Also nach drei vier Jahrhunderten in diesem
Gässchen sieh da ein Neo-Poet und
erstarrt geplagt von dem berühmten Dichter
des Stadions und des Turnplatzes und des gelben
Gebäudes wo bleich und erhaben seine Figur
lang schon steht unter vagen anderen
auf seine Beute lauernd. Malherbe ist tot seit
langen Jahren und die Poesie der
Rosen aber es bleibt sein schlichtes Haus
verhüllt wie er von der Verachtung der Steine.
Möge da unten die Orne sich spiegeln
in Schatten ihren Nebel reflektierend dessen
Schleier sie umhüllt hingerissen bis zu der Zeit
hat er gesagt da sie wiedersehen
diesen reinen Safran den der Tag herbeischafft
übers Meer.
(Für Malherbe mehr als Mensch)
Jude Stéfan – (ein Pseudonym nach dem Roman Jude the Obscure von Thomas Hardy) – wurde 1930 in Pont-Audemer (Eure) geboren. Er starb 2020 in Saint-Désir (Calvados). Er lebte in Orbec (Calvados). Nach Studien der Rechte, der Philosophie und Literatur unterrichtete er lange Jahre Französisch, Latein und Griechisch in einem Gymnasium in Bernay.
Er veröffentlichte bis 2012 mehr als 20 Gedichtbände, darunter „Cyprés“ (1967), „Idylles“ suivi de „Cippes“ (1973), „Aux chiens de soir“ (1979), „Suites Slaves“ (1983), „À la vieille Parque“ précedé de „Libères“ (1993), „Élegiades“ (1993, „Stances; ou 52 contre-haiku“ (1991), die zumeist im Verlag Gallimard/Paris erschienen sind. Er schrieb auch Erzählungen, Kurzprosa und Essays.
Im Katalog zu einer Ausstellung über den Dichter Jude Stéfan in Bernay schrieb er über sich selbst:
Er redet nicht gern von sich selbst, von seinem Leben(?) (…) er mag den Tod nicht, den Verursacher jeglichen Schicksals. (…) Ohne Bedeutung alles das, verschwunden in ein paar Jahrzehnten. Wind.
In der Nachfolge der lateinischen Elegiker, der Dichter der Pléiade (u.a. DuBellay, Ronsard) und des Barock (von Jean de Sponde bis zu Gongora) manifestiert sich im Werk Jude Stéfans ein Manierismus, der im dichterischen Schaffen seiner Generation eher ungewöhnlich ist. Schon in den frühen Gedichtbänden, vor allem aber in den späteren, ist seine Verskunst gekennzeichnet durch Raffinessen wie Inversion, Wiederholung, Zeilensprung, seltene Wortformen und Weglassen des persönlichen Fürworts etc. aber auch durch die Verwendung eines mittelalterlichen oder noch älteren Wortschatzes und durch zahlreiche Bezüge auf andere, vor allem historisch und geografisch abgelegene literarische Epochen. Weder Spott noch Provokation sind für Stéfan poetische Stimulantien – zum Unterschied von vielen anderen zeitgenössischen Dichtern –, sondern vielmehr die poetologische Sorge um die Eleganz des sprachlichen Ausdrucks und der formalen Gestalt des dichterischen Texts und eine fundamentale, auf das In-der-Welt-Sein des Menschen konzentrierte Besorgnis. Daher die permanente Konfrontation der Liebe mit dem Tod, die, stets vor dem Hintergrund der Eitelkeit (vanitas) allen Lebens, immer wieder – fast frenetisch – in den Texten thematisiert wird. Stéfan spricht den Leser an, sucht ihn durch eine klare, subsumierende, pointenartige Schlußzeile des Gedichts (oder auch des Prosatextes) zum Komplizen zu machen, um so vor allem dem Tod, aber auch der Langeweile (ennui) und der Körperlichkeit (chair) ihre lähmende Drohung zu nehmen. …
Ich stieß zum ersten Mal anfangs der 90er-Jahre auf den Namen des Dichters Jude Stéfan während meiner Arbeit an der Übersetzung des Essays „Meditationen über den Skorpion“ von Sergio Solmi, einem heute im deutschen Sprachraum noch immer unbekannten, bedeutenden italienischen Essayisten, Lyriker und Übersetzer des 20. Jahrhunderts. Im zweiten Heft seiner „versione poetiche“ fand ich 6 Texte von Jude Stéfan in italienischer Übersetzung. Die Texte faszinierten mich, und noch viel mehr das, was ich dann nach und nach und mit Mühe über den Autor in Erfahrung bringen konnte, aus Zeitschriften und aus seinen Büchern, von denen ich mir einige anschaffte. Ich versuchte bald, selber Texte von ihm zu übersetzen, gab aber, verärgert über das mir so wesensfremde – derart „französische“ – Pathos der poetischen Gesten und entmutigt auch durch die fast vollständig auf gliedernde Satzzeichen verzichtende, aber sperrige Syntax, immer schnell auf.
