– Josef Hanzlík und sein Gedicht „Schwanensee“. –
JOSEF HANZLÍK1
Schwanensee
I
Wir lesen verstummte Bäume Aus den Kronen
fallen Laub und blaue Äpfel Irgendlängst
werde ich dich finden und betrachten Irgendfrüher
werde ich dich verlieren wie Scham oder übersüße Kirschen
von den Ohren der Sünde Gehe fort von hier
Alle sollten wir von hier fortgehen und fliehen
denn es fault der Seegrund und verdichtet also
und riecht übel Zu viele
Gelenke und Zurücksetzungen Zu viele
Leimungen und Vergleiche Zu viele
Zwölffingerdärme und Sturmglocken
in der zwölften Stunde Schließlich und endlich
schmeckt Friedhofskohl wie jeder andere
Dann leidliches Staunen Wenn sich überhaupt
staunen läßt über das Fleischerhafte des Fleischerhundes
Wir hätten mehr hoffen sollen Oder
wir hätten mehr nichtgeboren werden sollen All dies höre ich
über dem wölfisch hungrigen Zipfel der Stadt Gestern noch
hätte ich ein Gespräch über Geigen abgelehnt Nun aber
begreife oder erahne ich jenen Haß
der den Mann kundig des Spiels von der Begebenheit
Haus um Haus und dann noch um ein Haus weiterführt
und ihn erzählen und allzu lebendig bewegen läßt
die Puppen der Verstorbenen Es gibt keinen Achill hier
ohne Kopf und Ferse Und es gibt keine Guillotine
ohne Homer und Spinnrad
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaDer See fault
Totes Fleisch von Schwänen
drängt zu den Türpfosten Nach dem Tod noch
wollen sie gehört werden
und gerufen mit Namen Welche Torheit
wenn Mäuse das Prä haben Auch mit
eitler Niedergeschlagenheit öffnen wir nicht mehr
das niemals versperrte Schloß Kalt ist es
und feucht Die unteren Wirbel
beruhigen die Locke sie verging mit der Zeit
und dem Kiefer der eingeklemmt sie hält
Schlafen
ist wie sterben Nicht schlafen
ist wie bei lebendigem Leibe sterben Peinlich
ist nur das Warten und Schlucken von Fröschen
und blauem Wasser Wie viele Verse werden wir
hier noch herauspicken und in Granit meißeln Das Wasser
wird immer salziger und immer leerer
Kein Tag
da keine Pferde ertrinken
samt dem Kutscher und der Ladung stiller Post Kein Leid
das nicht verglühte wie jedwedes Lachen jedwedes anderen
samt den Klauen des Persianerlamms Dieses Sees
Grund ist voll keimender Schlüsselbeine doch alle
wachsen mit den Ästen nach unten Töricht
lacht das Seegras übers bauschige Gefieder
über Schnäbel und Krallen des Schwans
verbissen und verfangen in den Wellen
die unser wahreres Antlitz blankwaschen Es ist die Nacht
und in der Nacht brennt auch der Wintervögel Fleisch
wie Eis
II
Das Licht legt sich schlafen Schwer fällt der Nebel
wie von einer Turmstiege Es geht um eine Begebenheit
für ein Spielwerk Vorerst noch
knirscht sie in unserer Uhr wie Weihnachtssand
aus den Innereien des Fisches
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaErinnerung ans Gartenfest
in der Heilanstalt für Geisteskranke Männer
in unansehnlichen Schuhen Frauen in Blusen
mit künstlichen Blumen Es war Nachmittag
mit einer Sonne voll armseliger Freude Dann
fuhr ich über den kleinen See mit einem Mädchen
in schwarzem Kleid Sie flüsterte
– Rudere ins Gebüsch ich werde dir aus der Hand lesen
Und noch
– Helft mir ich habe Angst
ich könnte mir weh tun wenn ich aus dem Fenster springe
Ich wendete und sie weinte
als treibe Wind den Regen
in die Vogeläpfel
aaaaaaaaaaaaaaaNur im Traum
verbindet so sich Schwarz mit Rot Wir Wachsamen
begreifen nichts und schreiben eitel
dienernd in wunderlich fremder Sprache In Wirklichkeit
überlebt uns nichts Die ganze Eile
mit der wir unsere Botschaften in Lesebücher fügen
