– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt
aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine
von etwas, das man Kontinuum nennt.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaRegenfelder, Februar
fängt an; tagsüber Licht in den Häusern. Ob man
es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf.
Hausdächer aus den dreißiger Jahren; Straßen mit Biographien,
die wegen Verdacht der Nachprüfung unterliegen; Windböen,
ein paar krachende Ziegel. Der Deutschlandfunk bringt
keine Verkehrsmeldungen mehr.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaStille liegt noch
zwischen Westwall und Maginot-Linie im Februar 40: Zeilen
für einen Lebenslauf, der hineinreicht ins Blickfeld
zwischen Baukränen und dem Himmel Berlins. Jahrzehnte
schreiben mit in einer Küchentisch-Chronik, in der, ob
mit richtig oder falsch geschriebenem Namen, jeder von uns
vorkommt.
aaaaaaaaaaDer Vormittag. Ein Chinese taucht auf,
und Passanten wechseln die Straßenseite.
Zuhause sehe ich, daß die Zeitung, die ich
an der Tankstelle kaufte, von gestern ist.
Der Nachmittag. Gestern war, als mein Vater
noch lebte und von Leuten erzählte,
die alle deutschfreundlich waren in Ländern
vor und nach dem Krieg.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaIm Nachbarland
Stimmen, die es anders erzählen, und ob man
zuhörte oder aus dem Zimmer ging –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaSchnitt.
Nachrichten stündlich. Die Züge fuhren wieder,
eingleisig im Osten, zweigleisig im Westen, bis
wo eine Brücke im Wasser lag.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaVariationen
in einer Reihenfolge, die sich an die Daten hält.
Mit Daten nur, das ist so eine Sache, die
einmal vertraut, dann wieder verwirrend erscheint.
Sicher, im Rückblick rutschen die Bilder zusammen,
und so wird ungenau, was du sagst. Zuverlässig
bleibt der Bleistift, der erst schreibt, wenn die Hand
ihn bewegt –
aaaaaaaaaaaaWenn nachts die weiße Katze
draußen auf der Bank liegt, ein heller Streifen
sich unter den Vorhängen herzieht, das Licht
im Garten des unbewohnten Hauses angeht
und die kreisenden Scheinwerferarme sich kreuzen
über den dunklen Rändern der Stadt –
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAugenblicke
entscheiden, wo es langgeht, wohin sich
das nächste Geschehen bewegt; von alleine passiert
nichts. Und was du mitbekommst, reicht nicht aus,
um all die Zusammenhänge zu sehen, ohne die
kein Wasserkessel summt, der Bildschirm schwarz,
die nächste Seite leer bleibt.
entstanden 2020/21, versammeln sich Gedichte, Notate, Satzreihen, Prosastücke zu einem Journal, in dem das tägliche Geschehen, die Erfahrung von Krise, das Fortwirken der Vergangenheit Seite für Seite mitgeschrieben haben. „Augenblicke entscheiden, wo es langgeht, wohin sich das Geschehen bewegt … Sätze aus einem Früher, das nicht aufgehört hat, im Hier und Heute mitzusprechen.“
Es ist die Fortsetzung eines Selbstgesprächs, das „hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten“, und das heißt auch: der Verfasser vergegenwärtigt Impulse und Motive, die seine früheren Texte durchziehen; er lässt sich auf Wiederholungen ein, wo es darum geht, im zuvor Gesagten den verborgenen Rest des Nichtgesagten, das Übersehene oder Vergessene, zu entdecken. „Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.“
So kommt die Vergangenheit mit Neuigkeiten, die mit den Neuigkeiten der Gegenwart korrespondieren; so kehren Gewohnheiten zurück, die vielleicht vergessen, aber nie verschwunden waren. Und dabei kreuzen sich Erfahrungen und entstehen Zusammenhänge, die etwas kenntlich machen von den Widersprüchen und Täuschungen, den Ungewissheiten und Möglichkeiten unserer gegenwärtigen Existenz.
– Die Welt mit scharfer Wahrnehmung zum Verschwinden bringen: Der Hörspielmacher, Dichter und Büchnerpreisträger Jürgen Becker wird 90 Jahre alt. –
Wo der Rhein das Rheinische Schiefergebirge verlässt, beginnt eine flache Ebene, die sich bis in die Niederlande hinein erstreckt. Es ist das Niederrheinische Tiefland, dessen südöstlicher Teil in die Kölner Bucht übergeht. Von den Hügeln des Bergischen Landes aus blickt Jürgen Becker bisweilen hinunter auf diese Ebene. Am Himmel, so hat er es 2009 in einem kleinen Text beschrieben, sind nicht nur gewaltige Wolkengebilde zu entdecken, sondern auch Figuren aus Dampf, die aus den Kühltürmen der Elektrizitätswerke, „aus den Schloten der aneinandergereihten Industrieanlagen“ steigen. Darüber die Kondensstreifen der vielen Flugzeuge, die den Flughafen Köln Bonn ansteuern.
Die Wahrnehmung von Landschaft, des von Zivilisation bestimmten Geländes, durchzieht Jürgen Beckers Schreiben von Beginn an. Nicht von ungefähr tragen schon seine ersten Bücher, allesamt in den Sechzigerjahren entstanden, Titel wie Felder oder Umgebungen.
In einem der fragmenthaften Texte der Felder hat Becker seinen Blickpunkt auf die Kölner Bucht topografisch genau zu bestimmen versucht. Doch die gleichzeitig einströmenden Eindrücke machen jede Fixierung unmöglich. Schnee auf den Hügeln, plötzlich der Geschmack von Tee und Honig, das Geräusch einer Schreibmaschine, dazu die aufblitzenden Erinnerungen:
Das Wahrnehmen allen Geschehens, des gegenwärtigen wie des vergangenen, bringt jeden festen Ort (…) zum Verschwinden.