Eine Begegnung mit der französischen Autorin Marianne Alphant in Mazedonien, bei dem Festival „Les Soirées poétiques de Struga“ im Jahr 1999, die mir den Dichter, mit dem sie befreundet war, in lebendigen Erzählungen persönlich nahe brachte und die mir Material (ein Video, Bücher über den Autor etc.) liebenswürdigerweise zukommen ließ, veranlaßte mich in der Folge immer wieder dazu, mich mit dem Werk Stéfans zu befassen und zu versuchen, deutsche Versionen ausgewählter Texte herzustellen.
Die derart zustande gekommene Auswahl von Gedicht- und Prosatexten Stéfans in meiner Übersetzung liegt seit Jahren für eine Publikation in Buchform vor. Meines Wissens gibt es bis heute kein Buch von Stefan in deutscher Sprache. Mein wiederholtes Bemühen, einen Verlag für mein Projekt zu finden, scheiterte immer – österreichische Verlage reagierten auf diesbezügliche Anfragen überhaupt nicht (das ist die Regel hierzulande, wenn es um die Publikation fremdsprachiger Lyrik geht), deutsche Verlage reagierten ohne Ausnahme korrekt, aber ablehnend. War es zum einen das mangelnde Interesse und daher die mangelnde Gelegenheit, meine Auswahl zu publizieren, so war es aber auch mein skrupulöses Zögern, hinsichtlich der Qualität meiner Übersetzung, aber vor allem auch der ÜBERSETZBARKEIT der Gedichte – so wie es mir einst mit den Gedichten des Triestiners Umberto Saba ging, mit denen ich mich jahrelang befasste, nur um mir endlich einzugestehen, dass diese, vor allem, was den unverwechselbaren Ton dieser heiklen Sprachkunstwerke betrifft, UNÜBERSETZBAR sind und bleiben und daher eine Veröffentlichung der deutschsprachigen Version entbehrlich ist, so erging es mir auch mit den Texten Stéfans.
Wenn ich trotz all dem mit – auch mich überraschender – Standhaftigkeit, aber mit gewohnter Starrköpfigkeit an einer eventuellen Veröffentlichung meiner Übersetzung mehr als ein Jahrzehnt festgehalten habe, dann, um schließlich doch mit einer Auswahl von Texten Stéfans, die meines Erachtens in der deutschen Version doch manchmal (fast) „gelingen“, den längst fälligen Hinweis auf einen für mich hochinteressanten, kontroversiellen, bedeutenden Autor der französischen Sprache zu geben, mit einer Art „First Reader“, „appetizer“ oder „eye-opener“, mit einer fragmentarischen zweisprachigen Auswahl aus einem ebenso imposanten wie reizvoll rätselhaften poetischen Werk des 20. Jahrhunderts.
Daß viele der „eingedeutschten“ Gedicht-Texte in meinen Augen nicht „gelingen“, derart sowohl für den Übersetzer wie für den Leser unbefriedigend, FRAGwürdig sind, liegt auch daran, dass im Original, Rätselhaftes, Sperriges, ja auch unangenehm Schwülstiges und Unverständliches in der Übersetzung, so wie es im Original steht, eben „stehen“ bleibt, da ich der Überzeugung bin, dass Übersetzung auf keinen Fall eine Interpretation, eine Erklärung durch Umschreibung, eine umständliche „Erhellung“ eines „dunklen“ Originals sein soll. …
Hans Raimund, Hochstrass, im März 2022, Nachwort
– Schwarz, grimmig, komisch, elegant: Die Gedichte von Jude Stéfan. –
Müssen wir erst das Leben des Dichters kennen, um ihn zu lesen, lohnt in der Regel die Lektüre nicht. Das verlangt Jude Stéfan (1930–2020) nicht von uns. Seine Gedichte, von denen Hans Raimund im letzten Jahr eine erste Auswahl in deutscher Übersetzung vorgelegt hat, sind lesbar, ohne das Geringste über des Dichters Leben zu wissen. Allein, der Versuchung, auch etwas aus diesem Leben mitzuteilen, ist schwer zu widerstehen, gerade, weil es so öde war wie nur selten eines.
Stéfan, der dank der Vermittlung des größten Literaturtheoretikers Frankreichs, Maurice Blanchot, schon früh zum Verlag Gallimard stieß, war im Brotberuf Lehrer für alte Sprachen, Philosophie und Sport. An ein Curriculum scheint er sich nicht gehalten zu haben. Als ihn ein Schüler fragte, was in der nächsten Stunde drankommt, antwortete er ihm:
Vielleicht ein wenig Russisch. Oder das Kreuzworträtsel aus Le Monde.
