eine noch tiefere, keltische Geschichtsperiode unterjubeln wollten.
Ich habe dazu noch eine weitere Bestätigung für die Richtigkeit meiner Auslegung dieser Zeitungsente, weil mich Wieland Schmied irgendwann in den 1980er Jahren in Albuquerque besuchte und mir die Geschichte vor dem Kamin schmunzelnd schilderte. Wieland Schmied leitete später jahrelang die Salzburger Sommerakademie, an der auch der österreichische Maler Georg Eisler arbeitete, durch den meine persönliche Verbindung zu Wieland Schmied zustande kam. Bei der genannten Runde vor dem Kamin kam es auch zu einigen Reminiszenzen über Artmann und die frühe Verbindung mit ihm und Rene Altmann. Ich durfte Wieland Schmied noch einmal in Berlin treffen; bei diesem Aufenthalt begegnete ich auch Gerald Bisinger (Punkt 17), der mit mir über eine Stunde plauderte und sich vor allem über Artmanns bekannte Mystifikationen (siehe „1894“) eher erheiternd als klagend äußerte.
(Punkt 8:) Professor A. Leslie Willsons literarisches Journal verdient besondere Erwähnung, u.a. auch weil es zwar von Internationes in Bonn jahrzehntelang mitfinanziert wurde, aber nur mühsam Eingang in die deutschen Bibliotheken fand. Das mochte daran liegen, dass es sich zur Hauptaufgabe machte, deutsche Gegenwartsliteratur auf der linken Buchseite mit meist vorzüglichen englischen Übersetzungen auf der rechten Seite vorzustellen. Willson, als jahrelanges Mitglied der American Translators Association (ata), traf 1967 oder 1968 Hans Werner Richter, den Präsidenten der Gruppe 47, und wurde von ihm zur Mitgliedschaft eingeladen. Allerdings wurde die Gruppe schon 1968 aus Protest gegen die traurigen Ergebnisse des Prager Frühlings aufgelöst; dennoch widmete Willson sein zuerst an der University of Texas at Austin herausgegebenes Journal dem Andenken der Gruppe. In Heft 1 erschien Peter Handkes Publikumsbeschimpfung im Original und in Willsons eigener Übersetzung Tongue Lashing. Günter Grass26 erschien als Hauptschwerpunkt sogar in Sonderausgaben, besonders mit seinen Zeichnungen und Grafiken. Unter den rund 60 Heften, die über die nächsten gut zwanzig Jahre folgen sollten, stellte Ernst Jandl als Gastherausgeber eines über österreichische Literatur vor, und mehr als einmal erschien Artmann in Dimension.
Der Germanist Josef Dannenberg erwirkte das Ehrendoktorat seiner Universität (Salzburg) für Artmann (Punkt 20). Darin liegt eine echt empfundene Anerkennung des Universalgenies Artmann, meines Erachtens eine Anerkennung dessen, was ich bisher über Artmann zu sagen hatte. Bei den Begegnungen und damit verbundenen Aussprachen mit dem Dichtersmann und churfürstlichen Sylbenstecher stach für mich sowohl der eulenspiegelhafte Schalk als auch der ernsthafte Sprachkenner hervor. Wie schon seine Freunde Konrad Bayer und Gerhard Rühm immer wieder erwähnten, hatte Artmann Tiefsinniges über Sprache, Sprachempfinden und Übersetzungswesen zu sagen, sodass ihm dieser Doktortitel vollwertig zusteht. Es lag nicht an der theoretisch-logischen Analyse von Sprache und Literatur, die ihm diese Auszeichnung brachte, sondern das in Worten ausgedrückte Empfinden über Sprache und Dichtung. So trug „Hace“ oder „H.C.“ seinen „Doctor H.C.“- wieder einmal – nicht ohne schalkhafte Würde, aber er freute sich tatsächlich über den feierlichen Akt, den er „in schwarzer Robe“ erfahren durfte.
