– Zu Bertolt Brechts Gedicht „An den Schwankenden“ aus Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band IV: Gedichte. –
BERTOLT BRECHT
An den Schwankenden
Du sagst:
Es steht schlecht um unsere Sache.
Die Finsternis nimmt zu. Die Kräfte nehmen ab.
Jetzt, nachdem wir so viele Jahre gearbeitet haben
Sind wir in schwierigerer Lage als am Anfang.
Der Feind aber steht stärker da denn jemals.
Seine Kräfte scheinen gewachsen. Er hat ein unbesiegliches Aussehen
aaaaaangenommen.
Wir haben Fehler gemacht, es ist nicht zu leugnen. Unsere Zahl schwindet hin.
Unsere Parolen sind in Unordnung. Einen Teil unserer Wörter
Hat der Feind verdreht bis zur Unkenntlichkeit.
Was ist jetzt falsch von dem, was wir gesagt haben
Einiges oder alles?
Auf wen rechnen wir noch? Sind wir übriggebliebene, herausgeschleudert
Aus dem lebendigen Fluß? Werden wir zurückbleiben
Keinen mehr verstehend und von keinem verstanden?
Müssen wir Glück haben?
So fragst du. Erwarte
Keine andere Antwort als die deine!
Als ich selber aufhörte, Gedichte zu schreiben (so um die 21 herum), habe ich von Gedichten nicht mehr viel gehalten. Ein solches Abrücken von der Welt der Rhythmen und Reime schien mir damals eine „gereiftere“ Haltung zu verbürgen. War nicht angesichts der Dringlichkeit bestimmter politischer und gesellschaftlicher Probleme ein in Verse gebrachtes „holdes Ungefähr“ von vornherein etwas höchst unwichtiges, ja geradezu Sentimentales? Doch schon kurze Zeit später erkannte ich, daß diese Aversion gegen Gereimtes nur daher rührte, weil man mich auf der Schule und Universität vornehmlich mit ominöser Lyrik, aber nicht mit wirklichen Gedichten trätiert hatte. Und diesen neuen Maßstab setzten – wie für manche meiner Freunde – um 1955 die Hundert Gedichte Brechts.
Diese Gedichte – spruchhafte balladeske, parabelhafte – enthielten Verse, die man ernst nehmen konnte, die zur Sache sprachen. (Daß sie auch andere Reize – sinnliche, ästhetische, metaphorische – aufwiesen, sollte ich erst später entdecken.) Es waren daher nicht die frühen Gedichte Brechts, die mich zuerst anzogen, sondern eher die mittleren und späten, die mit den „kärglich reinen Worten“, den „sorgsam gewählten Gesten“ und den „reimlosen, unregelmäßigen Rhythmen“ – also Gedichte, die in meiner Jugend gar nicht als „Gedichte“ gegolten hätten. Sie forderten nicht einfach zum Einfühlen, zum emotionalen Mitschwimmen oder zumindest Angemutetsein auf (wie ich damals dachte); sie mußte man sehr sorgfältig – fast buchstabierend – lesen.
Eins dieser Gedichte, das mich zu jener Zeit (und auch später noch) besonders beeindruckte, war das Exil-Gedicht „An den Schwankenden“ aus der Mitte der dreißiger Jahre. Damals (gegen Ende der Fünfziger) las ich dieses Gedicht selbstverständlich noch historisch, das heißt nicht auf meine Erfahrung bezogen, sondern als etwas im guten Sinne Objektiviertes, aus der Zeit der Nazi-Barbarei Stammendes. Damals sah ich darin ein moralisch motiviertes Memento, nämlich auch in Zeiten des allgemeinen Rückgangs bei der „dritten Sache“ auszuharren und sich nicht einfach vom dreckig-braunen „Fluß der Dinge“ mitreißen zu lassen. Damals hatte also das Ganze für mich noch den Charakter des Vorbildlichen, wenn auch höchst Abstrakt-Vorbildlichen. Damals erschien mir dieses Gedicht wie eine Hommage an jenen großen Einzelnen, jenen Lehrer, Dichter oder gar Sehenden, der selbst in Zeiten der „Großen Unordnung“ stets die richtige, von seinem eigenen untrüglichen Gewissen diktierte Antwort weiß.
Heute dagegen – im Lichte unserer/meiner Erfahrungen der letzten fünfzehn Jahre – liest sich dieses Gedicht natürlich anders. Heute verstehe ich die Schlußzeilen „Erwarte / Keine andere Antwort als die deine!“ plötzlich genau umgekehrt. Heute nämlich frage ich mich immer weniger, was denn „meine“ Antwort auf bestimmte politische Fragen, sondern was die „richtige“, weil kollektive Antwort auf solche Fragen wäre. Heute sagt mir die Erfahrung, daß es nur Fragen wie die nach dem „Glück“ oder dem „lebendigen Fluß“ einer Bewegung, also falsch gestellte Fragen sind, die sich noch subjektiv (oder religiös) beantworten lassen. Heute weiß ich, daß es in Zeiten der allgemeinen Orientierungslosigkeit vor allem, wenn nicht ausschließlich auf jene Antworten ankommt, die bis zu den Grundwidersprüchen unseres Zeitalters herabreichen. Heute glaube ich, Brecht besser verstanden zu haben.
Jost Hermand, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
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