Jürgen Brôcan (Hrsg.): SEHEN heißt ändern

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Brôcan (Hrsg.): SEHEN heißt ändern

Brôcan (Hrsg.)-SEHEN heißt ändern

ALMANACH

Der Hammer traf meinen Nagel, anstelle des Nagels.
Ein Mond zuckte ins Dasein. Omenschwarz
begann er seine Bahn. Aufgegangen am Horizont
meines Daumens (nicht länger taub und bläulich),
nahm er gelb zu und als Streifen ab, der jetzt weiß
untergeht, hier am Rand, den ich heute nacht schnitt. 

Verschwinden ließ ich ihn, markierte aber seine Reise
über meinen kleinen ovalen Himmel, der wieder
wolkenlos und rosa und klar ist. Im dunklen
Quadratzentimeter dieses Mondes, bevor er eintraf
an meiner Nagelspitze, tauchte ein unbemanntes
Luftschiff 200 Meilen nach dem Saum des Alls
und verpuffte. An der Stätte von Pharao Cheops’
Grab (mein Vollmond schwamm nun gelb) kam
ein Boot, das die Seelen zur Sonne übersetzte,
in einer 5000 Jahre versiegelten Kammer ans Licht. 

Da er das Weiße erreichte, nahm dieser Mondfleck ab
in einem verregneten April. Auf der anderen Straße
kroch eine Ranke 14 Fuß an Ziegeln hoch. Und
Einstein (der sagte, es gibt keinen festen Bezugs-
punkt im Universum) wandelte sich mit 77 zum Geist. 

May Swenson

 

 

 

„Ich will mit meiner wahren Stimme sprechen!“

– Einige Notizen zur amerikanischen Dichtung von Frauen. –

Einfache Worte, wunderbare Frösche –
Nimm Maß, dann bedränge jeden Ausdruck,
Den du zu packen bekommst.

Carol Tinker: „Die Kunst der Dichtung“

Frauen-Dichtung
„Wenn zum Beispiel eine Dichterin darüber Gedichte schreibt, wie sie ihren weiblichen Körper fühlt, wie es ist, die Menstruation zu haben, wie es ist, wenn ein Mann in sie eindringt, wie es ist, ein Kind auszutragen, zu gebären und es mit der Brust zu stillen, kommt das Sujet direkt aus ihrem Geschlecht [gender]; aber es ist die Struktur des Gedichts, die Qualität seiner Bilder und Diktion, seiner Details, seiner klanglichen und rhythmischen Gesamtheit, die bestimmt, ob es ein Gedicht ist oder nicht – ein Kunstwerk“, stellte Denise Levertov in ihrem Essay „Genre and Gender vs. Serving an Art“ (1982) gleichsam programmatisch fest. An anderer Stelle sprach sie sich entschieden dagegen aus, das Gedicht als ein Medium der Selbstverwirklichung zu mißbrauchen. Sie sah in ihren Überlegungen zur Organischen Form, die in den USA längst den Status eines poetologischen Klassikers haben, vor allem die Zeilenlängen, Zeilenbrüche und Zeilenpositionen als eine Möglichkeit der Wahrnehmung und der Aneignung von Realität im Prozeß des Schreibens mit allen Wendungen und Windungen des Bewußtseins. Das bedeutet: Im Gedicht kann alles Platz finden, die sinnlich erfahrbare Welt ebenso wie das persönliche Erleben, wenn es gestaltet ist, freilich nicht in vorgefertigten Strukturen, die bloß gefüllt werden müssen, aber doch stets so, daß das Gedicht generalisierbar ist und Geschlechtszuweisungen transzendiert.
Im ersten Moment mag ein solches Statement erstaunen, wenn man bedenkt, daß Levertov eine ungewollte Rolle mit dem Etikett America’s foremost contemporary woman poet in der von Männern dominierten Literaturszene übernahm und daß ihr erst spät bewußt wurde, in welchem Maß ihr erster Erfolg, in Publikation und Rezeption, von einer maskulin normierten Tradition abhing: „Was ich nicht wahrgenommen hatte, war, daß ich, ohne es zu merken oder zu begreifen, von einer Gruppe oder von einzelnen männlichen Dichtern stillschweigend erwählt wurde als die Ausnahme, die die Regel bestätigt“, bemerkte sie in einem Gespräch. Sie hat es stets entschieden abgelehnt, als „poetess“, als Dichterin, bezeichnet zu werden. Ihre problematische Situation steht, mit individuellen Einschränkungen, stellvertretend für viele schreibende Frauen: Sie wollte ihre persönliche Erfahrung – als Dichterin, Hausfrau, Mutter und politische Aktivistin – einbringen, sich andererseits aber nicht völlig von der Frauenbewegung vereinnahmen lassen. Ihr emanzipatorischer Schreibakt bestand darin, daß sie ihre Schwierigkeiten mit bestimmten Rollenzuweisungen thematisierte, ohne diese Rollen von vornherein grundsätzlich infrage zu stellen; darin, daß sie das Schreiben zu einem Akt der (sexuellen) Gleichberechtigung machte, in dem die Stärke der Frau innerhalb der Gesellschaft beschworen wird. Levertovs Kritik richtet sich denn auch weniger gegen bestimmte Normen, als gegen jene Frauen, die diese Normen unreflektiert akzeptieren (vgl. „Heuchlerinnen“).
Ein Blick auf das Werk der in der vorliegenden Anthologie versammelten Dichterinnen zeigt schnell, daß eine Reduzierung auf ,Emanzipation von männlichen Autoritäten‘ ebenso viel zu kurz greift wie das Schlagwort vom ,weiblichen Schreiben‘, das sich angeblich fundamental von den Prinzipien einer ,männlichen Dichtung‘ unterscheide. Dennoch bleibt es Faktum, daß viele Dichterinnen ihr Schaffen explizit – expliziter als Levertov – in der Absage gegen den Literaturbetrieb der Männer verorteten oder zumindest eine deutliche Gegenposition bezogen. „Sie muß lernen, wieder zu sprechen / beginnend mit Ich / beginnend mit Wir“, lautet eine Zeile aus einem Gedicht der hier nicht vertretenen Marge Piercy, denn gerade dieses ,Wir‘ ist es, das – Adrienne Richs „In jenen Jahren“ zufolge – verloren ging. Muriel Rukeyser bekennt unverblümt:

… ich schreibe aus dem Körper, dem weiblichen Körper.

Ihre „Nine Poems for the Unborn Child“ (1948) gehören zu den ersten amerikanischen Gedichten, die sich mit Schwangerschaft, Geburt und der Rolle der alleinerziehenden Mutter befassen. Anne Sexton hat dann furchtlos weitere Tabuthemen aufgegriffen: Abtreibung, Menstruation, Masturbation, gynäkologische Untersuchungen, manchmal in sehr bildhafter Form, wie in ihrem Gedicht „Schlange“:

Geschaffen aus alten Zungenfetzen,
aus Fleisch, das durchs Messer des Abtreibers glitt –
Schlangending, geschaffen aus einem Traubenheer,
wie listig suchst du deinen Weg ins und aus
dem Gras und hoch oben in den Baum.
Was kann ich mit dir anfangen, mit meinen Hinkeschritten?
Gehen wir gemeinsam?
Bloß über Evas Schlange,
die ich meinem Mann
immer wieder zeigte und sagte:
Verwenden wir sie zu irgendwas,
verleiben wir uns diese Schlange ein wie eine Zigarre
und gestatten unserer Behaarung, grün
vor Neid zu werden.