und in die Tanzordnungen der Geschichte dies ganze Theater
das wir für uns spielen und auf unsere Kosten
ist nur ein Halm
geworfen zwischen Himmel und Erde Wir fallen mit ihm
und fallen
in den See der gerät in Bewegung
schwemmt hoch die Knochen
und das Gefieder der Schwäne
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIrgendeinst
lief ich mit einem Mädchen ihr Haar heller
als Arnikaduft Am Waldrand
saß in Blumen eine besessen weinende Gestalt
wir erkannten nicht ob Frau
oder Mann Andeutungen und Ähnlichkeiten
folgen aufmerksam unseren Spuren
Kreuzespein
gefällter Bäume Und die Trauer zahm und kindlich
wie eine Kolombine Zeiten
da geplatzte Johannisbeeraugen
untergehend schwimmen in grünem Blut lehmigem Schweiß
und angesäuerter Milch des Grases Unmittelbar darauf
geringes Leid und darum sengender
als große Betrübnis würdig zum Erbarmen
Der See schluckt gleichgültig Schwüre
Brillenränder Zahnfleisch Haar
Wasserflöhe
schwimmen an Kalmusschäften vorbei Von den Ufern
schießen Kinder in die Hälse der Schwäne
lachend
als ginge es um Schädlinge
wie ungemein schwer es mir fällt, etwas über meine Arbeit „mit anderen Worten“ zu sagen als durch die Arbeit selbst, durch den Vers. Andererseits ist mir klar, wie überaus langweilig gerade solche Einleitungserklärungen sind – und so bringe ich nur kurz zum Ausdruck: Ich bin kein literaturtheoretischer Typ, nehmen Sie darum bitte alles Nachfolgende entsprechend.
Nach Lyrikabenden wird man oft gefragt: Wie sind Sie zum Verseschreiben gekommen? Die Antwort darauf ist, jedenfalls für die meisten Autoren, einfach. Verse beginnt man gewöhnlich in der Kindheit oder frühen Jugend zu schreiben – hauptsächlicher Beweggrund: die Nachahmung. Als ich fünfzehn war – ich hatte Gedichte bis dahin nur in Lesebüchern gelesen, mit Unlust, versteht sich – nötigte mir der Tschechischlehrer ein paar Lyrikbände auf, und kurz danach entdeckte ich in der Schulbibliothek Goethe. Ich las damals den Faust und den Großteil von Goethes kleinen Gedichten. Das war in Karlsbad, später in Marienbad, beide Städte sind mit Goethe eng verbunden, haben selbst viel Poetisches, und so war es nur natürlich, daß ich, der Schüler, Verse zu schreiben versuchte.
Der bessere Teil meines ersten Gedichtbändchens läßt sich durch einen kurzen Satz charakterisieren: Der Krieg mit den Augen des Kindes. Ich gehöre bei uns zur letzten Generation, die sich auf Grund mehr oder weniger eigener Erlebnisse mit dem Krieg auseinandersetzte. In meinem Erstling tue ich es u.a. in dem Gedicht über ein authentisches Begebnis: ein sechsjähriges Mädchen, eine Jüdin, wurde mit einem Lkw abgeholt, sie wohnte im Haus gegenüber (ich beobachtete das Ganze durch den Vorhang). Das war für mich damals noch keine typische Situation. Ich nahm die Schrecken des Krieges nicht wahr, wuchs in einer harmonisch lebenden Kleinstadt-Familie auf, fühlte mich bestimmt glücklich – und achtete auf Uniformen nur dann, wenn mir tschechische Gendarmen die Gummischleuder abnahmen, oder wenn uns deutsche Wehrmachts-Soldaten beim Karussell die Papierrosen gaben; die sie geschossen hatten. Es waren ältere Jahrgänge, durchwegs Familienväter, der Krieg ging zu Ende, und sie hatten die Nase voll. Natürlich, bei Bombenangriffen lief ich in den Keller und hatte Angst. Von den wirklichen Kriegstragödien aber erfuhr ich erst, als ich mich mit den Kindern jener anfreundete, die in Lagern oder Gefängnissen gewesen, hingerichtet worden oder bei Bombenangriffen umgekommen waren.