Doch auch wenn sich am Ende die Vorstellung eines festen Ortes auflöst, ist es die Wahrnehmung der gestaffelten Landschaft, die Becker zum Bild für sein collageartiges Schreiben wird. Denn aus der Höhe gesehen, hat die Landschaft selbst die Gestalt einer Collage, wie er fast 50 Jahre später notiert:
In ihren Gegensätzen, im Nebeneinander und Ineinander von Bestandteilen, die zwischen den Ausläufern der großen Städte einen widersprüchlichen Zusammenhang bilden, alte Dorfreste und neue Ballungsräume, Ackerflächen und Betonpisten, Waldgebiete und Hochhausgruppen, Bergbauhalden, Baggerseen, Flussverläufe, Gemüseplantagen und Gewerbeflächen.
Obwohl er eigentlich gar nicht gern reise, hat Becker angemerkt, sei er abhängig von den Orten und Gegenden, in denen er sich befinde, er spüre dann, „hier ist etwas, das mich bewegt, das meine innere Stimme zum Sprechen bringt.“ Und von diesen Orten gibt es nicht wenige. 1932 kommt Jürgen Becker in Köln zur Welt. Als der Krieg beginnt, wird der Vater nach Erfurt versetzt. Es ist keine glückliche Zeit für die Familie, die Eltern trennen sich, dann stirbt die Mutter. 1947 kehrt Becker mit seinem Vater in den Westen zurück. Nach verschiedenen abgebrochenen Studien arbeitet er als Werbeassistent und als Lektor in Verlagen. Anfang der Siebzigerjahre hält er sich für längere Zeit in Berlin und New York auf, bevor er, für ganze 20 Jahre, die Hörspielabteilung des Deutschlandfunks leitet. Das Schreiben läuft immer nebenher.
Die Wende und die ersten Jahre danach hat Becker oft als entscheidenden Einschnitt in seiner Biografie beschrieben. Endlich konnte er die Orte und Landschaften seiner Kindheit wieder besuchen. Damals formte sich vollends seine Vorstellung aus, Schreiben sei ein Entdeckungsvorgang. Eine solche Menge an Stoff hatte sich auf seinen Besuchen und Recherchereisen angehäuft, dass neue literarische Möglichkeiten jenseits der immer gegenwärtigen Gedichte erprobt sein wollten, vornehmlich Romane.
So ist Becker über die Jahre ein Schriftsteller geworden, der mit demselben literarischen Atem ein siebzigseitiges „Gedicht von der wiedervereinigten Landschaft“ schreiben konnte (1988 erschienen!) wie ein schimmerndes Prosabuch namens Aus der Geschichte der Trennungen (1999). In diesem Roman fährt Jörn, der Erzähler, in den Dörfern zwischen Thüringen und der Ostsee hin und her. Mal fühlt er sich fast wie zu Hause, mal bemerkt er einen Nebel zwischen sich und den anderen Menschen, eine „Zone der Fremdheit, die von der Geschichte zurückgelassen worden ist“.
Osten und Westen, Augenblick und Erinnerung, Landschaft und Bewusstsein, Denken und Fühlen – solche vermeintlich polaren Ideen durchdringen sich bei Becker auf eigentümliche Art und Weise. „Stell dir jetzt vor“, beginnt ein kleiner Text aus seinem Prosabuch Erzählen bis Ostende (1981), „stell dir jetzt vor: du gehst einfach zum Bahnhof.“ Tatsächlich ist es diese Verbindung von Wahrnehmung, Erinnerung und Imagination, aus der Beckers Schreiben seine ganze Kraft gewinnt.
Dabei zählt jeder Augenblick. Und die Assoziation, deren „Geschiebe“ vom einen zum anderen führt. So ist Jürgen Beckers Schreiben von Anfang an als Mitschrift angelegt, als Journal, wie er es selber nennt, das noch den unscheinbarsten Einfall festhält. Den Impuls kann ein Bild an der Wand setzen, das Geräusch eines Autos in der Nacht, das Spielen am Radioknopf. Zugleich schießen historische Reste ein, Erinnerungen an Bombennächte, an Hunger, manchmal nur an einen einzelnen Handwagen, den der Sprecher hinter sich herzieht. Aber auch Stimmen aus dem Fernseher, dem Internet, Zitate anderer Schreibender.
Einiges davon kann man sich jetzt noch einmal kompakt in dem Band Gesammelte Gedichte ansehen, den der Suhrkamp Verlag seinem im Jahr 2014 mit dem Büchnerpreis gekrönten Autor zum 90. Geburtstag schenkt.
Aber pünktlich zum Jubeltag ist auch ein neues Gedichtbuch erschienen. Darin zeigt Becker wieder, wie genau er mit den Momenten und Assoziationen verfährt. Die Augenblicksbilder stehen nie für sich, sondern sind stets in Kontexte eingebettet, „wie in Gestrüpp“ manchmal, die es im Schreiben zu entdecken gilt.
Beckers wichtigstes Verfahren ist eine raffinierte Schnitttechnik, die alle Momente in eine Atmosphäre der Präsenz überführt, und die er hier mitunter eigens mit fast comicartigen Einsprengseln wie „Schnitt“ oder „plopp“ markiert. Dazu gibt es eine neue Vorliebe für listenartige Gedichte, die das Gefüge der Assoziationen noch offener machen. Und die in Schlagwörtern wie „Paris Bar“, „Gruppe 47“ oder „Höllerers Zirkus“ Stationen von Beckers Lebensgeschichte aufrufen, die zugleich charakteristisch für die BRD jener Zeit und für den westdeutschen Literaturbetrieb sind.