Noch ein Wort zu Jörg Drews.27 Er verunglimpfte einst mein Buch über Artmann in der Süddeutschen Zeitung mit dem Gesamturteil „H.C. Artmann in den Klauen der Wissenschaft“. Ich nahm dies damals, ca. 1978, nicht leicht. Sehr bald danach anerkannte er jedoch meinen Aufsatz in Modern Austrian Literature über das Gedicht „wien : heldenplatz“ von Ernst Jandl. Knapp vor seinem Tode vor wenigen Jahren hatte ich zufällig Gelegenheit, ihn an der Universität Graz bei einem von Professor Dietmar Goltschnigg veranstalteten Symposium28 zu treffen und länger zu sprechen. Wir sind im gleichen Jahr geboren, und er erinnerte sich an seinen Verriss meines Buches. Zwar entschuldigte er sich nicht, das hatte ich nicht erwartet, aber er gab zu, damals „in der Jugend“ zu scharf geschossen zu haben. Bei dieser Gelegenheit betrachteten wir in Gedanken das poetische Talent Artmanns und rezitierten einige Gedichte, besonders die im Dialekt von „blauboad 1“ bis „i bin a bluadbankdirekta“. Zwischen „ringlgschbübsizza“ und „graf dracula“ neigten wir zwar zur heiteren Note29 der Artmann’schen Dichtung, versäumten aber nicht, auf die kompositorische Einzigartigkeit dieser und anderer Spielarten des Gesamtwerkes des letztlich Verehrten hinzuweisen.
Hier schließe ich mit einer Betrachtung der Dialektdichtung ab, weil sie als Startschuss für den Erfolgsweg Artmanns und seiner Generation, im Sinne des Dichters und dagegen, monumental und mit großem Effekt losknallte. Eine Auswirkung sah man in der österreichischen Tageszeitung Kurier, wo Heimito von Doderer mitarbeitete und durchsetzte, dass Artmann wiederholt Gelegenheit gegeben wurde, seine Dialektgeschichten Von der Wiener Seite vorzustellen. In dieser Lebensphase sah sich Artmann kurze Zeit dazu verführt, die Annehmlichkeiten des Volksdichters zu akzeptieren: viele gut bezahlte Aufträge, eine Wohnung der Gemeinde Wien, gefeiert werden. Seine Dichtung rief die Gründung einer nur im Dialekt verfassten Wiener Straßenbahnzeitung hervor; sie hing in den Waggons der öffentlichen Verkehrsbetriebe und hielt sich einige Jahre um 1960. Ich selbst verkürzte mir damit zwar meine Zeit auf langen Straßenbahnfahrten, wusste aber, dass diese Art des Dialektgebrauchs nicht in der Absicht Artmanns lag. Und so kam es eher bald, dass Artmann aus verschiedenen Gründen der Heimat den Rücken kehrte und in Schweden (Punkt 3) einen Hafen fand, ja sogar auf Schwedisch dichtete. Die Umstände seines Lebensganges von damals sind wiederholt beschrieben worden, ich will mich daher auf die bedeutenden literarischen Auswirkungen und ihre Entstehung kurz konzentrieren.
Der einige Male genannte Friedrich Polakovics kann nicht oft genug für seine Initialzündung anerkannt werden, die er durch seine Mithilfe bei der Publikation des Urbandes der modernen Dialektdichtung med ana schwoazzn dintn leistete. Das geschah eher außerhalb des Wirkens der gesamten Wiener Gruppe, sodass sich Gerhard Rühm in seinem Band Die Wiener Gruppe darüber beklagte: Nach der Anfangsphase als Unbekannter habe Artmann seine Getreuen vergessen und den Ruhm um die Dialektdichtung alleine genossen. Der nahm sich das zu Herzen. Schon ein Jahr später, 1959, veröffentlichte Artmann mit Rühm und Achleitner den gemeinsamen Band hosn rosn baa. 35 Jahre später fasste Artmann mit seinem Herausgeber Klaus Reichert seine Dialektdichtung erneut in einem eigenen Band (1993) zusammen und nannte auch Gerhard Rühm für dessen Beitrag zur Dialektdichtung. Obwohl er sich lange gewehrt hatte, diese Dichtung für seine Arbeit hervorzustreichen, weil er damit oberflächlich als provinzieller Dialektdichter abgetan wurde, bewies er sich und der literarischen Welt, dass ihr Wert im Rahmen seiner Gesamtdichtung kaum zu unterschätzen war.