Adrienne Rich entwirft eine sehr viel positivere „female aesthetic“, in der der weibliche Körper zur Metapher einer die Welt verwandelnden, wiederherstellenden Lebenskraft wird; in ihrer aggressiven mittleren Schaffensphase ist für sie sogar eine Welt ohne männliches Prinzip denkbar (vgl. ihren Zyklus „Natural Ressources“).
Weisen diese Gedichte, die unter einem klar formulierten, feministisch ästhetischen Anspruch entstanden, tatsächlich spezifische Sprach– und Formstrukturen auf? Nimmt das Thema Emanzipation, wie vielleicht zu erwarten, wirklich einen breiten Umfang im jeweiligen Gesamtwerk ein? Carole Oles und Hilda Raz haben die Antwort in ihrem Aufsatz „The Feminist Literary Movement: 1960–1986“ auf den Punkt gebracht:

Feminismus ist keine literarische Bewegung. Sie ist eine Bewegung des Lebens [a life movement] mit literarischen Folgen für jedes Werk, das das Leben zum Gegenstand hat.

Daß sich viele Dichterinnen so weit als möglich von den Konventionen und Zwängen einer männlich normierten Gesellschaft freigemacht haben, steht außerhalb der Diskussion. Doch feministische Dichtung ist nicht bedeutungsgleich mit ,femininer Dichtung‘, von Frauen geschriebener Dichtung: Eine thematische Präferenz ist – soweit man es nach Durchsicht der Texte beurteilen kann – bei den meisten Autorinnen, selbst bei mancher strikten Feministin, in der Regel nicht entstanden, im Gegenteil, die kritisch hinterfragte Rolle der Frau nimmt zwar einen prominenten, aber verhältnismäßig schmalen Raum ein.
Dies dürfte kaum mit einem stillschweigenden Einverständnis oder einer Anpassung an bestimmte Normen zu tun haben, wie der Vorwurf in der Sekundärliteratur lautet, dagegen spricht zu sehr die kraftvolle Stimme dieser Dichtung in sozialen und politischen Angelegenheiten, eine Stimme, die oft entschiedener und eindrücklicher als die der männlichen Kollegen ist. Engagement oder zumindest klare moralische Verantwortlichkeit zeichnet das Werk der amerikanischen Dichterinnen aus. Muriel Rukeyser, Denise Levertov, Adrienne Rich protestierten vor allem in den 60er und 70er Jahren gegen den Vietnamkrieg, gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung von Minderheiten, gegen atomare Aufrüstung und ökologische Zerstörung. Auch Amy Clampitt sah man 1971 vor dem weißen Haus gegen den Vietnamkrieg demonstrieren; sie trat aus ihrer Kirche aus, weil sie meinte, deren Führer widersprächen diesem Krieg nicht entschieden genug. Völlig unverhüllt zielt manche soziale Kritik direkt auf die ,Welt der Männer‘, wie Piercys „Rape Poem“ oder Richs „Rape“. Doch die Unterdrückung und Schändung des Körpers muß nicht nur bestialisches Eindringen sein, sie kann buchstäblich an der Oberfläche bleiben. Mit unüberhörbarer Ironie und starkem Selbstbewußtsein verkündete Lucille Clifton in „mein traum vom weißsein“:

hallo musik und
ich
ganz weiß,
die haare flattern wie
herbstlaub,
umrahmen meine perfekte
nasenlinie,
keine lippen,
kein hintern, hallo,
ich bin weiß
und trage
die weiße geschichte,
aber zukunft gibt’s keine

in diesen kleidern,
also zieh ich sie aus
und wache auf
und tanze.

Durch solche Töne boten die Lyrikerinnen der amerikanischen (und natürlich von Männern federgeführten) Kritik, die strikt zwischen ,guter‘ und politischer Lyrik – die man als Polemik und Ästhetikverlust ansah – trennte, eine willkommene Zielscheibe.
Daß die Dichtung amerikanischer Frauen sich nicht auf das Thema Emanzipation beschränkt, spricht vor allem für ihre Vielseitigkeit, für ihre Offenheit, für ihre Wachheit. Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß schriftstellernden Frauen in den Vereinigten Staaten keineswegs die gleiche Bedeutung zugebilligt wurde wie ihren Herren Kollegen. Unter den 43 Dichtern, die seit 1937 zum Poet Laureate ernannt wurden, die höchste Ehrung für einen amerikanischen Dichter, befanden sich nur 9 Frauen. [Dieses Amt hieß von 1937 bis 1986 „Consultant in Poetry to the Library of Congress“ und wurde nach einem Beschluß des Kongresses ab 1986 in „Poet Laureate Consultant in Poetry“ umbenannt.] Als erster farbiger Dichterin wurde Gwendolyn Brooks von 1985–86 dieser Titel verliehen, Rita Dove nahm diese Ehrung dann von 1993–95 an. Skandalös und aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar sind auch andere Vernachlässigungen: Barbara Guest beispielsweise, die seinerzeit einzige Vertreterin der New York School, wurde offenbar mit Bedacht aus einer wichtigen, diese Richtung dokumentierenden Anthologie ausgeschlossen. Erst Anthologien neueren Datums, etwa die American Poetry, in bislang vier Bänden bei der wunderbaren Library of America erschienen, würdigen den Beitrag amerikanischer Dichterinnen und stellen ein angemessenes Gleichgewicht her.
Alica Suskin Ostriker sprach mit Recht von einer „außergewöhnlichen Flut an Dichtung von amerikanischen Frauen in unserer Zeit“. Von der imagistischen Amy Lowell bis zur formal traditionellen Edna St. Vincent Millay, von der futuristischen Mina Loy bis zur surrealistischen Jayne Cortez, von Adrienne Rich bis Audre Lorde, von den Sprachexperimenten Gertrude Steins bis zum Sprachmaterial Barbara Guests erstreckt sich dieses Spektrum dichterischer Möglichkeiten und Erfassungen der Wirklichkeit. Selbst eine arrivierte Science-Fiction-Autorin wie Ursula K. LeGuin hat mehrere durchaus respektable Gedichtbände veröffentlicht. Im Rückblick auf das erst kürzlich vergangene Jahrhundert scheint es, als habe die Literatur von Frauen in Amerika eine eigene Tradition innerhalb der Tradition herausgebildet, nicht völlig von ihr getrennt, sondern vielmehr parallel verlaufend, mit vielen Knoten- und Berührungspunkten.
In Deutschland ist die amerikanische Lyrik, trotz eines aufkeimenden Interesses in den fünfziger und sechziger Jahren, nur schlaglichtartig wahrgenommen worden, wobei die Stimmen der Frauen erst im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts allmählich – schwerfällig – in den Mittelpunkt gerückt sind. Dabei gibt es kaum eine ,Nationalliteratur‘ (der Begriff mag an dieser Stelle erlaubt sein), die von einer solch fruchtbaren Vielfältigkeit, einem kreativen Impetus, einer selbstreflexiv-programmatischen Untermauerung zeugt, wie die amerikanische seit dem Beginn der Zwanziger Jahre. Die vorliegende Anthologie hofft, hier Impulse für Entdeckungen setzen zu können; daß sie auf die Dichtung von Frauen fokussiert ist, hat keine ideologischen Gründe, außer dem einen: auf die sträfliche Vernachlässigung eines enormen Fundus guter Texte aufmerksam zu machen. 