Jedes Material, jedes Motiv hinterlässt etwas Verborgenes, meint Jürgen Becker, „einen riesigen Rest von nichterzählter Geschichte, verlorener Erinnerung“. Auch das neue Buch endet mit einem solchen Rest. Und so kann man sich nur freuen auf all die Erkundungen der inneren und äußeren Landschaften, die noch folgen werden.
– Sachliche Melancholie: Jürgen Beckers Gesammelte Gedichte und der neue Band Die Rückkehr der Gewohnheiten –
Irgendwo steht bei Jürgen Becker immer ein Kübelwagen herum. Manchmal auch ein Jeep, ein Hanomag. Der Unimog erscheint gar als „mächtiger Käfer im Hohlweg“. Ein Tesla wurde dagegen in der Lyrik des Büchnerpreisträgers, der am 10. Juli seinen 90. Geburtstag feiert, noch nicht gesichtet. Es sind eher die geländegängigen Fahrzeuge, die es in Beckers Verse schaffen, nicht die schnittigen Straßenkreuzer. Wobei die Autobahn nah vorbeiführt an Beckers Wohnort im Bergischen Land. Vor allem nachts dringt sie ins Bewusstsein, da rauscht sie in der Ferne als Meer.
Wer in Jürgen Beckers Gedichten unterwegs ist, braucht keine Sorge zu haben, dass ihm der Sprit ausgeht: An jeder Ecke steht eine Tankstelle. Sogar in den Titel des Bandes Dorfrand mit Tankstelle von 2007 hat es diese Institution der mobilen Welt geschafft, samt Tankwart versteht sich, und Moritz, der Tankwart, heißt es da, „weiß Bescheid“. Auch zehn Jahre später, in Beckers Langgedicht Graugänse über Toronto, taucht er dann wieder auf:
Putins Rache, weiß der Tankwart, er liefert
dem Westen den Winter nicht mehr
Minusgrade wie im
Krieg, Skispuren quer durch den Kiefernwald, Reisig im Rucksack,
tot der Hund und starr wie ein Brett
Aber die Zeiten ändern sich, Putins Rache besteht jetzt darin, dass er statt des Winters das Gas zurückhält, und an den Tankstellen begegnet man keinem Tankwart mehr, stattdessen sitzt ein Mädchen hinter Plexiglas, und „es kann / nur die Kasse“. So heißt es im jüngsten, nun zeitgleich mit den Gesammelten Gedichten erschienenen Band Die Rückkehr der Gewohnheiten.
Journalgedichte nennt Becker seine neuen Texte, und das sind sie auf ihre Art: lyrische Mitschriften des Tages und jener Bewusstseinszustände, in denen das Impfen, die „Falten im Gesicht / von Caroline Peters“ und die Erinnerung an den Krieg zueinanderfinden. Wobei: Es sind nicht wirklich Erinnerungen. Der Krieg und die Nachkriegsjahre, die frühe Bundesrepublik mit ihren Borgwards und DKWs sind in Beckers Gedichten genauso gegenwärtig wie Twitter, Google und jene inzwischen freilich auch schon eingestellte „Eifel-Serie“ um die Kommissarin Sophie Haas.
Gestern und heute sind in Beckers Gedichten nicht klar geschieden, sie fließen ineinander über, es sind Dämmerungsgedichte, in denen die Ränder verwischen und ausfransen und sich die Dinge überlagern. „Es zieht / an diesem Nachmittag ein paar Jahrzehnte / zusammen“ heißt es im Band Journal der Wiederholungen von 1999.
Becker ist ein Autor, der mit Rekombinationen arbeitet, dem „Geräusch der Korrespondenzen“ nachlauscht, der ein „Rätselnetz der Motive“ auswirft: Nicht nur das Motivfeld der Automobilität wird aufs immer Neue variiert, auch Regen und Schnee, Kirschbäume und Platanen sind Konstanten dieser Gedichtwelt. Dabei gelingt es ihm seit über einem halben Jahrhundert, seit seinem ersten Gedichtband Schnee von 1971, bei aller Treue zum im Grunde sehr überschaubaren eigenen Repertoire, immer frisch und anders zu klingen. Er ist ein DJ seines eigenen Materials, der sein Publikum niemals langweilt, ein Collagist und Montagekünstler, dem es stets gelingt konzise Sprach-, Denk- und Wahrnehmungsbilder zu entwerfen. Ein Wiederholungskünstler, der sich nie selbst kopiert.
Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Becker ganz offensichtlich aus dem eigenen Erleben schöpft, eine „Küchentisch-Chronik“ verfasst, deren Ort genau zu lokalisieren ist, dass er aber selten „ich“ sagt. Seine Lyrik mag persönlich sein, sie gleitet niemals ins bloß Private ab. Auf diese „Dezenz“ Jürgen Beckers weist Marion Poschmann in ihrem wunderbaren Nachwort zu den Gesammelten Gedichten hin. Darin schreibt sie auch, dass man Beckers tausendseitiges lyrisches Gesamtwerk als „ein großes Poem“ lesen kann, womit sie sicher recht hat. Dabei klingt der frühe Becker durchaus etwas anders als der mittlere und der späte, denn es musste ja überhaupt erst mal das Rätselnetz der Motive geknüpft, es mussten die Themen und Gegenstände etabliert, die Ähnlichkeiten in Schwingung versetzt werden, damit das Geräusch der Korrespondenzen hörbar werden konnte.
Es gibt keine Reime in Beckers Gedichten, keine Träume und abgesehen vom Käfer im Hohlweg kaum je eine Metapher. Und obwohl alle diese Ingredienzen herkömmlicher Lyrik fehlen, obwohl die Natur hier eine menschengemachte, von der Menschenwelt durchsetzte („Kiefernwald, Artillerie“) und keine schöne ist, sind diese Gedichte von einer ganz eigenen und ganz eigenartigen Schönheit, einer die etwas mit dem Ton zu tun hat, der sich am ehesten mit „sachliche Melancholie“ beschreiben lässt.
