DIE WELT IST UFF DIE HEFFEN KOMEN
(I)1
Und was wir alles sahen:
Licht bis kurz vor seinem Ursprung,
die massigen sternhaltigen Sehnen, die
die Galaxien zusammenschnüren
Und schickten Sonden hinaus
(hinein), sie zeigten uns:
die Überschallwinde des Neptun,
die Ringe des Uranus,
die Stickstoffontänen des Pluto
Und sind doch vollends ausgeliefert
den räuberischen und mörderischen Rotten
winzigster Nukleinsäuren…
Die Ausdehnung des Alls beschleunigt sich
entgegen der Bedeutung der Welt,
aus großer Höhe: Staubfugen, Qualmrillen,
was gebaut wurde in unseren Städten,
wie die rätselhaften Streifen
auf dem Eismond Europa
Mitleid braucht Nähe
Darum könnte ein Gott nicht weinen
(II)2
Und was wir alles sahen:
Früher oder später
überschreiten
ihr Haltbarkeitsdatum die Götter,
Bilder in unseren Spiegeln,
solange sie nicht zer-
brechen oder bis wir uns nicht mehr darin erkennen:
Chance, die Dinge und Seelen aufzuladen,
neue Verträge mit dem Atemverleih zu schließen
Aber es kreist die Rede bloß von Verfallszeit,
angefüllt mit unerfüllbaren Sehnsüchten,
mit dem Wunsch nach einem Anführer
der Zwietracht, auch Meister der Manipulation,
impotent nur nicht mit der eigenen Zunge,
gezuckert mit diskriminierenden Superlativen
in „großartiger und unver-
gleichlicher Weisheit“: Gehei & Gespötte,
das sich schneller verbreitet als die
bedächtigen Auffahrten der Schönheit
Die Geschichte war und ist eine Aneinanderreihung von Krisenzeiten. Jürgen Brôcans neuer Gedichtband Atemfrequenzen umspielt rhapsodisch ein Zitat aus Martin Luthers Tischreden (Weimarer Ausgabe) und enthält zahlreiche weitere Allusionen auf dessen Schriften, um vor der historischen Folie von Luthers Beitrag zur Mündigkeit des Menschen zu zeigen, dass das Krisenbewusstsein unserer Zeit nicht zwingend in Untergangsszenarien münden muss (wie nicht nur in der Reformation heraufbeschworen), sondern auch eine Chance ist, über die endlichen Schönheiten der oft schwer zu erkennenden, scheinbar unbedeutenden Dinge nachzudenken.
Ulrike Titelbach: „das Verschnaufen des Tunnelblicks“
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