Spaß hat ihm das nicht gemacht, vielmehr wartete er mit der Klasse ungeduldig darauf, dass es zur Pause klingelt.
Gelebt hat er, bevor er, drei Jahre vor seinem Tod, ins Altenheim kam, in dem schäbigen Häuschen seiner Eltern im normannischen Orbec. Wie viele literarische Winkelexistenzen, so die von ihm verehrten Thomas Bernhard und Arno Schmidt, hasste er sein Leben. Er setzte alle Hoffnung auf den Selbstmord, doch auch solche Hoffnungen vergehen. Das wäre kaum der Rede wert, hätte des Dichters Hass auf die Welt nicht auch sein Werk geformt. Sein Hass galt zuerst und vor allem der eigenen kleinbürgerlichen Klasse, der er nicht entkam. Er war ein Lehrer, der nicht lehren wollte, und ein Schreiber, der nicht ruhmvoll sterben konnte.
Wie er sich einmal scherzhaft einen „Stalinisten“ nannte, aus Ekel vor dem servilen Eifer, mit dem sich die Wendehälse seiner Generation von ihrem einstigen Kommunismus distanzierten, so blieb er, aus Trotz, auch dann noch klassisch-modern, nachdem in den 1970ern Empfindsamkeit und Traditionalismus fröhliche Urständ feierten. Das Neue, das formal Gewagte, und das Alte, gerade das Abgetane, dienen bei ihm demselben Zweck: der Welt zu widersprechen. Typisch für ihn ist – wie Raimund im Nachwort schreibt – „die Verwendung eines mittelalterlichen oder noch älteren Wortbestandes“. Typisch sind aber auch ungewöhnliche Kreuzungen von Poesie und Prosa. Typisch ist, dass er zugleich fliehen und sich stellen will. Mit seinem geliebten Catull hätte er seine Zeit fragen können:
Welcher Wahnsinn treibt dich,
So gradaus in die Jamben mir zu laufen? (Übersetzung Max Brod)
Wenn es jemals einen Dichter gab, der sich zugleich auf Catull und auf Arthur Rimbaud berufen durfte, dann war es Stéfan.
Das Scharnier zwischen Leben und Werk ist das gedrechselte Pseudonym. Jude Stéfan, als Jacques Dufour geboren, verweist mit seinem Vornamen auf „Jude the Obscure“ (Juda der Unberühmte), den Roman von Thomas Hardy. Der Verräter Judas und der Apostel Judas Thaddäus, Schutzpatron der Verzweifelten, sitzen selbstverständlich mit im Boot. „Stéfan“ ist nicht nur eine Reverenz an Stéphane Mallarmé, sondern auch an Stephen Dedalus, James Joyces Märtyrer, außerdem bedeutet „steorfan“ im Altenglischen „sterben“. Namen sind Grabmale. Im Gespräch mit Tristan Hordé (2005) sagte Stéfan:
Ich war von Beginn an tot.
In seinen Gedichten hält er die Mitte zwischen Tagesrest und nächtlich-herbem Urteil. Er wird selten konkret, versucht gar nicht erst zu beschreiben, aber hebt, auch wenn es ihn mitunter heftig dahin zieht, nie ins rein Moralisch-Philosophische ab. Eros und Thanatos lässt er wie Zähne eines Reißverschlusses ineinander greifen:
Vor Überdruss bin ich gestorben das ganze Leben lang
vor Liebe eines Tages tief im Wald
auf dem feuchten Mund einer Sterblichen
ich verging vor Schmerz unter verzückten Himmeln
beim Verlust der Unschuld und der Scham
durch das Grauen wie ein Wurm auf Erden
Was in den Sechzigern sich kompakt darbietet, wird ab den späten Siebzigern rhythmisch und syntaktisch gerüttelt und geschüttelt. Stéfan ändert zwar weder Zeilenlänge noch Themenkreis, aber trägt womöglich noch mehr Schwarz als zuvor auf, „in einer Traurigkeit Virginia Woolfs / in den Weindünsten gestreift / von blinden Vögeln nachts / auf der Fähre“. In die Schwärze mischt sich mitunter eine fast perverse Zärtlichkeit:
wie ein Samurai mit unbewegtem Herzen an
der Tür des Schranks erwartet mich die Ratte
tot und fett
das Aug rege
die lang sich in den Giebeln hat getummelt
Stéfan wird mit den Jahren immer eindringlicher. Und wenn man sich etwas hätte wünschen dürfen, dann, dass Raimund für seine Auswahl auch spätere Gedichtbände berücksichtigt hätte, etwa die Prosopées (1995) – der Neologismus bedeutet eine Verbindung von Prosa und Poesie –, denen der Dichter als Motto eine Notiz von Bertolt Brecht voranstellte:
Während das Gras wächst, stirbt der Gaul.