Dass die Geschichte keinen Fortschritt kennt, aber konstante Veränderung, von diesem Paradox erzählt Becker immer wieder: „Gestern ist noch immer heute, und wir fangen nicht von vorn an“, heißt es in Dorfrand mit Tankstelle, und andersrum gewendet:
Man fängt von vorn an, auch wenn man alles schon hinter sich hat (Graugänse über Toronto).
So kommt einem jene „Mappe mit Zeichnungen aus der Ukraine“, die in Beckers jüngstem Band auftaucht und zweifellos dem Zweiten Weltkrieg entstammt, sehr fern und im selben Moment beängstigend nahe vor.
Es ist also eine Frage der Gleichzeitigkeiten. Möge Jürgen Becker sie noch möglichst lange und mit der ihm eigenen Ironie stellen:
Unsichtbar, tief im Geäst, uhuut
der Uhu; nachts kommt der Surrealismus zurück;
man muß noch zum Bahnhof, es gibt keinen Bahnhof;
dies hier ist die Regentonne, und wirklich,
es regnet ja auch.
– Zum 90. Geburtstag des Journaldichters Jürgen Becker. –
Im Garten waren plötzlich unbekannte Katzen aufgetaucht. Am Telefonat, das von einem Inseldorf kommt, sind nur die Hintergrundgeräusche interessant. Betörend: eine Ansichtskarte aus dem heißen Griechenland, jetzt, mitten im überraschenden Wintereinbruch. Und oben am Haus der Specht, der gibt den alten Zimmerbalken den Rest. Die Schallplatte Sing Nachtigall sing reizt zu der netten Frage, was Onkel Heinz wohl im Krieg gemacht hat. Das laute Lachen aus dem Nachbarhaus – wissen die nicht Bescheid, wie es um die Welt bestellt ist?
Solcher Art ist das, was Jürgen Becker schreibt. Kurze Beobachtungen. Mehr nicht. Vorstellungen, was man tun könnte. Überlegungen, was zu unterlassen sei. Wahrnehmung neben Wahrnehmung. Manchmal kommt es fast zu einer kleinen Geschichte. Fast. Dann aber stehen da nur wieder Sätze, Aphorismen gleich, aber es fehlt die Pointe.
Heute bin ich über die Wiese gegangen, und ich hatte auch nichts anderes vor.
Oder:
Am längsten bleibt das Sonnenlicht in den großen Sälen liegen.
Oder:
Mit Blaulicht rast der Notarzt in den Ort. Die alten Nachbarn sehen sich an. Keiner fehlt. Alle noch am Tresen.
Beckers Journalgeschichten und -gedichte (Schnee in den Alpen, Die folgenden Seiten, Im Radio das Meer, Was wir noch wissen, Jetzt die Gegend damals, Graugänse über Toronto) bilden seit Jahrzehnten ein Kaleidoskop jenes Flüchtigen, das wir tagtäglich leben, und das trotz seiner geringen Bedeutung das Unbezwingbare unserer Existenz ausmacht. Journal – das erinnert bewusst ans Unliterarische, es hat etwas von Zeitung; aber dem Dichter gelingt es, Information und Bericht wieder zu verrätseln. Der Büchner-Preisträger zieht uns in eine scheinbare Oberflächenströmung hinein, in Augenblickswirbel, darunter aber auch: das Lauern jener Vergeblichkeit, die unserer Daseinsdrift eingeschrieben bleibt.
Der Dichter aus dem Odental, Jahrgang 1932, wurde zum Chronisten dieser Drift, seine Journale machen gelebte Zeit durchsichtig. Er addiert Einzelheiten, wechselt aus Zufälligem ins Absichtsvolle, ohne dass die Reize des Vagabundierens sich verlören. Peter Handke hat in einer Laudatio vom „Grundzug eines zögernden Umreißens“ gesprochen. Wovor Becker zögert, ist die Dingfestmachung. Was war, was ist, was sich als Vorstellung von Zukunft herausbildet – alles bildet einen fortwährenden Schwebezustand der Empfindungen, der Eindrücke, der bewusstseinsfilmischen Fetzen.
Bilder schieben sich durchs Zimmer, die in der Dunkelheit rasch wieder verschwinden. Es sind Bilder aus einem Leben, das uns vor Augen führt, wie unser Leben hätte sein können. Die Möglichkeiten, die wir berührt haben, sind nicht wiedergekommen, und wir haben sie auch nicht mehr gesucht. Die Spuren des Konjunktivs kann man nicht sehen.
Stets war Becker ein unaufgeregter Vorbeischreiber am Literaturbetrieb. Seine Bücher fabulieren feinfühlig mit an jenem Danach, das dem 19. Jahrhundert des großen Romans folgte. Abwartendes Schauen – wie in frühen Filmen von Wim Wenders.
Dahinten, da soll was los sein.
Wieder so ein Satz, sehr allein steht er da, wir kennen ihn, wir kennen diese Art von Erwartung, und der Satz sagt: Nichts ist los, und nie wird was los sein. Es ist dies der erregende Kern unseres Lebens. Samuel Beckett hat es in den bodenlosen Ausruf gefasst:
Wie erträglich das alles ist, mein Gott.
Beckers Lyrik und Prosa ist ganz dieser Beckett-Satz, aber ohne jede Ironie und auch ohne jede Bitterkeit.
Erst als der Baum kahl war, sahen wir, dass viele kleine Äpfel hängen geblieben waren.
Oder:
Andere Wolken. Nächster Regen. Neuer Schnee.
Aber dann folgt eine Notiz, in der die Furie des Verschwindens nach deinem Herz schielt:
Diese vorbeiziehenden Wollen siehst du nie wieder.