Meinem Erstling ließ ich eine ganze Zahl weiterer Bändchen folgen. Die Kritik warf mir mehrfach vor, ich reihte auch überflüssige Gedichte in meine Sammlungen ein. Doch meiner Ansicht nach liest der Leser nicht Sammlungen, sondern einzelne Gedichte. Die Auswahl sollte ihm vorbehalten bleiben. Auch die Anordnung innerhalb der einzelnen Abteilungen ist gewöhnlich eine sekundäre, nachträgliche Sache. Lange Zeit sahen es die tschechischen Kritiker gern, wenn Lyriksammlungen eine „Einleitung“, einen „Inhalt“ und einen „Schluß“ aufwiesen wie Schulaufsätze. Der „Schluß“ war in der Regel optimistisch. Ich kann nicht einsehen, warum ausgerechnet Sammlungen von Versen homogen sein sollen, wenn das Leben des Autors nicht homogener ist als das Leben seiner Nächsten. Botschaft und äußerer Ausdruck des Autors wechseln notwendigerweise mit der Abfolge seiner Freuden, Haßgefühle und Ängste.
Meiner heutigen Einstellung zur Poesie habe ich in dem Gedicht „Schwanensee“ Gestalt zu geben versucht. Aufgabe und Sinn der Poesie in der heutigen Welt betrachte ich sehr skeptisch. Ich glaube nicht an die wunderbare Heilkraft des Poetischen. Messianistische Stilisierung, mag sie sich auch noch so demütig geben, kommt mir tragikomisch vor. Der Versuch, durch Poesie etwas Wichtiges in der Welt beeinflussen zu wollen – sei es ein internationales Ereignis, sei es die Moral der jungen Generation –, halte ich für vergeblich und darum für überflüssig. Natürlich möchte ich nichts aus dem großen Kontext reißen. Auch die Poesie ist ein Körnchen im Stundenglas – und bestimmt insofern die Zeit mit. Leider ist dieses Körnchen recht klein. Leider bleibt auch der nachdrücklichsten und revolutionärsten Geste die Wirkung versagt. Die Dadaisten, die den Bürger provozieren und beleidigen wollten, wurden zur beliebten Lektüre eben dieses Bürgers. Analoges ließe sich von allen literarischen Provokationen und „Schocks“ sagen. Der Dichter, der mit seinen Verszeilen gegen den ungerechten Krieg protestiert, den sein Land führt, unterstützt nolens volens mit seinen Steuern – u.a. aus dein Protestgedicht – die kriegerische Regierung. Dort, wo wirkliche und in ihren Konsequenzen schreckliche Unterdrückung besteht – wie beispielsweise im hitlerischen Deutschland –, wird die Proteststimme des Dichters bald zum Schweigen gebracht. Sie erklingt erst im Nachhinein. Allerdings, der Dichter kann Zeuge sein. Doch über die konkreten historischen Grausamkeiten der modernen Zeit legen der Dokumentarfilm, die Fotoreportage und die Tagebücher der Opfer weit nachhaltiger Zeugenschaft ab. Und auf die Gefühlserziehung der Jugend wirken, dank der zeitgenössischen Kommunikationsmittel, Schlager-Bestseller, kitschige Liebes- und Kriminalromane und Film und Fernsehen unvergleichlich stärker. (Was übrigens kein Spezifikum unserer Jahre ist, und ich bin mir nicht sicher, daß hier unbedingt Wandel geschaffen werden müßte.)
