– Zu Peter Huchels Gedicht „Chausseen“ aus Peter Huchel: Gesammelte Werke. Zwei Bände. –
PETER HUCHEL
Chausseen
Erwürgte Abendröte
Stürzender Zeit!
Chausseen, Chausseen.
Kreuzwege der Flucht.
Wagenspuren über den Acker,
Der mit den Augen
Erschlagener Pferde
Den brennenden Himmel sah.
Nächte mit Lungen voll Rauch,
Mit hartem Atem der Fliehenden,
Wenn Schüsse
Auf die Dämmerung schlugen.
Aus zerbrochenem Tor
Trat lautlos Asche und Wind,
Ein Feuer,
Das mürrisch das Dunkel kaute.
Tote,
Über die Gleise geschleudert,
Den erstickten Schrei
Wie einen Stein am Gaumen.
Ein schwarzes
Summendes Tuch aus Fliegen
Schloß ihre Wunden.
Dieses Gedicht hat seine eigene Geschichte und durch die nachfolgenden politischen Ereignisse in aller Welt an Suggestion und Bedeutung gewonnen. Als Teil eines sehr viel größeren Ganzen mit der Überschrift „Das Gesetz“ sind die Strophen bereits 1950 in Peter Huchels Zeitschrift Sinn und Form erschienen. Es handelte sich dabei um eine poetisch-mythische, anerkennende Reaktion auf die Bodenreform in der jungen DDR, zu deren bedeutendsten Autoren der damals siebenundvierzig Jahre alte Lyriker zählte. Huchels Würdigung dieser Reform ließ allerdings keinen parteipolitischen Zungenschlag hören.
Zehn Jahre später wurden die Zeilen, um eine abschließende zweizeilige Strophe länger („Während in heller Sonne / Das Dröhnen des Todes weiterzog.“), unter dem Titel „Chausseen, Chausseen“ im Jahrbuch der Freien Akademie der Künste in Hamburg veröffentlicht, als dankbare Antwort auf eine Auszeichnung durch diese Akademie. Huchels Erwartungen, was den ursprünglichen Rahmen seiner lyrischen Erinnerungsarbeit anging, waren inzwischen längst enttäuscht. 1962 wurde er gezwungen, die Leitung seiner Zeitschrift aufzugeben. Er gehörte damit bis zu seiner Ausreise im April 1971 zu den isolierten und überwachten Opfern des Systems.
Im Titel des Bandes aus dem Jahre 1963, der beim S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main herauskam und in dem die Strophen schließlich in dieser Form stehen, ist die Überschrift des Gedichtes ebenfalls verdoppelt, so daß er mir stets wie ein Refrain in den Ohren klang, wenn ich beispielsweise durch Franken fuhr. Aber auch in Westfalen, Holstein und in der Mark Brandenburg, Peter Huchels ureigenster Heimat, oder überall dort, wo es noch jene unendlichen Landstraßen gibt, die sich bis zum Horizont durch Wiesen und Felder hinziehen, vielleicht gesäumt von Apfelbäumen oder Birken, wird diese Melodie „Chausseen, Chausseen“ laut: Friedlich klingt sie für gewöhnlich, eintönig und nach Natur. Aber sie kann auch Unruhe bedeuten, Weg ohne Ziel, ein Grau, bei dem man nicht an ein umgebendes Grün denkt, vielmehr an eine Möglichkeit zu entkommen.
Als Motto für den Band hatte Huchel ein Wort von Augustinus gewählt:
… im großen Hof meines Gedächtnisses. Daselbst sind mir Himmel, Erde und Meer gegenwärtig…
In den Strophen des Gedichts „Chausseen“ greift er auf den Fundus seines Gedächtnisses zurück, beschwört Bilder, die der Entstehung wenige Jahre vorausliegen. Er bringt die Trecks (die übrigens das übernächste Gedicht ausdrücklich benennt) und die Flucht am Ende des Zweiten Weltkrieges auf den Straßen, Wegen und Feldern zur eindringlichsten Anschauung, hält einen Nachruf auf eine untergegangene Welt und auf Tausende von Toten. Wir sehen in dieser lyrischen Totenfeier die Brandschatzungen vor uns, die Kadaver der Pferde, die Zerstörung von Gutshöfen und Dörfern, den Strom von Flüchtlingen, die ihr Leben und den Rest ihrer Habe zu retten trachten, und wir sehen die Leichen auf den Bahngleisen, übersät von Schmeißfliegen. Die natürlichen Fluchtwege, die Straßen durch geschändete, entmenschlichte Landschaften münden in den Tod. Das dunkle Leichentuch zwischen Nachthimmel und stummer Erde ist das Pflaster auf Wunden, die in unserer Erinnerung gar nicht verheilen dürfen.
Wenige Jahre vor seinem Tod am 30. April 1981 in Staufen im Breisgau, wo er seit 1972 lebte, ist mir Peter Huchel bei einem Düsseldorfer Literaturgespräch begegnet. Er wirkte wie ein erratischer, ehrwürdiger Künder von Botschaften und Bildern, nicht als Redner unter übrigen Teilnehmern. Er, der die Wegmetapher auf so eigentümliche Weise verwendet hatte, war nicht mehr imstande, ohne fremde Hilfe über den Fußgängerübergang einer verkehrsreichen Großstadtstraße zu gehen. Er klammerte sich voller Angst an meinen Arm, und ich mußte ihn führen und weiß seitdem, daß ein Mensch verloren ist in der Welt, wenn ihm alle Dinge wirklich das bedeuten, was sie sind.
Joseph Anton Kruse, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfzehnter Band, Insel Verlag, 1992
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