Korrespondenzen, Formen & Themen
Seit dem zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts suchten die amerikanischen Dichter nach einem spezifisch amerikanischen Idiom. Unter dem Einfluß vor allem William Carlos Williams’ und seines Objektivismus distanzierte man sich vom New Criticism, dem man den Akademismus einer metrisch vorgegebenen und semantisch-thematisch abgeschlossenen Form der Lyrik vorwarf, und wandte sich gegen Eliot und Yeats, mit anderen Worten: gegen den als überholt geltenden englischen Vers. Später griff der Black Mountain Kreis diese Vorstellungen auf. Nicht mehr Ideen sollten wesentlich sein, forderte Charles Olson in Anlehnung an Williams’ berühmte Sentenz „Keine Ideen außer in Dingen“, sondern Handlungen und Dinge, deren Darstellung denotativ sei und ohne symbolische Sprachfiguren auskomme. Olsons Projektiver Vers, die „Feldkomposition“, beruhte auf der Vorstellung, daß die einzelnen Elemente des Gedichts sich gegenseitig bedingen und daß „eine Wahrnehmung sofort und direkt zur nächsten Wahrnehmung führen muß“: das Gedicht unterliege auf diese Weise einem offenen Prozeß, der sich keinem festgelegten Schema mehr unterwerfe und die Eigengesetzlichkeit eines jeden Gedichts berücksichtige. Robert Creeley variierte Williams’ Sentenz:

Form ist niemals mehr als eine Ausdehnung des Inhalts.

Und Denise Levertov spitzt das ganz im Sinne ihrer eigenen Ästhetik zu: „Form ist niemals mehr als eine Offenbarung des Inhalts“ und die Wahrnehmung der Außenwelt nicht von psychischer Verfaßtheit und Aufnahmebereitschaft zu trennen. Selbstverständlich existierten daneben andere Richtungen, andere Schulen, deren Dichterinnen und Dichter abweichende Vorstellungen vertraten. Ihnen allen ist aber die Suche nach einem amerikanischen Sound und die Bindung an Erleben und Realität gemeinsam.
Von den Dichtern, die mit dem Black Mountain College in Verbindung standen, dürfte Hilda Morley den emanzipiertesten Umgang mit Olsons Theorie vom Projektiven Vers erreicht haben – auch wenn Denise Levertov im Vorwort zu einem von Morleys Büchern behauptet, „ihre Dichtung manifestiert den wahren Sinn des oft mißbrauchten Konzepts der ,Feldkomposition‘.“ Morley verbrachte mit ihrem Mann, dem emigrierten deutschen Komponisten Stefan Wolpe, vier Jahre lehrend am Black Mountain College. Hier entspannen sich lebhafte Diskussionen zwischen ihr und den anderen Autoren, und es ist nur selbstverständlich, daß die intensive Auseinandersetzung mit Olsons Ideen über Raumaufteilung, Zeilenbrüche und Atemlängen in ihren eigenen Gedichten einen Niederschlag fand. Morley trat lange Zeit hinter die musikalische Arbeit ihres Mannes zurück, so daß nicht einmal enge Bekannte von ihrer Dichtung erfuhren. Der größte Teil von Morleys Texten – sämtlich nach Wolpes Tod veröffentlicht – ist geprägt von Trauer und Einsamkeit, von einer Liebe, die erst den Verlust in seiner Tiefe auslotet. Andere Gedichte Morleys beschreiben die umgebende Welt und feiern das Sichtbare: Bäume, Wolken, Straßen sind wiederkehrende Motive. Ihr Weg aufs Papier aber führt stets über das schreibende Subjekt – sei es als Erinnerung, als Wunsch oder als erlebte Gegenwart –, das sie durch die „losschnellende herabstoßende Bewegung des Geistes“ findet. Morleys Ton ist emotionaler als der sachliche Ton Olsons, ihre Zeilenbrüche aber sind flexibler, mehr dem syntaktischen Fluß als dem Atem angepaßt. Insofern steht Hilda Morley in Haltung und Konzept Denise Levertov näher als anderen Black Mountain Dichtern.
Man kannte sich, man schätzte sich, man widmete einander Gedichte, zitierte sich gegenseitig oder schrieb Vorworte füreinander. Aber selten sind die Freundschaften von solcher Zuneigung geprägt wie in der beinahe mütterlich-töchterlichen Beziehung von Marianne Moore und Elizabeth Bishop – die ihrer älteren Freundin in ihrem Gedicht „Invitation to Marianne Moore“ zärtlich zurief:

Aus Brooklyn, über die Brooklyn Bridge, bitte komm an diesem hellen Morgen geflogen.

Marianne Moore, im persönlichen Bereich nicht unbedingt eine Kämpfernatur, obwohl sie mit den amerikanischen Suffragetten für das Frauenwahlrecht stritt, kritisierte durchaus scharfzüngig Gedichte von Williams, Pound und Eliot, die sich für ihr Werk eingesetzt hatten. In ihrem Modernismus standen Moores Gedichte damals sicherlich fast einzigartig da und zeugen von ihrem unbedingten Formwillen, dessen Spuren noch bis in unsere Gegenwart reichen. Wie früh Moore, nach anfänglich eher epigonalen Versen, ihren eigenen Ton fand, dokumentieren, zwischen 1916 und 1919 entstanden, „Feed Me, Also, River God“, „Roses Only“ und „Dock Rats“, die Moore später einer Aufnahme in Sammelbände und ihre alles andere als vollständigen Complete Poems von 1967 bedauerlicherweise nicht mehr für würdig befunden hat.
Amy Clampitt, die erst mit über Sechzig ihren ersten größeren Gedichtband veröffentlichte, hat das Erbe Marianne Moores, wenn auch mit zeitlichem Abstand, wohl am unmittelbarsten angetreten. „Was muß ein Schriftsteller wissen?“, fragte Amy Clampitt in einem ihrer Essays und antwortete darauf:

Was schließlich zählt, ist nicht das Wissensgebot, sondern die Begleitung. Es sind die Vorgänger. Ich weiß nicht, wo ich als Schriftstellerin ohne sie wäre.

Sie war von enormer Belesenheit, die offen in ihre Gedichte einfloß, sie war an der Beobachtung von Tieren – vor allem Vögeln –, von Blumen und Landschaften interessiert und schrieb Sätze von wahrhaft barocker Fülle und labyrinthischer Wortmächtigkeit. Clampitts Dichtung ist eine Ehrung der Dinge. Mit feinem Sensorium und scharfer Beobachtungsgabe wendet sich Clampitt dem zu, was das Alltagsauge oft übersieht, und läßt die Welt gleichsam aus Worten auferstehen. In einem Essay begründet sie ihre Haltung wie folgt:

Was ich, als Autorin von Lyrik, aus meinem besonderen Blickwinkel sehe, ist ein Komplott rundherum, den Sinn lebendigen Fortbestands zu vernichten, die Einzigartigkeit zu zerstören, alles, was nicht von erkennbarem Nutzen ist, zu beseitigen und im weiteren Verlauf das gewöhnliche Leben von Tag zu Tag so langweilig wie irgend möglich zu gestalten.