Sei wach zu dir selbst, und es durchfährt dich: Zu jeder gelebten Sekunde gehört ein solches entsetzliches „Nie wieder!“.
An mein Leben denkend, sagt er, … fallen mir immer bloß Sätze ein, manchmal nur noch einzelne, manchmal ein paar mehr.
Jörn Winter sagt das, Schriftsteller, bekannt aus Beckers Büchern Der fehlende Rest, Aus der Geschichte der Trennungen, Schnee in den Ardennen. Ein Mensch, der Lust weckt, ihn mit Becker zu verwechseln. Dieser selbst legt die Spuren: Jörn Winter sei eine Person, „die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild.“ Aber freilich zeigt der Spiegel ein Bild vieler biografischer Momente aus Beckers Biografie.
Die ostwestdeutsche Zeit nach dem Krieg. Umzug von Köln nach Thüringen und zurück. Bauernjungs auf den Schulbänken; wegen der Kleidernot trugen sie ihre alten Jungvolk-Uniformen. Die Abneigung gegen Schiefertafeln. Daheim die Regale voller Einmachgläser. Der Romantikhauch der Dachkammer. Bombenfunde und Spiel mit Granatsplittern. Warum ging man aus Thüringen wieder in den Westen? Früher Abwehrreflex gegen das ostdeutsche „Angebot“, sich vergesellschaften zu lassen. Damit verbunden der Gedanke an Orte „für ein Leben im Abseits“. Als könne man sich auf der Welt einrichten „in einer Art Zurückgezogenheit, die einen vom Mitmachen fernhält“. Deutsche Erfahrung peinigt: Ein Verwandter konnte sich nicht fernhalten vom Druck der Zeit, ein Kriegstraumatisierter – „als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz“.
Becker lenkt hin zu all dem Quälenden des 20. Jahrhunderts: Hochzeiten von Weh und Wohl. Der dichterische Blick offenbart eine Philosophie des Praktischen: wirklich auf Erfahrungen des Dorfkreises zu bauen und jene – von Utopisten gern geschmähte – Kleinheit des Menschen offen anzunehmen. Die in Wahrheit eine große Überlebenskraft sein kann. Kleinheit in Schönheit – aus Nebelschwade und Krähenflug, Birnbäumen und Spechthämmern.
Wo die Baracken für die Zwangsarbeiter standen, ist wieder Kiefernwald gewachsen.
Ein Lob den alten Gerätschaften, Lob auch der alten Bahnsteigkarte und dem guten alten Abenteuer:
Oft, wenn Jörn vom Geländespiel heimkam, musste die Mutter den Verbandskasten holen.
Leben, das heißt für jeden Menschen gleich und für jeden Menschen doch auch anders: dem Durcheinander von mehr oder weniger zufälligen Ereignissen vorsichtig eine Gestalt geben zu wollen, die bejahenswert erscheint. Gern und gut zu leben heißt: die eigene Welt nicht an die Welt zu verlieren. Die rücksichtslos herandrängt.
Krisengebiete, bewaffnete Auseinandersetzungen, kein Tag ohne Schusswechsel, Flüchtlinge, Verletzte, Tote … Jörn macht das Fenster auf und fragt sich, wie lange sie noch bleibt, die Stille draußen in der Nacht.
An diesem Sonntag wird Jürgen Becker 90 Jahre alt.
– Frische Beobachtungen, aufblühende Erinnerungen: Neuer und gesammelter poetischer Realismus des Dichters Jürgen Becker, der am Sonntag seinen 90. Geburtstag feiert. –
Bei Jürgen Becker geht es um alles. Um das Große und das Kleine, das Gegenwärtige und das Vergangene. Schon im ersten Gedicht des ersten Lyrikbandes Schnee, dem 1966 geschriebenen und 14 Seiten füllenden „Fragment aus Rom“, gibt es einen Hinweis auf den Gegenstand der Betrachtung:
Jahre, Fortsetzungen, Flüge, Brüche, Beispiele.
Was damals noch wie eine beiläufige Erwähnung wirken mochte, hat sich in den folgenden Werken ein ums andere Mal als literarischer Urgrund bestätigt.
Die Lyrikerin Marion Poschmann kommt zu dem Schluss, Jürgen Becker verfolge mit eindrucksvoller Konsequenz „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. In der genauen Beobachtung alltäglicher Begebenheiten und in den „Bewegungen der Erinnerung“ entstehe wie nebenbei eine Chronik der Bundesrepublik – von der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges über die deutsche Wiedervereinigung bis hin zum „Smartphonezeitalter“.
Jetzt gibt es gleich zwei Neuerscheinungen, die rechtzeitig zu Jürgen Beckers 90. Geburtstag am Sonntag vorliegen. Da ist zum einen der 1.120-Seiten-Wälzer Gesammelte Gedichte 1971–2022, den Marion Poschmann herausgegeben und mit einem ausführlichen Nachwort versehen hat. Außerdem präsentiert der Band die neuen „Journalgedichte“, die – siehe da – zeitgleich in einer separaten Ausgabe vorgelegt werden: Die Rückkehr der Gewohnheiten. Beide Bücher erscheinen bei Suhrkamp – dort hat der Büchnerpreisträger vor 60 Jahren seinen ersten Text veröffentlicht (in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anthologie Vorzeichen).
Die neuen „Journalgedichte“ sind selbstredend eine „Fortschreibung“ des Werks. Schon der Spiegelstrich am Anfang deutet an, dass es weitergeht, wo man abgebrochen hatte:
– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine von etwas, das man Kontinuum nennt.
Und ein Spiegelstrich am Ende des Bandes deutet an, dass noch nicht alles gesagt ist.