Allerdings bleibt seine Dialektdichtung Teil der gesamten Entwicklung der modernen Sprachbehandlung, d.h. sie entstand nicht im ländlichen Bereich, weit entfernt von hochsprachlichem Umgang, nein, sie entstand in einem urbanen Umfeld, wo Hochdeutsch, der Dialekt des Wienerwaldbereichs, der Soziolekt des Arbeiterbereichs von Ottakring und sogar fremde, böhmische Akzente das Deutsch würzten. All das scheint in Artmanns Dichtung auf. Zu Hause sprachen die Eltern – der Vater Schuster, die Mutter Hausfrau – und die Spielgesellen samt dem Bruder den Soziolekt. Artmann kannte bald die Hochsprache von der Schule und von seinen Besuchen der Volkshochschulbibliothek, sodass er diglossal, ja sogar multiglossal kommunizieren konnte. Mögen viele seiner Gedichte scharf kritisch, ja sardonisch oder sarkastisch wirken, andere gewinnen seinem Soziolekt eine sympathische Note ab, besonders in den Geschichten „Von der anderen Seite“, doch auch in vielen Dialektgedichten, etwa das beliebte vom „libhazzdoe“ [„Liebhartstal“], das einen Stadtbereich in Ottakring zum Wienerwald hin besingt. Dazu gehört „sozbeag und galizzebeag“ [„Satzberg und Gallitzinberg“], die ebenfalls am Wienerwald im Westen Wiens liegen und zu den Jugenderinnerungen aus der Heimat Artmanns gehörten. Zwar sind die meisten Dialektgedichte Rollengedichte irgendwelcher Figuren aus Artmanns Erfahrungs- oder Vorstellungswelt, aber bei einigen Gedichten, wie den hier vorgestellten, lugt der Autor selbst hervor, wie er das auch in hochsprachlichen Gedichten tut. So trifft zu, was die letzte Strophe von „sozbeag und galizzebeag“ prophezeit: Artmanns Dichtung spricht zu uns, er ist nicht stumm geblieben:
sozbeag und galizzebeag
so waa ma drei briada..
und sechadn meine aung
a daun nimamea d sun –
i singad eich drozzdem
aus d wuazzln no liada
i bleiwad ned schdum!
(Artmann 1993: S. 95)
Artmanns Werk muss man wieder und wieder entdecken, dann erfüllt sich diese Prophezeiung und zeugt von der Lebendigkeit literarischer Kultur dieses österreichischen Barden europäischer Provenienz, für den allemal gegolten hat: „nua kaa schmoez ned.“ und „gemma koed is s ned!“ Die Dialektwelle, die er im gesamten deutschsprachigen Bereich und darüberhinaus ausgelöst hat, brach tsunamiartig über die literarische Landschaft herein.
Mundartlesungen bekannter Dialektautor wurden von hunderten Zuhörern besucht, die sonst nie zu hochdeutschen Lesungen gegangen wären. In jenen 1970er und 1980er Jahren besuchten mehr Zuhörer diese Lesungen als ein hochdeutscher Dichter je erwarten konnte. Artmann wurde dabei erwähnt oder auch geleugnet. Warum sollte denn die niederdeutsche Dichtung Artmann, einen Wiener, benötigen, um bekannt zu werden, hieß es. Aber Interviews30 bestätigen, dass die neue Ausrichtung von der Moderne her die althergebrachten Dialekttraditionen, die im Romantischen gelagert hatten, herumrissen und zeitgemäßen literarischen Traditionen zuführten.
Diese Betrachtung hat ihr Hauptgewicht auf die Lyrik gelegt. Prosa und Drama spielen bei Artmann keine unwesentliche Rolle, aber seine „Poetik der Rosen“ gibt seinem Haus der Sprache die Umrisse und die Haupträumlichkeiten, kurz den Charakter. Wenn auch nicht so populär geworden wie der Dialekt, bietet Artmanns gesamte Galerie der Sprachmasken – vom Barockempfundenen oder dem Irischen Zugeneigten oder dem Alogisch-Aphoristischen zum Dialektgedicht – ein erbauliches Panorama seines einmaligen poetischen Talents. So wird es für alle Zukunft bleiben, wie immer man die Dinge um Artmanns Sprachgeschehen interpretiert und wendet.
The University of New Mexico in Albuquerque
Peter Pabisch, Jänner MMXV, aus Alexandra Millner und Marc-Oliver Schuster (Hrsg.): Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes. Weiteres zu H.C. Artmann, Königshausen & Neumann, 2018
Peter Pabisch: Literaturverzeichnis
Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer
Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013
Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)
Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021
Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021
Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021
Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021
Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021
Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021
Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021
Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021
Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021
Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021
Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021
Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021
Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021
Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021
Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021
Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021
Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021
Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021
Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021
Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021
„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021
Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus
Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021
Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme
Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.
H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.
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