An seinen späten Sachen hat, nicht zu ihrem Nachteil, die Säure des Verdrusses gefressen. Und hin und wieder könnte man meinen, das unlyrische Ich betrachte sich bereits von jenseits des Grabes:
Er starb durch Atemstillstand
nachdem er gut geschissen und geraucht und
seine Etymologien gelesen hatte (meine Übersetzung).
Hans Raimund gesteht, er finde seine Versionen in Teilen fragwürdig, das liege aber daran, dass sich im Original „Rätselhaftes, Sperriges, ja auch unangenehm Schwülstiges und Unverständliches“ finde, das er nicht habe glätten wollen. Nun ja, wenn sich Catull und Rimbaud über Lust und Tod unterhalten, wird das keine gefällige Plauderei ergeben. Um seiner Zeit, seinen Zeitgenossen zu missfallen, war Jude Stéfan alles recht: Ablenkungen, Störungen und Verblendungen. Der erste Blick in dieses widerborstige Werk weckt das Verlangen nach mehr.
Nicht nur der titelgebende Schwan und dessen Gleichmut treten in Jude Stéfans Gedichtband in Erscheinung, es sind noch eine Zahl anderer Tiere, die darin einen Auftritt erhalten. Und an mancher Stelle verschwimmt dabei die Grenze zwischen Mensch und Tier. So heißt es etwa in dem Gedicht „HundMensch“:
Wie ein verwundeter Hund flieht man sich selbst
drei Tage lang blutend heult man
Entsetzen verbreitend auf seinem Weg berauscht man sich (S. 11).
Stéfans Verbindung zum Tier ist von Sanftheit geprägt. Das Gedicht „Tiere“ (S. 49) zeugt davon. Am Schluss des Bands findet sich auch ein Brief an seinen Hund, der mit den folgenden Worten beginnt:
Nie habe ich dich angekettet (S. 94).
In Stéfans Lyrik wird vor allem aber eine Sehnsucht danach spürbar, sich die Gelassenheit der Tiere anzueignen und dem menschlichen Los zu entkommen.
Jude Stéfan ist das Pseudonym von Jacques Dufour. Der Vorname Jude verweist auf den Roman Jude the Obscure von Thomas Hardy, Stéfan ist eine Reverenz an Stéphane Mallarmé sowie an die Figur des Stephen Dedalus von James Joyce. Stéfan hat zeit seines Lebens über zwanzig Gedichtbände veröffentlicht. Im Brotberuf war er Lehrer. Hans Raimund hat nun erstmals eine Auswahl dieser Gedichte ins Deutsche übersetzt. Neben den Gedichten haben auch Briefe im Band Eingang gefunden, Prosa und Poesie reichen sich hier die Hand. Die Briefe richten sich an Rimbaud, an Christus, an Miss Hardwick, und wie bereits erwähnt, an seinen Hund.
Für Stéfans Stil ist ein eleganter sprachlicher Ausdruck charakteristisch. Er überließ kein Wort dem Zufall. Auch die „Verwendung eines mittelalterlichen oder noch älteren Wortschatzes“, wie Hans Raimund im Nachwort schreibt, gehörte zu Stéfan. Das entsprach nicht der Mode seiner Zeit. Doch Stéfans Werk wollte widersprechen, der Mode, der Welt, den Frauen, und besonders auch dem Tod. Seine Gedichte sind abstrakt, schwebend, aber auch nicht allzu hochsteigend, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Stéfan befielen weder Überschwang noch großes Grauen. Das Dunkle mag zwar hie und da Verzweiflung hervorrufen, doch es ist kein Desaster. Es ist allgegenwärtig, also gilt es, sich mit ihm zu arrangieren, „in einer Traurigkeit Virginia Woolfs / in den Weindünsten gestreift / von blinden Vögeln nachts / auf der Fähre“ (S. 61).
Stéfan beschrieb die Dinge nicht, sondern blickte „bloß“ hin, in einer Art trotzigen Gelassenheit, die seine Wahrnehmung meist schärfte. Denn er entdeckte dabei viel.
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Für Jude Stéfan
Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Jude Stéfan
David Axmann: Wider-Klang der Welt-Betrachtung
Wiener Zeitung, 3.4.2015
Hans Raimund im Interview mit Gerhard Winkler für die Literatur-Edition-Niederösterreich am 13.4.1999 in Hochstraß.
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