Nichtsdestoweniger ist die poetische Praxis ausgemessen und abgesteckt wie ein solides Gewerbe. Ich kann mich eines peinlichen Gefühls nicht erwehren, wenn ich alle die solide verdienenden Väter solider Familien sehe, wie sie, die ordentlichen und gut ernährten, im Vers ihr Herz zerfleddern, den Kopf an die Wand schlagen, anrufen, drohen, lieben, hassen. Und nicht viel anders ergeht es mir, wenn ich sie als Caféhaus-Politiker sehe, um den soundsovielten politischen Aufruf zu unterschreiben. Unsere Welt wird überschwemmt von Hunderten und Tausenden enfants terribles „im Rahmen der Gesetze“. Der poète maudit von heute verrät sich mit der Erwiderung:
Seien Sie mir nicht böse, nur ein kleines Gläschen, ich hab draußen den Wagen stehen.
Für die jüngere Autorengeneration ist die Produktion von Versen oft nur eine Art höherer Unterhaltung; junge Mädchen ersetzen damit das anmutige Spiel auf dem Spinett. Heute wird allein in Prag die dichtende Jugend auf mehrere Tausend geschätzt. Doch darin braucht man nichts Apokalyptisches zu erblicken. Schlimmer ist schon, daß ein beträchtlicher Teil dieser Verse-Produktion publiziert wird, was gleichfalls keinen Weltuntergang herbeiführen kann, höchstens steigende Langeweile und eine weitere Verflüchtigung der Werte.
Der Leser wird mit lauen Liebesergüssen, saurer Moral und Paraphrasierungen politischer Lehrbuchweisheiten oder journalistischer Fakten gleichermaßen überschwemmt. Und die sich entdeckerisch gebärdenden Spiele mit Buchstaben- und Zahlenstrukturen sind sehr weit von den unterhaltsamen Spielereien der Vorgänger und Väter derartiger Einfälle entfernt. Das hervorstechendste Merkmal eines Großteils dessen, was man heutzutage dem Konsumenten als Lyrik offeriert, ist gähnende Langeweile. Der Niedergang, wie er sich aus der Resignation der wirklichen Schöpfertat gegenüber ergibt, wird durch die redselige Hysterie der amerikanischen Beatniks ebenso markiert wie durch die journalistische Verseschmiederei einiger junger Russen.
Ob als literarische Gattung oder als künstlerische und menschliche Bestimmung, die Lyrik fault und modert. Versuche, den Verfallsprozeß durch radikale Form-Revolutionen aufzuhalten, haben sich als wenig wirksam erwiesen. Wenn eine so fundierte revolutionierende Bewegung wie der Surrealismus heute nur mehr ein literaturhistorisches Kapitel ist, dann sind die derzeitigen, weniger erfinderischen Versuche zu weit rascherem Untergang verurteilt. Das Prestige der Poesie ist ganz, ihr Sinn fast ganz verlorengegangen. Im mittelalterlichen England wurden die Schöpfer und Interpreten der schottischen Ballade an den Königshöfen eine Zeitlang willkommen geheißen und reich belohnt, wenig später aber wie gemeine Landstreicher verfolgt. Ohne Zweifel, die Gesellschaft hat sich oft in der Beurteilung ihrer Dichter geirrt. Für die heutige Zeit jedoch scheint mir typischer, daß sich die Dichter in der Beurteilung der Gesellschaft irren, daß sie deren Bedürfnisse nicht verstehen. Sie irren sich, oder sie machen sich und den Leuten etwas vor. Unsere Welt fährt in Bahnen harter Notwendigkeiten und notwendiger Zufälle. Der Dichter bestimmt ihren Lauf nicht, er läuft nur mit. Stilisiert er sich zum Mitbeweger, übt er nur dilettantisch ein anderes Handwerk aus. Bemüht er sich, die ihm zugedachte Rolle ordentlich zu spielen, ist er zwar ein ehrbarer, aber nicht minder überflüssiger und bedeutungsloser Ausleger, Zerbrösler und Kibitz bei einem Roulett, in dem er wegen Geldmangels nicht mitspielen kann. Wenn Claude Tillier einst schrieb: „In der Kunst ist, was die Vergänglichkeit anbelangt, ein einziges mit dem Küchenerzeugnis vergleichbar: das journalistische Erzeugnis“, so war das nur möglich, weil er die Lyrikseiten in den heutigen literarischen Zeitschriften nicht kannte.
