AUSKÜNFTE ÜBER DIE WIRKLICHKEIT
Das Schwerste, was man tun kann, ist atmen,
weiteratmen, wenn sich die Nabelschnur
von Geburt an um die Kehle geschlungen hat,
gegen den Aufstand des Körpers, die bedröhnten
aaaaaSinne,
Schlitze in die Dunkelheit des Zimmers atmen,
in die Korkhaut, mit der sich die Wände maskieren,
damit der einzige Lärm das eigene Rasseln ist.
So gefangen erstehen die Augenblicke auf,
die man ausschreitet, jede Einzelheit unter der Lupe
oder an den Rand des Stillstands verlangsamt,
im Panorama bestaunt, als das Automobil
Lichtscharten in den Abend schnitt
und der Hochwald der Säulen sich erhob,
das Gebirge der Kathedrale schickte Gipfel ins Blaue,
ehe sie zur leeren Muschel entleerter Zeit wurde,
das Chorgestühl in der Hand des Schnitzers
wie Lehm, wie Seide gefaltet, wie treibende Zweige,
springende Flammen, Baldachin auf Baldachin,
Fiale über Fiale, eine Lichtung, blattreicher
als Wälder, geschichtlicher als Bücher,
und die in der Morgensonne erst aufglühenden,
dann schmelzenden Farben der Lanzettfenster bringen
die Freuden der Tage zurück, auf die Isolierstation.
werden die herb schmeckenden Urformen der Äpfel genannt, herb sind auch die Gedichte der neuen Sammlung von Jürgen Brôcan, die in sieben Zyklen immer wieder auf die älteren Traditionen der Dichtung verweisen, essayistische Elemente einbeziehen und Reviere des Ruhrgebiets ebenso durchforsten wie Reiseberichte aus Südamerika oder Australien. Eine spannende Welterkundung.
Edition Rugerup, Klappentext, 2015
– In seinen neuen Gedichten spürt Jürgen Brôcan den Dingen des Alltags ebenso nach wie einem vergessenen Komponisten oder den Bildern berühmter Maler. –
„Route dégradée“ ist ein viel
schöneres Wort als
Strassenschäden
so beginnt eines von Jürgen Brôcans Gedichten. Die sprachliche Differenz, die bei einer Fahrt durch Belgien registriert wird, scheint eher beiläufiger Natur zu sein, entpuppt sich aber als wichtig. Sie wird im Folgenden fruchtbar gemacht und leitet über zu dem Bild einer Landschaft, die historische Spuren trägt und geprägt ist von Veränderungen. Jürgen Brôcan ist leidenschaftlich gerne zwischen Sprachen unterwegs, als Leser, als Übersetzer und auch als Lyriker. Als Skeptiker zudem gegenüber den Worten:
Schuppenflügler
ist ein allzu rauhes Wort,
schöner wäre Staubschwinge
heisst es im Gedicht „Sommervogel“.
Von seinem wachsamen Blick auf die Sprache zeugen viele Texte in Jürgen Brôcans jüngstem Gedichtband. Holzäpfel heisst er, was erstaunen mag, denn bei diesem Wort denkt man zunächst an kleine Früchte, in die man kaum herzhaft hineinbeissen mag. Etwas Widerständiges haben sie denn auch bisweilen, diese Gedichte, und mitunter verlangen sie eine vorsichtige, langsame Lektüre. Was man dabei bewundern kann, ist eine eindrückliche Vielfalt an Möglichkeiten des lyrischen Ausdrucks, thematisch wie formal, in den Motiven wie im sprachlichen Gestus.
Die Gedichte widmen sich dem Kleinen, Unscheinbaren, Momenthaften genauso gern wie beispielsweise einem weitgehend vergessenen Komponisten, Felix Draeseke in diesem Fall, der mit seiner Zeit im Hader lag, gern polemisierte und mit einigen markigen Worten zitiert wird. Es gibt in anderen Versen Bezüge zur Malerei, etwa zu Caspar David Friedrich oder John Constable. Auf Filme wird angespielt, auf Fotografien, etwa von Charles Marville. In einem Monolog tritt gar der Fotograf Eadweard Muybridge auf, und einmal – das Gedicht collagiert Textstellen aus seinen Briefen – wäre es um Schubert beinahe geschehen, würde er nicht dauernd bedrängt von Streichern und Oboen, denen er Platz einräumt in einer Partitur. In einem Gedicht über Buxtehude wiederum nehmen die Verse die eher ungewöhnlichen Fachbegriffe des Orgelspiels auf und erweitern die sprachlichen Register der Lyrik. Daneben führen Brôcans Gedichte in die Natur, skizzieren einen Gedanken oder gehen auf Reisen, quer durch die Welt, meist lebendig und verspielt.
Dabei führt Brôcan ein weit ausholendes, reich instrumentiertes Gespräch mit vielen lyrischen Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten und Sprachen. Da zeigt sich der erfahrene und belesene Lyrikübersetzer mit grosser Kenntnis der Überlieferung. Die Zitate und Anspielungen lenken in überraschende Richtungen und machen bekannt mit Gedichten und Dichtern. Sie zeigen zugleich, wie viel aus Gedichten zu erfahren ist – und wie viel darin Platz hat.
Jan Kuhlbrodt: Was draußen ist
signaturen-magazin.de
Monika Vasik: Echoräume
fixpoetry.com, 25.11.2015
DIE SCHÖNHEIT
für Jürgen Brôcan
Die Schönheit blitzt auf eine Fahrradklingel lang
im Gesicht des kleinen Mädchens unter der Strickmütze
rosa und rot ein einziger Zahn. Ein Gefühl hängt daran
kneift die Augen zusammen, Händchen, der Bommel lacht.
Dahinter krümmt sich eine Backsteinmauer
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaains Sonnenlicht.
Ich weiß Schönheit das lässt sich nicht
teilen nicht verstecken vor der Inflation.
Wir werden alle älter. Die Schönheit
wächst in den Himmel.
Unsere Zeit tropft auf ihre Blätter unaufhaltsam.
Aber wenn ich hier ansetze von ihr zu sprechen
dann rede ich von dem Atem der
über die unblitzblanken Dächer aufsteigt und
sich im Himmel verliert welcher ihm irgendwie gleicht.
Meine Füße stehen im Schnee. Hände friern. Manches sieht man
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaamanches hat man gesehen.
Timo Brandt
Im Gespräch: Timo Brandt redet mit dem Autor Jürgen Brôcan
Die Dankesrede des Dortmunder Autors Jürgen Brôcan zur Verleihung des Literaturpreises Ruhr 2016 in Gladbeck.
Kristian Kühn im Gespräch mit Jürgen Brôcan am 16.8.2024
Jürgen Brôcan liest den Gedichtzyklus HALDENHUB am 20.2.2022 im Museum für westfälische Literatur – Kulturgut Haus Nottbeck.
Schreibe einen Kommentar