Für sie „wäre es ein furchtbarer Verlust, in einer Welt zu leben, die keinerlei Notiz nimmt von der Wanderung der Gänse oder den Flügen der Hühnerhabichte, Merline, Turmfalken“. Clampitts Gedichte führen, oft abrupt und mittels überraschender Metaphern und origineller Wendungen, von einem Objekt zum nächsten, ohne deren inneren Zusammenhang unmittelbar zu enthüllen. Solche Textstrukturen erinnern an jene naturhaften Prozesse, die zu Clampitts bevorzugter Bildlichkeit gehören: die sich verzweigenden Triebe der Pflanzen und die Schichtungen von geologischen Formationen. Geprägt von ihrer Kindheit auf einer Farm im Mittleren Westen, greift sie vielfach auf solche Naturbilder zurück, um die Komplexität und Verschiedenartigkeit einer Welt in ständiger Bewegung darzustellen. In Clampitts Dichtung sind die Phänomene wie durch ein grosses Netz miteinander verwoben, „Alles hängt zusammen“, heißt es in einem Gedicht. Eine solche Beherrschung der Form unter Zurückhaltung des eigenen Ich charakterisiert auch die Werke Louise Bogans, die – sehr konsequent – die Bekenntnisdichtung eines Robert Lowell oder eines John Berryman als ,geschmacklos‘ empfand.
Amy Lowell war zunächst vom Imagismus Ezra Pounds beinflußt, zerstritt sich aber mit ihm über die Definition des imagistischen Bildes und über die Führerschaft dieser Bewegung. Sie entwickelte, vor allem in ihren längeren, erzählenden Gedichten, eine „polyphonic prose“, das heißt eine Vermischung von metrischen und freien Versen. Ihre Form war modern, auch wenn ihre inhaltlichen Vorstellungen eine Affinität zur „Romantischen Konvention“ (David Perkins) haben mögen – für sie selbst gewiß kein Widerspruch, erachtete sie doch John Keats, über den sie eine zweibändige Biographie schrieb, als einen Vorläufer des Imagismus. Amy Lowell wird heute als die erste Dichterin angesehen, die sich als Teil einer weiblichen Literaturtradition betrachtet, wovon ihr langes Gedicht „The Sisters“ aus dem Band What’s O’Clock ein beredtes Zeugnis ablegt: Hier werden Sappho – sie schreibt stets Sapho –, Elizabeth Browning und Emily Dickinson angerufen. Auch wenn die Konventionen Lowell davon abhielten, ihre lesbische Liebe unverhüllt in ihren Gedichten zu beschreiben, läßt sich manchem Gedicht eine solche Lesart verleihen, etwa „Venus Transiens“, das sich allerdings im Kontext – einem Gedicht-Wechselgesang zweier Liebenden – einer eindeutigen Rollenzuweisung entzieht.
Lorine Niedecker war zunächst ebenfalls vom Imagismus Ezra Pounds beeinflußt, rückte dann aber in die Nähe von Louis Zukofskys Objektivismus. Niedecker beschreibt oft ihre nächste Umgebung auf Black Hawk Island, so daß sie – auch wegen ihrer sparsamen, nüchternen Sprache – sogar in Zusammenhang mit den alten chinesischen Dichtern gebracht wurde. Sie selbst nennt ihre Dichtung Condensery, Eindampferei, was durchaus mit der imagistischen Vorstellung von einer „harten und klaren“ Dichtung und vom „exakten Wort“ übereinstimmt.
In ihrem Essay „The Poet in the World“ meint Levertov, die Aufgabe der Dichtung sei es, „nicht Antworten zu verdeutlichen, sondern die Existenz und das Wesen der Fragen“. Aus der Vielfältigkeit der Themen kristallisieren sich einige stets wiederkehrende Motive und gestalterische Zugänge heraus. Die amerikanische Lyrik ist wirklichkeitsbezogen und auf Beobachtungen aus dem Alltag konzentriert. Observations nannte Marianne Moore programmatisch ihren ersten Gedichtband, in dem sie in einer hochartifiziellen Form alltägliche Dinge schilderte, die sich auch als poetologische Groß-Metaphern lesen lassen. Die Dichterinnen der späteren Generationen kultivieren dagegen eher eine in ihrer scheinbaren Schlichtheit wiederum kunstvolle, oft mit leichter Ironie konterkarierte Nüchternheit. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist Elizabeth Bishops berühmtes Gedicht „Fünf Aufschwünge“:

Noch dunkel.
Der unbekannte Vogel sitzt auf seinem üblichen Ast.
Der kleine Hund von nebenan bellt, nur einmal,
neugierig im Schlaf.
Vielleicht erkundigen sich in ihrem Schlaf auch die Vögel
einmal oder zweimal trällernd.
Fragen – falls es das ist, was sie sind –
gerade und einfach vom Tag
selbst beantwortet.

Gewaltiger Morgen, wuchtig, überscharf;
graues Licht streift jeden nackten Ast,
jeden einzelnen Zweig an einer Seite entlang,
erschafft einen andern Baum, aus gläsernen Adern…
Still sitzt der Vogel dort. Jetzt scheint er zu gähnen.

Der kleine schwarze Hund rennt im Hof herum:
Die Stimme seines Besitzers erhebt sich streng:
„Du solltest dich schämen!“
Was hat er getan?
Fröhlich springt er auf und ab;
hetzt in Kreisen durchs gefallene Laub.

Offensichtlich hat er kein Schamgefühl.
Er und der Vogel wissen, daß alles beantwortet ist,
daß für alles gesorgt wurde,
unnötig, noch einmal zu fragen.
– So leicht das Gestern ins Heute gebracht!
(Ein Gestern, das ich fast unmöglich zu tragen finde.)

Einen solchen Blick auf Dinge und Situationen des Alltags finden wir in Rita Doves „Liebäugelei“, in dem prägnante Details zu einem Bild von starker Bedeutungshaltigkeit und Diesseitszugewandheit gefügt werden. Dagegen mehr sozialkritisch präsentiert sich Mirjam Vermilyas „Maximal zehn Artikel“: Eine junge Frau – das englische girl läßt ihr Alter offener als notgedrungen die deutsche Übersetzung – steht vor der Entscheidung, welche von zwei Apfelsorten sie kaufen soll, und verzichtet schließlich auf beide. Muß sie sich, vielleicht eine alleinerziehende Mutter, aus finanziellen Gründen auf zehn Artikel beschränken? Oder verzichtet sie auf die Äpfel, um die Schnellkasse zu nutzen? Der raffinierte Titel läßt beide Deutungsmöglichkeiten zu.
Die Natur; Der menschliche Geist und deren Verknüpfung Die Poesie/Das Schreiben: diese thematische Triade durchzieht – geschlechtsunabhängig – wie ein roter Faden die amerikanische Dichtung; und die Häufigkeit ihres Vorkommens ist auffallend. Von allen Naturansichten hat das Meer die stärkste sinnliche Anziehung und Symbolkraft. Mary Barnard beschreibt eine Szene am Strand in Metaphern über die Unsicherheit und Vergänglichkeit unseres Daseins; May Swenson betont die Schöpferkraft des Meeres, eine Naturgewalt, die einreißt und zugleich immer neu bildet; Amy Clampitt, in ihrer minuziösen Benennung an die beinahe wissenschaftliche Analytik der großen Meeresgedichte von A.R. Ammons erinnernd, sieht das Meer, das immer wieder Rückstände preisgibt und an Land spült, als Metapher für die Tätigkeit des Bewußtseins, durch Staunen und Veränderungen voranzukommen. Ganz und gar desillusionierend ist Laura Ridings „Meer, falsche Philosophie“, das hier nicht aufgenommen werden konnte und mit den Worten beginnt:

Allererste der falschen Philosophien,
Schwadroniert das Meer vor den dummen,
Den besessenen Logikern der Romantik.
Deren schwanker Blick, diese schwankende Masse
Umarmen einander in ständigem Verlust –
Meer ist der verschmähte Staub,
Der durch feinen Verzicht gesiebt ist
In eine Metapher,
Eine allmähliche Verwässerung.