Glücklich jene Leserinnen und Leser, die Zugriff haben auf jede neue Lieferung des lebenslangen Journals. Es enthält auch diesmal frische Beobachtungen und aufblühende Erinnerungen, dazwischen Wiederholungen und Variationen, die wie Trittsteine im Wasser wirken. Oft genügt schon eine Vokabel, um sich auf vertrautem Gelände zu wähnen: Schnee und Pappeln, Risse in der Biografie und Preußen Dellbrück, Äpfel und Birnen, der Strand in Ostende und die Tankstelle am Dorfrand. Solche Motive aus dem reichen Repertoire werden bekräftigt, überprüft, in einen neuen Kontext gestellt.
Im Gespräch erläutert Jürgen Becker:
Das Gedächtnis ist ein Depot und jeder Moment, auch den wir jetzt erleben, geht ins Gedächtnis ein. Aber wo ist es da, wo bleibt es? Das ist dann die Arbeit der Erinnerung.
Doch der Erinnerung ist nicht so leicht zu trauen. Da gibt es Überlappungen, Verdichtungen, Erfindungen. Und die Gegenwart mischt sich ein mit neuen Erfahrungen. In den „Gewohnheiten“ steht:
Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich
verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.
Wer bei der Lektüre dazu neigt, sich bemerkenswerte Stellen zu markieren, wird in diesem neuen Lyrikband auf jeder Seite Spuren hinterlassen. „Die Wolke, die du jetzt siehst, erzählt ihre Geschichte / nur einmal“, haben wir uns angestrichen. Nicht nur, weil es wahr ist und schön klingt. Auch weil der Satz zu sagen scheint: Nichts ist ohne Bedeutung. Und so hat vieles die Chance, im Vers fixiert zu werden.
– Orte, die man erfinden muss, wenn man sie wiedersehen will: Der große Dichter, Erzähler und Hörspielautor Jürgen Becker wird 90 Jahre alt. –
Was ist schon die Gegenwart. Die schnelle Zigarette draußen in der Regenpause eines Juli-Anfangs in Corona-Zeiten. Oder die Erinnerung, die sie beim Sinnieren heraufbeschwört. Krieg und Kriegsende in Erfurt, bevor es mit dem Vater wieder nach Köln zurückging. Oder der akute Ärger mit dem Auto, das der TÜV in die Werkstatt schicken ließ. Jeder noch so kurze Moment hat einen anderen im Schlepptau, und je länger ein Leben dauert, desto mehr überlagern sie einander und umso schwieriger fällt es, sie auseinanderzuhalten.
Vielleicht wird auch deswegen im poetischen Werk von Jürgen Becker so fleißig geraucht: auf den über tausend Seiten seiner von der vier Jahrzehnte jüngeren Dichterin Marion Poschmann herausgegebenen Gesammelten Gedichte insgesamt 34-mal, was gemessen an den 69 Erwähnungen seiner Lieblingschiffre, der Pappel, eine ansehnliche Zahl ist. Die Zigarette als Inbegriff des Werdens und Vergehens in drei Minuten – und als Symbol eines Schreibens, das dem Zauber des ersten Mals nicht weniger nachspürt als der Genugtuung des hundertsten. „Eine Erinnerung wiederholt sich“, heißt es in seinem jüngsten Gedichtband Die Rückkehr der Gewohnheiten, „aber sie scheint sich / verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.“
Jürgen Becker, einer der letzten Überlebenden der Gruppe 47, ist der größte Erinnerungskünstler der deutschen Literatur. Auch dafür erhielt er 2014 den Georg-Büchner-Preis. Ein Schriftsteller, der als Erzähler und Hörspielautor, vor allem aber als Lyriker mit einem Faible für das Langgedicht die Mechanik von Bewusstseinsprozessen in Theorie und Praxis ergründet – und das mit einer Sinnlichkeit, die alles, was sie als innere Bewegung andeutet, ganz aus den Details der äußeren Welt gewinnt:
Später Sonntagnachmittag; still und warm
steht zwischen den Vogelbeeren die Luft. Das Summen
hinter den Büschen sagt mir, dass es
ein Jenseits gibt, von dem ich nicht mehr mitbekomme
als ein Geräusch.
Das Geheimnis von Beckers „Chronik der Augenblicke“ versteckt sich an der Oberfläche, und sosehr man sich auf ihr Zeiten und Räume im Handumdrehen eines Zeilenbruchs durchquerendes Wuchern einlassen muss, das wie das Wurzelwerk eines Baumes unter allen Hindernissen hindurchkriecht und jeden noch so sorgfältig verlegten Gehweg aufsprengt, so wenig Mühe kostet es, die Methoden und Perspektiven von Beckers Schreiben nachzuvollziehen. Die zumeist von ihm selbst (und manchmal von seiner früheren Lektorin Elisabeth Borchers) geschriebenen Klappentexte, die sich im Anhang zu den Gesammelten Gedichten finden, enthalten ein gutes Stück seiner Poetologie.
Der 90. Geburtstag, den er an diesem Sonntag wach und neugierig begeht, ist kein Alter für einen Schriftsteller, dessen Texte die Spuren eines ganzen Jahrhunderts und darüber hinaus festhalten wollen. Es zeugt zunächst nur von einem sich Jahr um Jahr weiter anreichernden Erinnerungsstoff, dessen persönliche wie historische Schichten der Autor nur Jahr um Jahr neu sortieren muss.
Zugleich bildet die eigene, durchaus zum Thema gemachte Endlichkeit, die größte Bedrohung dieser nach allen Richtungen offenen, tendenziell unendlichen Textgeflechte aus Protokolliertem und Assoziiertem.
Wie eh und je mischen sich die Nachrichten des Tages in Beckers hierarchielose Mitschrift des Wirklichen. Wo er einst den Wetterbericht des Tagesspiegels zitierte, finden heute die Pandemie und die postkoloniale Umbenennung von Straßen Eingang.