Nach diesen Ausführungen muß ich wohl erklären, warum ich selber Gedichte schreibe. Vielleicht aus einer gewissen Beharrlichkeit heraus. Wahrscheinlich hegt jeder Lyriker die geheime Hoffnung, gerade in seinem Tornister werde sich der berühmte Marschallstab finden. Vor allem aber trägt der junge Lyriker Muster und leuchtende Beispiele in sich. Und auf seinem Bücherbord steht ein lächelnder Dylan Thomas oder ein düsterer Boris Pasternak. Er liest Verse, die nicht langweilig sind, die einen Sinn haben, die des Lesers Bewunderung und Liebe gewannen, die zur wirklichen Literatur und nicht nur zu ihrem unerläßlichen Hintergrund gehören. Er liest sie und sehnt sich danach, ebenfalls zu einem Sinn, einer Rechtfertigung und Begründung seines Lebens und seiner Arbeit zu gelangen. Die Frage ist nur, ob er genügend glückliches Talent, genügend Ausdauer, genügend Mut zum Risiko und zur Niederlage hat.
Lassen sich die Entwicklungstendenzen der Lyrik vorausschauen? Kategorisch verkündete Programme pflegen Eintagsfliegen zu sein. Umwälzende Erscheinungen kündigen sich in der Poesie nicht durch Trompeten an. Da wir schon einmal bei den Programmen sind –: Mir scheint das Konstatieren des Negativen als in der Nähe liegend, obgleich auch das eine überflüssige Belastung der eigenen lyrischen Arbeit darstellt. Im übrigen wählt der Leser seine Autoren selbst, und in seinem Bücherregal vertragen sich Jehan Rictus und Paul Valery, Morgenstern und Rilke, Puschkin und Majakowskij recht gut. Wird heute viel über die Notwendigkeit geschrieben, die Gegenwartslyrik bzw. die Literatur und die Kunst überhaupt mit den Fakten des technischen Zeitalters in Einklang zu bringen, erachte ich das als ein Mißverständnis. Ich wüßte nicht, weshalb dem Kernphysiker oder Piloten einer Geminikapsel die formalen Methoden, sagen wir, des „nouveau roman“ mehr entgegen kommen sollten als diejenigen von Rabelais’ Garganrua und Pantagruel, Swifts Gulliver oder Gontscharows Oblomow. Was den heutigen Durchschnittsbewohner unseres Planeten betrifft, so weiß er über die umwälzenden wissenschaftlichen Entdeckungen nicht viel mehr als die vorhergehende Generation von den ihren – und das, was er weiß, führt ihn eher zur Wiederentdeckung des Jugendstils und zur Vorliebe für Antiquitäten. Der Abgrund zwischen den sogenannten Spitzenwissenschaften und dem naturwissenschaftlich-technischen Allgemeinwissen vergrößert sich zusehends, so daß unsere Nachkommen im polytechnischen Sinn noch weniger gebildet sein werden als wir. Ganz abgesehen davon, daß einer, der täglich die Prager Straßenbahnen, Aufzüge, Telephone usw. benutzen muß, zur Zeit einfach keine Angst vor der Übertechnisierung haben kann.
Nun, ich will die Problematik des literarisch-adäquaten Ausdrucks der modernen Wirklichkeit nicht bagatellisieren. Ich vermute nur, daß Fortschritt-und Entwicklung in der Literatur nicht ausgelegt werden können wie die gesellschaftliche und die wissenschaftliche Entwicklung. Genres, Stile, Formen der Literatur altern nicht, überleben sich nicht. Keinesfalls kann man die Angemessenheit des Ausdrucks deskriptiv begreifen. Von den Büchern über den Ersten Weltkrieg zum Beispiel habe ich zwei am liebsten: Jaroslav Hašeks Abenteuer des braven Soldaten Schwejk und Karl Kraus’ Letzte Tage der Menschheit. Hasek arbeitet überwiegend mit eigentümlichem Volkshumor, Kraus mit einer Kombination aus Groteske und Sarkasmus, Halbreportage und erschütternden dichterischen Visionen. Trotz ihrer Unterschiede haben die beiden Bücher eines deutlich gemeinsam: sie verherrlichen kein Heldentum und geizen nicht mit Ironie. Und gerade dadurch heben sie sich vorteilhaft von den Dutzenden guter und schlechter Bücher gleichen Themas ab, die durch ihre Ausdruckslage jenen Krieg scheinbar adäquater wiedergeben.