Wie „die Dinge funktionieren“ (Graham) korreliert mit der Prozeßhaftigkeit von Gehirnvorgängen, mit unserem Geist: Elaine Equi vergleicht seine Funktion mit einem Gemischtwarenladen, in dem unterschiedlichste Erinnerungen nebeneinander liegen; Kay Ryan ergänzt: Die Erinnerungen sind in unbeschriftete Kartons verpackt, überallhin mitgeschleppt und viel Raum beanspruchend. Ein hier leider vernachlässigtes Gedicht von Jorie Graham beginnt mit dem Vergleich:

Die langsame Ouverture des Regens,
wo jeder Tropfen zerplatzt
ohne in den nächsten
zu platzen, beschreibt
den unablässigen, synkopierten
Geist.

Ellen Hinsey veranschaulicht die Selbstreflexionen des Bewußtseins über seinen Bewußtseinszustand mit dem Bild einer Inspektion, in einer Umgebung, die an den paradiesischen Zustand vor dem sogenannten ,Erkenntnismoment‘ erinnert.
Markant ist der stets präsente und stärker als bei den Dichterkollegen ausgeprägte Bezug auf mythologische Gestalten. Identifikations- (oder auch Kontrast-)Figuren sind dabei nicht nur Frauengestalten, Persephone oder Leda, anhand deren Schicksal die Rolle der Frau in der heutigen Gesellschaft kritisch unter die Lupe genommen wird, sondern auch oft der Sänger Orpheus: für Linda Pastan und Muriel Rukeyser die personifizierte Diskrepanz zwischen dem (eigenen oder fremdbestimmten) künstlerischen Anspruch und der Stimme, mit der der Künstler selbst sprechen möchte, für Adrienne Rich ein männliches Prinzip, das es, von einer starken Frau, die zum Schweigen verdammt wurde, abzulösen gilt. In ihrer Re-Vision eines Mythos läßt Rukeyser den alten und erblindeten Ödipus noch einmal auf die Sphinx treffen, die er nur an ihrem Geruch erkennen kann, und nach den Gründen für seinen früheren Irrtum suchen, dabei die Zwiefachsinne des englischen man nutzend:

„Als ich fragte: Was geht auf vier Beinen am Morgen,
auf zweien am Mittag und auf dreien am Abend, antwortetest du:
der Mensch.      Du hast nichts über die Frau gesagt.“
„Wenn man Mensch sagt“, sprach Ödipus, „schließt das auch
die Frauen ein. Das weiß jeder.“      Sie sagte: „Das
denkst du.“

Thematische Schwerpunkte in den jeweiligen Werken nähern sich in manchen Punkten einander an, um sich dann sogleich wieder in die Divergenz zu verbreitern. Vielfältig sind die formalen Möglichkeiten, die oft auf genauer Reflexion über den theoretischen Standort innerhalb der Moderne beruhen, wo nicht explicit, als „Gedichte schreiben übers Gedichteschreiben“ (Ruth Stone), da implicit in der Art und Weise der Beobachtung, denn „Distanz / und ein bestimmtes Licht / lassen alles kunstvoll erscheinen“ (May Swenson). Diese Möglichkeiten umfassen kürzere oder längere erzählende Gedichte, Marilyn Nelsons antirassistisches „Winziges Wunder“ oder Mona Van Duyns Erinnerungsgedicht „Fälle“, das in Naturbildlichkeit eingebettet das Werden einer Dichterpersönlichkeit beschreibt; Prosagebilde aus dem Umkreis des französischen poème en prose, von Ellen Hinsey bevorzugt; verschiedenste Spielarten metrisch freier Verse; oder klassische Formen, wie sie Marilyn Taylor nutzt, eine Vertreterin des New Formalism – eine Klassifizierung, die sie selbst als simplifizierend ablehnt –, die das Rondeau oder die Villanelle mit modernem, auch ironisch gebrochenem Inhalt füllt.
Einen stärker experimentellen Charakter besitzen die Gedichte von Kathleen Fraser, Alice Fulton, Jorie Graham und Barbara Guest. In/mit ihnen verarbeiten die Lyrikerinnen das Sprachmaterial auf unterschiedlichste Weise. „Ich wuchs mit der Fieberhaftigkeit [febrility] des Modernismus auf“, sagte Guest in einem Interview.

Ich liebe den Kostruktivismus und den Kubismus, all diese Ismen… die Weiß-auf-Weiß-Malerei und die Leere der Leinwand. Die Ideen des Raumes in der Moderne.