Gerade an den jüngsten Gedichten lässt sich aber ablesen, wie diese über sich und ihre Zeit hinauswollen:
– bis wohin
der Atem reicht und kürzer jeder Weg wird, wir
gehen, soweit wir kommen, erleichtert, kein Ziel
vor Augen zu haben.
Sie sind an ein Bewusstsein gebunden, das mit seinem Verlöschen rechnet, aber jede Zeile auch als Einspruch gegen den Tod versteht:
Die Zusammenhänge sind
wie Gestrüpp, das nicht aufhört, weiter
zu wuchern. Zum Entwirren brauche ich mehr Zeit,
als wir haben, unabhängig von Dingen wie Geld und
wie lange es reicht.
Mit zunehmendem Alter lässt Becker in seinen Gedichten auch erkennen, wie sehr sich Erinnerung erst im Schreiben bildet. Es ringt mit dem nur vage Erinnerten und halb Vergessenen und hat deshalb eine fiktive Seite. Schon im letzten Band Graugänse über Toronto hieß es:
Die Erinnerung an etwas, das in den Erinnerungen nicht vorkommt; Graugänse über Toronto.
Nicht auszuschließen ist auch, dass Becker die vermeintlich akkurate Erinnerung an Stellen Streiche gespielt hat, wo er es niemals vermuten würde.
Bei allem Sinn für die Überprüfbarkeit von Daten und Fakten, zeigt Becker jedenfalls, dass sich Tatsächliches und Imaginäres in den eigenen Erinnerungskammern oft nicht klar auseinanderhalten lassen:
Orte gibt es, die man erfinden muss
wenn man sie wiedersehen will
Im Wahrnehmungsgetriebe dieser Texte herrscht ein Hin und Her zwischen unterschiedlichen Instanzen. Es gibt ein unvermittelt autobiografisches Ich, das Becker als Einfallstor für die Konstruktion seiner Erfahrungsräume dient. Ein Du, mit dem es sich selbst anspricht oder ein Gegenüber sucht. Ein Wir, das sich als Teil einer Generation begreift. Ein Man, das schon auf eine überpersönliche Erfahrung zielt. Und ein von jeder bewusst handelnden Subjektivität freies Es, das oft nicht einmal als solches in Erscheinung tritt, sondern sich in passivischen Konstruktionen versteckt und den Dingen das Sagen überlässt: der schleichenden Veränderung von Landschaft und Stadtarchitektur, die er seit Jahrzehnten von seiner Wohnung in Köln und seinem Landsitz im Bergischen Land an „Odenthals Küste“ aus beobachtet.
Martin Oehlen: „Ich bin ein augenblicklicher Mensch“: Jürgen Becker stellt seine neuen Gedichtbände vor
buecheratlas.com, 15.6.2022
Michael Braun: Neue Bücher zum 90. Geburtstag des großen Lyrikers Jürgen Becker
Badische Zeitung, 10.7.2022
Peter Mohr: Prosa als fehlender Rest
literaturkritik.de, Julie 2022
Peter Neumann: Der Sound des Augenblicks
Die Zeit, 18.6.2022
Lothar Schröder: Warum steht die Natur nach wie vor im Zentrum poetischer Betrachtung?
Jürgen Becker: Es geht mir weniger um Natur als um Landschaft. Die Natur hat sich ja aus der Landschaft – jedenfalls aus der, in der wir leben – weitgehend entfernt. Die Landschaft am Rande der Städte ist die von mir bevorzugte, da, wo Vorstadt allmählich in Landschaft übergeht und wieder die nächste Stadt vorbereitet. All das, was in der Natur einmal vorhanden und für uns Menschen eine Alternative zu sein schien, hat sich verflüchtigt.
Schröder: Aber es geht ja nicht darum, eine Idylle zu suchen…
Becker: … es geht darum, zu erkennen, wie sich in der Landschaft auch Geschichte abbildet: die Geschichte der Menschheit, der Politik, der Kriege. Die Landschaft ist für mich eine Art Collage, in der sich verschiedene Zeitschichten entdecken lassen.
Schröder: Ist Dichtung mit diesem Blick auf die Landschaft dann auch politisch?
Becker: Natürlich trete ich nicht mit einem politischen Blick an die Landschaft heran. Ich versuche, sie elementar auf mich wirken zu lassen. Doch kommen dann sofort die Widersprüche zum Vorschein: Landschaft ist kein politikfreier Raum. Auch diese Spuren sehe ich.
Schröder: Ist in der Landschaft das Gedächtnis von uns eingeschrieben und festgehalten – und zwar auf andere Weise, als wir es in unseren Archiven dokumentieren?
Becker: Wenn man eine Wiese oder ein Waldstück einfach so betrachtet, könnte man den Eindruck haben, die Landschaft habe alles vergessen. Aber Landschaft ist immer wieder ein Produkt menschlicher Tätigkeit. Das muss man wissen. Die Dörfer der Kindheit gibt es nicht mehr. Und natürlich weiß man auch, warum das so ist; darüber brauche ich keine Gedichte zu schreiben. Mich interessieren die Reste, das Übersehene.
Schröder: Ist der Dichter in diesem Sinne ein melancholisch Erinnernder, der in seinen Versen Verluste permanent mit sich führt?
Becker: Für mich ist ein Gedicht immer ein Medium der Erinnerung. Das Gedicht entdeckt also immer etwas. Das muss sich nicht notwendigerweise melancholisch anhören; aber manchmal gesellt sich ein melancholischer Ton hinzu, wenn man Verschwundenes registriert und Trauer entsteht über all die Zerstörungen. Das sind aber nie Anklagen, Gedichte sind schließlich keine Manifeste. Ein Gedicht soll in erster Linie erst einmal einen Erinnerungsvorgang herstellen – in mir, der es schreibt, und in dem, der es liest.