Zum Schluß noch eine kleine Reminiszenz. Unlängst nahm ich in einer anderen europäischen Stadt an einem internationalen Lyrikfestival teil. Die Veranstalter sorgten – mit Hilfe von Kopfhörern wie bei der UNO – für eine tadellos funktionierende Simultanübersetzung in drei Sprachen. Das Niveau der Diskussionsbeiträge konnten sie leider nicht beeinflussen. Am Mikrophon wechselten weniger bekannte mit höchst bekannten Namen ab. Und man konnte staunen, welch absonderliche, langweilige und graue Welt die Dichter erzeugen, wenn sie sich selbst überlassen sind. Woran natürlich nicht einmal sie selber Spaß hatten, von Tag zu Tag kamen ihrer weniger in den Saal, und die Schlußansprache hörten vielleicht noch ein Dutzend Teilnehmer an.
Diese Kleinigkeit führe ich zur Entschuldigung für diese meine eigene Rede an. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Josef Hanzlík, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
er habe mit seinem ersten Gedichtband Die Lampe für die jüngere Generation in der Tschechoslowakei grünes Licht gegeben. Hanzlík ist 1938 geboren (fünfzehn Jahre Abstand also von Holub, Geburtsjahrgang 1923). Diese jüngere Generation, in vielem skeptischer noch als die mittlere, jedenfalls noch programmabgeneigter, sieht die Rolle der Lyrik illusionslos. An einigen Stellen berührt sich Hanzlíks Essay mit den Fragezeichen, die Günter Grass in seinem Räsonnement gesetzt hat.
Er stellt seine Fragen ohne Beschwichtigung. „Ohne Zweifel“, so Hanzlík, „die Gesellschaft hat sich oft in der Beurteilung ihrer Dichter geirrt. Für die heutige Zeit jedoch erscheint mir typischer, daß sich die Dichter in der Beurteilung der Gesellschaft irren…“ Er wendet sich gegen kategorisch verkündete Programme.
Umwälzende Formulierungen kündigen sich in der Poesie nicht durch Heroldstrompeten an, mir scheint die Auslotung des Negativen natürlicher.
Wenn Hanzlík eine einfache Parallelisierung von Stilfragen mit Ergebnissen der Zivilisationsanalyse verneint, wenn er also eine größere Evidenz des Roman-nouveau-Stils für die gegenwärtige Lage im Vergleich zum Stil von Gargantua und Pantagruel für ganz und gar nicht unterschrieben hält, – so kann er dafür manche gescheite Beobachtung ins Feld führen. Seine oft wie Jugendstilzitate verwendeten Bilder, Mischung von alt und neu, gehen diesen Stilfragen nach. Er gehört in der ČSSR, wie er selbst sagt, zur letzten Generation, die sich auf Grund mehr oder weniger eigener Erlebnisse mit dem Krieg auseinandersetzte. „Zwischen dem Inferno des Zweiten Weltkriegs“, so sein Übersetzer Franz Peter Künzel, „und der ,apokalyptischen Stimme‘ atomarer Drohung praktiziert er seine persönlich aufgefaßte Verteidigung der Lebensrechte, individuelles Streben nach größeren Räumen für den Menschen, für dessen Gefühlsleben. Was er als seinen Beitrag zu den Ordnungen der Geschichte ansehen mag. Hoffentlich bringen ihn Übersensibilität, Verletzlichkeit und die Last der notwendig zu vermehrenden Mittel nicht zum Straucheln.“ – Mit den jungen Amerikanern, mit Jewtuschenko und Wosnessenskij hat sich Hanzlík als Übersetzer beschäftigt, – sieben Lyrikbände und drei Kinderbücher sind sein Œuvre.
Walter Höllerer, aus Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1969
Schreibe einen Kommentar