Guests Lyrik, die oft den Raum auf dem Papier, der Buchseite, als eine Möglichkeit nutzt, die Aufmerksamkeit auf die Sprache selbst zu lenken, gestaltet die Spannung zwischen dem lyrisch-musikalischen und graphisch-materialhaften Aspekt. In Anlehnung an das gleichnamige Gemälde Giacomo Ballas schildert „Die Abschiedstreppe“ drei Frauen, Ceres, Hekate und eine namenlose Dritte, die wohl Kore bzw. Persephone ist, die eine Treppe hinabsteigen. Dabei wechselt die Perspektive auf futuristische Weise, denn „die Person in einem literarischen Werk kann sowohl Betrachter als auch Insider sein“, wie Guest in ihrem Essay „Shifting Persona“ erläutert. Das Farewell ist hier wohl wortspielerisch auch als fair well, klare Quelle, zu lesen, entsprechend Guest „Fair Realism“, dem feministischen Gegenentwurf zum Surrealismus, dem Mythos einer weiblichen Initiation.
Noch radikaler bricht Kathleen Fraser mit den Konventionen der Dichtung hinsichtlich einer festgelegten Bedeutungshaltigkeit. Sie dekonstruiert das Gewöhnliche, um aus weiblicher Sicht eine neue Sprachmöglichkeit entstehen zu lassen. Aus den – zum Teil willkürlich – auf der Seite verteilten Worten und Zeilen soll, wie aus archäologischen Fragmenten, ein Sinn zusammengesetzt werden. Das Experiment mit der Zufälligkeit soll die Grenzen zum Unerwarteten weiter öffnen; gleichzeitig verweist es auf das fragmentierte Selbst, das diese Texte produziert. Alice Fulton dagegen rekurriert viel stärker auf die Bedeutungshaltigkeit der Wörter und macht Sprache zum Objekt, indem ihre Dichtung sich selbst kommentiert. Sie nutzt „ein Spektrum von Assoziationen“ (Interview von 1997), das sich im Fluß des Gedichts ergibt und vermengt dadurch die Ebenen subjektiven Erlebens, Denkens oder Fühlens mit exakter Beobachtung und Beschreibung. Die starke Präsenz eines ,lyrischen Ich‘ – sicherlich eine Spur ihres Lehrers A.R. Ammons – weist jede Geschlechtszuweisung, die ein Leser vielleicht erwartet, bewußt zurück. Jorie Graham nutzt solche assoziativen Fügungen ebenfalls und bricht die syntaktischen Strukturen eruptiv auf. „Dichtung beschreibt, stellt dar, wird erzwungen von jenen Bewegungen der höchsten Leidenschaft, der Einsicht oder des Wissens, die körperlich und dennoch intuitiv sind, die uns ganz machen, inspiriert. Zwischen den Wort-Ereignissen… neigt die Dichtung zur Sprunghaftigkeit, versucht sich senkrechter zu bewegen: Staunen, Begeisterungstaumel, Schwindel – die Verlockung des Unendlichen, des Abyssos“, proklamiert Graham in der Einleitung zur einer Anthologie. Das Gedicht ist offen und in ständigem Fluß, es sucht durch visuelle Elemente, wie typographische Hervorhebungen und Spatien, Beziehungen herzustellen, die eine geschlossene Syntax nicht zeigen würde. Damit ist das Gedicht eine Abbildung für den geistigen Prozeß, der auf etwas noch Unbekanntes zustrebt und Divergenzen nicht scheut.
Viele der hier gesammelten Dichterinnen vermittelten und vermitteln Literatur nicht bloß durch ihre Lehrtätigkeit, sondern auch durch Übersetzungen, in denen sich – bereits durch die Wahl – bestimmte ästhetische Prämissen oder einfach nur Liebhabereien abzeichnen. Mary Barnard übersetzte Sappho, Carolyn Kizer u.a. aus dem Chinesischen, Mazedonischen und Jiddischen, Denise Levertov übertrug Jean Joubert, Amy Lowell dichtete mit Hilfe von Interlinearversionen aus dem Chinesischen nach, Muriel Rukeyser nahm sich der Dichtung von Octavio Paz und Gunnar Ekelöf an, und May Swenson brachte Tomas Tranströmer ins Englische. Als ein Beispiel für solche kreativen Adaptationen – in der Abstufung: Übersetzung, Nachahmung, Spin-Off – finde man hier eine „chinesische Imitation“ von Carolyn Kizer. 

Die Auswahl
Wer eine Auswahl aus der mittlerweile nahezu unübersehbaren, sogar unübersichtlichen Zahl amerikanischer Dichterinnen trifft, muß sich gezwungenermaßen mit dem Gedanken anfreunden, daß er auch ungerecht und parteiisch entscheidet. Der Leser wird also, um nur einige Namen zu nennen, Leonie Adams, Mei-Mei Berssenbrugge, Elizabeth Bishop, Gwendolyn Brooks, Lorna Dee Cervantes, Lucille Clifton, Babette Deutsch, Hilda Doolittle, Susan Howe, Maxine Kumin, Ann Lauterbach, Audre Lorde, Mina Loy, Bernadette Mayer, Mary Oliver, Marge Piercy, Laura Riding, Pattiann Rogers, Ruth L. Schwartz, Anne Sexton, Susan Stewart, Rosmarie Waldrop oder Diane Wakoski vermissen; wird das Fehlen der asiatisch-amerikanischen Dichterinnen, etwa Marilyn Chin oder Cathy Song, ebenso beklagen können wie das der Native Americans, Leslie Marmon Silko oder Roberta Hill Whiteman beispielsweise. Auch die jüngere Generation der ab 1960 geborenen Dichterinnen hätte sicherlich mehr Aufmerksamkeit verdient als ihr schließlich zuteil wurde. In vielen Fällen erlaubte schlicht der zur Verfügung stehende Raum keine Aufnahme, in – einigen – anderen waren die Abdruckrechte nicht zu erlangen; namentlich Elizabeth Bishop und Laura Riding haben durch testamentarische Verfügungen eine Aufnahme in eine auf Literatur von Frauen beschränkte Anthologie strikt untersagt.
Bei der Gesamtkonzeption der Anthologie wurde nach Möglichkeit versucht, eine Balance auf mehreren Ebenen zu erreichen: zwischen älterer und jüngerer Generation, zwischen bekannten und unbekannteren Autorinnen, zwischen verschiedenen Stilrichtungen, Formen und Inhalten. Dabei ergaben sich, nicht zufällig, thematische Korrespondenzen oder Gegenentwürfe. Für einen Großteil der hier übersetzten Texte lassen sich jeweils ohne weiteres zahlreiche thematisch analoge Gedichte finden, sie stehen hier quasi ,stellvertretend‘ (man vergleiche einmal über die Spanne von 75 Jahren hinweg Amy Lowells „New Heavens for Old“ mit Ruth Stones „At Eighty-three She Lives Alone“). Der wichtigste Aspekt für die Auswahl innerhalb der einzelnen Œuvres bestand in der Berücksichtigung der verschiedenen Schaffensphasen, sofern diese ausgeprägt sind. Mehrteilige oder -seitige Gedichte, die unter keinen Umständen bloß auszugsweise oder zerstückt präsentiert werden sollten, mußten – oft mit Bedauern – ebenfalls aus Gründen des nicht zu überschreitenden Umfanges unberücksichtigt bleiben.
Zur weiterführenden, anregenden Lektüre liegen einige Anthologien neueren Datums vor: die epochemachende No More Masks! An Anthology of  Twentieth-Century American Women Poets, ed. by Florence Howe (1973; erw. Ausg. Perennial 1993), dann The Extraordinary Tide. New Poetry by American Women, ed. by Susan Aizenberg and Erin Belieu (Columbia University Press, 2001), American Women Poets in the 21th Century: Where Lyric Meets Language, ed. by Claudia Rankine and Juliana Spahr (Wesleyan Press, 2002) und Poetry From Soujourner. A Feminist Anthologie, ed. by Ruth Lepson with Lynne Yamaguchi (University of Illinois Press, 2003). Schließlich sei zu weiterem Überblick auf ein hilfreiches lexigraphisches Werk hingewiesen: Contemporary American Women Poets: An A-To-Z Guide von Catherine Cucinella (Greenwood Press, 2002). 