Schröder: Sie sind dem Kölner Raum treu und verbunden. Was finden Sie hier, was anderswo möglicherweise nicht zu finden ist?
Becker: Heimat ist für mich ein sehr offener Begriff. Das Wort Heimat habe ich für mich lange mit einem gewissen Misstrauen verwendet. Heimat existiert für mich als feste Größe nicht; Heimat kann für mich überall sein. Ganz sicher ist Heimat etwas, wo erste Erfahrungen gemacht wurden und Wahrnehmungen entstanden sind, die sich gehalten haben. Das verbindet sich dann mit einem Ort, einem Haus, einer Straße. Das würde ich dann Heimat nennen. Heimat ist auch ein Raum von Gewohnheiten.
Schröder: Heimat hat dann für Sie nichts mit Identität zu tun?
Becker: Zumindest nicht auf Anhieb. Identität kann man herstellen und ist – weil es oft aus vielen Dingen zusammengesetzt ist – etwas sehr Widersprüchliches. Es ist auf jeden Fall nichts Gegebenes.
Schröder: Mit Ihrer Lesung wird das Poesie-Fest im Heine Haus eröffnet. Verändern sich Gedichte beim öffentlichen Vortrag?
Becker: Ein Gedicht entsteht in einer vollkommenen Isolation. Und das Vorlesen geschieht dann in aller Öffentlichkeit; und ich bin der Darsteller. Wobei ich weiß, dass das Anhören eines Gedichts ungleich schwieriger ist als das Lesen. Innerhalb eines Gedichtes passiert sehr viel; und das bekommt der Hörende selten mit. Diese Art der Kommunikation ist oft sehr oberflächlich. Ich kann nicht erwarten, dass der Zuhörer sofort weiß, was ich sage und was es bedeutet. Das ergeht mir selber so: Wenn ich einem Kollegen zuhöre, verstehe ich kein Wort. Ich muss ein Gedicht lesen.
Schröder: Sie werden an der Stelle von Heines früherem Geburtshaus lesen; was bedeutet Ihnen das Werk des weltberühmten Düsseldorfer Dichters? Hat seine Lyrik Einfluss auf Ihre Arbeit genommen?
Becker: Nein, überhaupt nicht. ich schätze seine Gedichte, aber das ist epochenweit entfernt von der Art, wie wir heute Gedichte schreiben. Und da gibt es auch keine Kommunikation. Ein Leitartikel in einer Zeitung hat auf mich mehr Einfluss als ein Gedicht der deutschen Romantik.
Heinrich Vormweg: Ein Poet in seinen Umgebungen
NRW literarisch, Heft 5, 1992
Walter Hinck: Vielleicht das letzte Glänzen: Sinfonien, Radiostimmen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.1992
Sabine Küchler: Die Entdeckung des „multiplen“ Ich
Der Tagesspiegel, 10.7.1992
Wolfgang Schirmacher: Geräusche, Gerüche und Signale
Rheinische Post, 8.7.1997
Armin Ayren: Die Wirklichkeit als Sprache
Stuttgarter Zeitung, 10.7.2002
Nico Bleutge: Erinnerungsreise
Süddeutsche Zeitung, 10.7.2002
Hannes Hintermeier: Der Landschaftsmaler
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.7.2002
Beatrix Langner: Selbstporträts mit dem Rücken zum Betrachter
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2002
Jochen Schimmang: Ockerfarben in Deutschland
Frankfurter Rundschau, 10.7.2002
Cornelia Geissler: Mit dem Rücken sieht man schlecht
Frankfurter Rundschau, 10.7.2012
Norbert Hummelt: Leise landen die Abendmaschinen
Neue Zürcher Zeitung, 10.7.2012
Lothar Schröder: Autor Jürgen Becker wird 80
Rheinische Post, 10.7.2012
Gisela Schwarz: Jürgen Becker wird 80 Jahre alt
Kölner Stadt-Anzeiger, 10.7.2012
Frank Olbert: In diesen neuen alten Gegenden
Kölner Stadt-Anzeiger, 10.7.2017
Peter Mohr: Prosa als fehlender Rest
literaturkritik.de, Juli 2022
Martin Oehlen: Jürgen Becker – zwei Bücher zum 90. Geburtstag: „Fast täglich hört eine Epoche auf“
Frankfurter Rundschau, 7.7.2022
Jens Kirsten: „eine Landschaft aus Erinnerungen und Imaginationen“
Palmbaum, Heft 75, 2022
„eine Landschaft aus Erinnerungen und Imaginationen“ – Der Dichter Jürgen Becker im Gespräch mit Wolfgang Haak und Jens Kirsten
Radio Lotte, 5.7.2022
Nico Bleutge: Der riesige Rest
Süddeutsche Zeitung, 8.7.2022
Michael Hametner: Jürgen Becker: „Ich habe nicht viel Phantasie“
der Freitag, 9.7.2022
Hans-Dieter Schütt: Das siehst du nie wieder!
nd, 8.7.2022
Michael Braun: Der große Lyriker Jürgen Becker wird 90 Jahre alt
Die Rheinpfalz, 8.7.2022
Gregor Dotzauer: Die Schatten des früher Gesagten
Der Tagesspiegel, 9.7.2022
Joachim Dicks: Jürgen Becker zum 90. Geburtstag
NDR, 10.7.2022
Thomas Geiger: Zeitmitschriften in Lyrik und manchmal auch Prosa
Berliner Zeitung, 8.7.2022
Herbert Wiesner: Von Altlasten und künftigen Katastrophen
Die Welt, 10.7.2022
Jürgen Becker: „Da wagt einer, mich zu verreißen? Das muss ich aber genauer wissen.“
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