Zur Übersetzung
Es gebe zwei Übersetzungsmaximen, behauptet Goethe in seiner Gedenkrede auf Wieland, die in Nachbarschaft zum West-östlichen Divan und den beigefügten berühmten Bemerkungen zum Übersetzen entstanden ist: Den Text zum Leser hin oder den Leser zum Text hin zu bewegen. Wieland habe stets „den Mittelweg“ gesucht, der die Vorzüge beider verbinde. Inzwischen sind Goethes Kategorien natürlich von wissenschaftlicher Seite und aus den Reihen der ,Praktiker‘ – hier ist vor allem Ezra Pound zu nennen, Dichter und Übersetzer in Personalunion – weiter differenziert, diskutiert, zuweilen auch verworfen worden; dennoch sind die ihnen zugrunde liegenden Fragestellungen keinesfalls veraltet oder sogar überholt. Denn tatsächlich ist das übersetzte Werk im doppelten Sinn eine ,Vermittelung‘, ist ein instabiles Gebilde, nach allen Seiten hin offen, durchlässig, und insofern auch verletzlich, angreifbar.
Im Ursprung des Wortes translatio steckt die Handlung des Verpflanzens und Versetzens, von einem Ort zum anderen, vom Ufer hüben zum Ufer drüben. Das Lateinische kennt für das literarische Übersetzen aber noch eine Vielzahl weiterer Worte, die vor allem in den Bereich des Interpretierens und Imitierens weisen. Und richtig ist das Übersetzen zunächst eine Form der Textkritik, denn sie setzt sich mit dem Originalwerk auseinander und schließt es auf. Dabei macht das Gedicht in der Übersetzung eine Transformation durch: Es bleibt ein Abstand zum Original, es gehen bestimmte Aspekte verloren, dafür kommen – vielleicht – andere hinzu. Die Übersetzung befindet sich zwischen fixierten Stadien, von einer zunächst für gültig befundenen Form zur nächsten, ein transitorisches Werk, eines des Durchgangs, der Passagen, letztlich abhängig von Moden, Gewohnheiten, Ideologien und konzeptionellen Erwägungen. Es transportiert nicht bloß ,Etwas‘, von Ufer zu Ufer der Wörter, sondern erinnert uns auch an das Fließende der eigenen und der fremden Sprache selbst: ein Prozeß dauernder Bewegung und ständiger Abstimmung zwischen dem Eigenen und dem Anderen.
Das Gedicht, flügge von seinem Autor in die Welt entlassen, ist ein Individuum und bringt eine Eigengesetzlichkeit mit, deren Übertragung in eine andere Sprache vor allem in sich stimmig sein muß, damit das auf diese Weise entstandene Werk ebenfalls Individualität erlangt. Wer übersetzt, steht oft nicht bloß vor Spiel- und Zwischenräumen, vor gleichwertigen Alternativen, neuen Einsichten und Ausleuchtungen bislang unentdeckter Details – vor einer „unendlichen Aufgabe“ (Klaus Reichert) –: sondern auch vor unlösbaren Problemen und ist zu ,faulen Kompromissen‘ gezwungen. Philologische Korrektheit, womöglich Wortwörtlichkeit, würde Sicherheit suggerieren, wo keine existiert. Einerseits also das kalkulierte Spiel mit allen – plausiblen – Möglichkeiten der eigenen und den Bedeutungen einer anderen Sprache.
Und andererseits: die unvermeidlichen Verluste beim Imitieren. Soll ein Gedicht gereimt oder ungereimt, metrisch oder in Prosa übersetzt werden? Was ist mit Wortspielen, wenn das ursprüngliche Bild verloren geht? Was mit Klängen, Vokalharmonien, Alliterationen und vor allem den Zeilenbrüchen, die mit dem letzten und dem ersten Wort einer Zeile einen Bedeutungsschwerpunkt setzen? Man kann im Bemühen um Wirkungsäquivalenz solche Brüche nachahmen, indem man die Prinzipien des Autors auf die eigene Sprache anwendet, doch die Übersetzung wird niemals in Gestalt eines ,Klons‘ erscheinen. Keine Prinzipen, wo Eigengesetzlichkeit herrscht. Deshalb wird man hier in einigen Fällen Reim und Metrum finden, in anderen jedoch nicht, abhängig von der Transportierbarkeit. Zwei Gedichte („Kassandra“ und „Sommer, sapphisch“) sind in zwei Versionen präsentiert, einer textnahen und einer metrischen bzw. metrisch-gereimten. Die Vor- und Nachteile des jeweiligen Verfahrens bleiben dem vergleichenden Lesen überlassen.
Selbst die Übersetzung von Texten aus einem nicht einmal als sonderlich ,fremd‘ empfundenen Kulturraum führt uns die Problematik der ,Kulturelemente‘ vor Augen. Namen von Pflanzen, Tieren, Orten und besonders Konsumgütern tragen oft ein hohes Maß an konnotativer Bedeutung in sich, für die es kein Äquivalent gibt. Dieses Faktum selbst ist und bleibt dann der ,Fremdkörper‘ in einem ansonsten anverwandelten Textkörper. Auf der einen Seite widerspricht ein – unter Umständen sogar als störend empfundener – ,Fremdkörper‘ der Wirkungsäquivalenz, auf der anderen Seite jedoch belebt er die eigene Sprachwelt und eröffnet ungehörte, ja unerhörte Möglichkeiten. Steht das Kulturelement nicht im Mittelpunkt, kann – je nach Kontext! – eine gleichwertige Ersetzung vorgenommen werden; in „Maximal zehn Artikel“ wird beispielsweise das Waschmittel Tide durch das uns geläufigere Ariel eingedeutscht.
Die Übersetzung, die Nach-Dichtung ist, gezähmte Freiheit, bemüht sich um Wörtlichkeit und versucht zugleich, in die Eingeweide der Sprache zu dringen und dort jene Freiräume zu entdecken, die die Textaneignung den simplen Kategorien von ,richtig‘ oder ,falsch‘ enthebt. Es ist das Material selbst, das zuweilen sogar zu ,kreativen Mißverständnissen‘ verführt und in der Übersetzung Bedeutungen annimmt, an die sein Autor womöglich nie gedacht hat. In der ersten Fassung von „Windschutzscheibe“ stand beispielsweise für „a cottonmouth snap“, wörtlich: ein Natternbiß, zunächst „das Stiefelknallen“, weil in dem Synonym für „cottonmouth“, „water moccasin“, die Fußbekleidung mitzuhören ist. ,Unterholz‘ – ,Stiefel‘ – ,kriegerisches Geprahle‘: ein verlockender gedanklicher Dreisprung… 

Dank
Die Übersetzungen entstanden ohne finanzielle Förderung durch entsprechende Institutionen, die ein sorgloses Arbeiten ermöglicht hätte. Dafür standen zahlreiche Menschen unterstützend zur Seite: Ich danke meiner Frau Kerstin für ihr geduldiges Mitgrübeln über manch heikler Passage und ihre Mitsuche nach passenden Wörtern; Henry A. Smith, Malente/Benz, hat Teile des Manuskripts kritisch gegengelesen, mich vor Fehlern bewahrt, anregende Vorschläge präsentiert und mir immer wieder Rat in schwierigen Fragen zukommen lassen; Swen Alpers, Göttingen, und Lutz Walther, Köln, steuerten einige wichtige Informationen bei; Clayton Eshleman stellte den Kontakt zu Adrienne Rich her; Pia-Elisabeth Leuschner hat die mühevolle und langwierige Aufgabe des ,Copyright-Erjagens‘ übernommen; Ursula Haeusgen regte Diskussionen an und bewies Vertrauen, Interesse und einen Mut, zu dem sich größere Verlagshäuser nicht aufraffen konnten. Ohne sie alle wäre dieses Projekt nicht zustande gekommen. 

Jürgen Brôcan, August 2004, Nachwort

 

Schönheit verpflichtet

Sie haben Vornamen wie Louise oder Lorine, und hierzulande kennt sie kaum jemand: die großen amerikanischen Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein Band versammelt sie und stillt unseren Hunger nach Lyrik. Dornen hat nicht nur die Rose, sondern auch der Mensch, der darin, ob ihm das gefällt oder nicht, der Königin der Blumen gleicht.

diese dornen – sie sind der beste teil an dir.

Selten hat jemand, wie hier die amerikanische Lyrikerin Marianne Moore, das Rosenmetier dem Menschen auf diese Art nahegelegt. Keineswegs, um ihn in romantisches Denken zu versetzen, sondern um ihm zu sagen, dass die „Schönheit eher eine Verpflichtung / ist als ein Vorteil“. Das Gedicht darf alles, auch über eine außerzeitliche Erinnerung verfügen und sich an einem eigenen Gedächtnis bedienen, ja dieses sogar installieren. Aber wo? Im Wort. Das ist seine Bleibe.
Welches Gedächtnis die Sätze amerikanischer Lyrikerinnen haben, das mag sich auch der Übersetzer und Herausgeber Jürgen Brôcan bei der Zusammenstellung seiner bemerkenswerten Anthologie SEHEN heißt ändern gefragt haben. Dreißig amerikanische Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts stellt er nun in einer zweisprachigen Ausgabe vor, darunter Marianne Moore, deren Buch Kein Schwan so schön er bereits vor einigen Jahren übersetzt und im Urs Engeler Verlag veröffentlicht hat.
Ausgewählt hat Brôcan, der selber Lyriker ist, die Dichterinnen auf eine Art, wie es vielleicht nur ein Wortliebender vermag. Das Nachwort ist ein kundig-rhapsodischer Spaziergang durch die Welt der „wahren Stimme“ der Lyrikerinnen. Teils betreten diese erstmals die Bühne des deutschen Sprachraums, wie die 1997 verstorbene, wortkämpferische Denise Levertov. Möge diese Anthologie unserem Hunger nach Gedichten zur Sättigung verhelfen!
Bemühten wir dafür nur Louise Bogan (1897 bis 1970), wie kämen wir dabei auf unsere Kosten, wenn es beispielsweise in ihrem Gedicht „Die Libelle“ heißt:

Aus fast nichts bist du geschaffen
… Glied zwischen Wasser und Luft
Die Erde weist dich zurück
… Zweimal Geborene, Räuberin
Du spreizt dich in die Hitze.
Seglerin jenseits von Berechnung und Beute,
Du schnellst in den Schatten
Der dich verschlingt
?

Die Verbindung aus Ätherischem, Unbeweisbarem und Dinglichem ist allen Gedichten auf jeweils eigensinnigste Weise gemeinsam. Und dieser Eigensinn, die mit bester poetischer Willkür gespickte Eigenart, sich Sätzen, Wörtern, Dingen und Menschen zu nähern, könnte manchmal gar nicht unterschiedlicher als bei diesen Dichterinnen sein. Aber das ist eine Qualität, verfolgt der Band doch eine großzügige innere Spur, die sich gleichsam in Kreisen dem Menschen nähert. Auch das Wort „Gott“ wird gesagt, mit der gleichen merkwürdigen Mischung aus Scheu und Entschiedenheit, was bei Lyrik geradewegs betörend ist, wie etwa beispiellos gelungen in dem Gedicht Muriel Rukeysers „Ein Steinchen mitten auf der Straße, in Florida“, das mit der Zeile beginnt „Als Kind sagte mein Sohn: / Gott / ist alles mögliche, selbst ein Steinchen mitten auf der Straße / in Florida.“
Alle Dichterinnen haben sich selbst als „feministisch“ verstanden; in ihrer Zeit war diese Bezeichnung notwendig. Heute wirkt sie ein wenig anachronistisch und überflüssig, weil die Gedichte selbst, von heute aus betrachtet, keinerlei Hemmschwellen kennen, moderne Gedichte im besten Sinne sind, die sich auch gegen Traditionen gestellt haben, ohne sie zu dämonisieren – im Gegenteil, sie haben sich ihrer selbstbewusst bedient. Das Nachwort widmet sich dem Gegenstand in einem feinen Essay, der eine Annäherung an das Thema „Frauen-Dichtung“ wagt und in dem wir erfahren, dass beispielsweise Elizabeth Bishop und Laura Riding testamentarisch darüber verfügt haben, niemals in eine Anthologie aufgenommen zu werden, die sich auf Frauen beschränkt. Das ist nachvollziehbar; jede Begrenzung schadet der Literatur, die sich schon seit jeher die Entgrenzung zur Aufgabe gemacht hat. In diesem Fall leuchtet aber in vielfacher Weise die Konzentration auf Frauen ein, denn obwohl sie sich ihrer „wahren Stimme“ bedient haben, sind nicht alle ihrem Rang entsprechend bekanntgeworden. Oft lag auch anfangs in Amerika der Grund für das Ignoriertwerden schlicht an der Übermacht männlicher Kollegen. Unter den dreiundvierzig Dichtern, die seit 1937 zum Poet Laureate (die höchste Ehrung für einen amerikanischen Dichter) gekürt wurden, waren neun Frauen.
Die Themen entstammen dem Ursprung der Lyrik: Natur, Leben und Tod, das „große Gewebe“, wie es bei Levertov heißt. Im Gedicht werden einiges Unbewusste, Versteckte, Verdrängte, auch der Körper, das Geschlecht, die in ihm harrenden Geheimnisse freigelegt. Wieder und wieder taucht in starken Farben und Formen die Natur auf. „Wie eine Welle emporsteigt“ von Hilda Morley (1919 bis 1998) beschreibt das Aufkommen und das Dasein der Wellen, als wäre dies eine speziell für das Gedicht geborene Freude.
Lorine Niedecker (1903 bis 1970), die zu den unbekannteren, aber aufregendsten Dichterinnen dieses Bandes gehört, gebührt besondere Aufmerksamkeit. Sie brach als junge Frau nach zwei Jahren ihr College ab, um ihre kränkliche, taube Mutter zu pflegen; ihr Vater war Fischer. Niedecker verbrachte den größten Teil ihres Lebens auf Black Hawk Island an den Ufern des Rock River, in der Nähe des Lake Koshkronong in Wisconsin. Sie war Stenographin, Putzfrau und Bibliotheksassistentin. Erst sehr spät nahm man sie als Lyrikerin wahr. Weder ihre Verwandten noch ihre Nachbarn wussten, dass sie schrieb. Allein mit den hier abgedruckten fünf relativ kurzen Gedichten hat sie eine einzigartige Sprachpräsenz in diesem Buch, dass man ihr auf der Stelle einen Verlag wünscht, der sich ihrer hinterlassenen Gedichte in deutscher Übersetzung annimmt. Schon ihre Titel – „Wenn Ekstase lästig ist“ – muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. In diesem Gedicht heißt es am Schluss „Voller Staunen sieh, wie / oft man seinen Wahnsinn / in die eigenen Hände nimmt / und ihn behält.“
Wie man einen Schmetterling halten kann, ohne ihn in Staub zu verwandeln, das erzählen diese Gedichte. SEHEN heißt ändern ist eine große Wörterschatzkiste, die uns überkontinental schwimmen, fliegen, reisen lässt, eine fürs Lebendige gemachte Herz- und Wörterbörse, an der es keinerlei Verluste, aber einige Klarheiten, einige Wahrheiten zu ernten gibt, wenn man nur bereit ist, sich zum Landarbeiter des Alphabets zu machen.

Marica Bodrozic, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.5.2007

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Jens Zwernemann: Eine Schwäche für Gedichte
literaturkritik.de, Februar 2007

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Instagram 1 & 2 +
Kalliope

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Jürgen Brôcan

 

Jürgen Brôcan liest den Gedichtzyklus HALDENHUB am 20.2.2022 im Museum für westfälische Literatur – Kulturgut Haus Nottbeck.

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