Jürgen Engler: Zu Franz Josef Czernins Gedicht „sonett, natur“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Josef Czernins Gedicht „sonett, natur“ aus Franz Josef Czernin: elemente, sonette. –

 

 

 

 

FRANZ JOSEF CZERNIN

sonett, natur

ins grüne lassen schwärmen uns, vielfach verzweigen,
erspriesslich himmelstürmend hügel-, fern waldsäumen,
dass üppig kraut nah überschiesst in uns, hochsteigen
die säfte reichlich, wohlergangen weit einräumen.

blickwechseln, -fangen aus dem blauen, überschäumen
lesend uns blütenweiss, frisch augen-, ohrenzeugen,
selbst fleissig aufgesaugt, ja, aufgelöst in seimen,
wie weidlich gehn, wie tief in kelchen uns zu neigen:

allseitig honiglecken, höchstes bäumekrönen,
feinfühlig, -gliedrig gras uns wachsend angehört,
so blumig beissen süss in frucht, die längst verzehrt,

sich selbst nach uns, im kern! so gern den lippen, zähnen
so gut einander kirschen, mund-, ja, lustvoll schönen,
stets schon gegessen ganz. – wie rein stillschweigen währt.

 

Franz Josef Czernin und die (Sprach)Schöpfung 

Zu demonstrieren, was Sprache tut, macht die Eigenart der Dichtung Czernins aus. Natur ist ihr „Gegenstand“ nur insofern, als das Gegen-Ständliche, das Gegenüberstehende im und durch das Sprach-Geschehen aufgelöst wird.
Lesende, auf Eindeutigkeit aus, müssen resignieren. Naturerleben wird (aus)schwärmend in Begriffs-Bilder übersetzt; überkommene Grammatik und Syntax sind außer Kraft gesetzt. Daraus resultiert Vieldeutigkeit – wir verstehen und verstehen zugleich nicht. Natur ereignet sich, ist Tätigkeit; Naturaneignung heißt: Wir ereignen uns als Natur im Naturerleben, in Sprach-Natur, die in sich geht und aus sich heraus. Zugleich sind der poetischen Ekstase durch Gestaltwerdung Grenzen gesetzt. Innerhalb der Grenzen des sechshebigen französischen Sonetts werden barocke Fülle und Bewegung erzeugt, insofern eben hergebrachte Syntax innovativer Wortbildung und -ballung weicht und die Zäsuren der Alexandriner variabel gehandhabt werden.
In seinem Clemens-Brentano-Lesebuch notierte Czernin: 

Im Umgang mit Dichtung heißt Dunkelheit vor allem: es ist nicht alles daran verständlich, wir sind im Augenblick und vielleicht auch für immer nicht imstande, das mit dem Gedicht Gegebene auszuschöpfen; ja, jedes Verständnis, zu dem wir gelangen, jede Beziehung, die wir entdecken, scheint zu weiteren Verständnissen und Beziehungen zu führen. Es könnte sein, dass das jeweilige Gedicht immer weiter reicht als unser Verstehen von ihm.

Der Brentano-Kommentar und der Band elemente, sonette (2002), in dem obiges Gedicht steht, stammen aus der gleichen Schaffensperiode; jedenfalls sind Spuren der Brentano-Lektüre in zahlreichen Sonetten zu finden. Die Zusammenhänge und Zusammenklänge von Wörtern und Bildern reichen über den einzelnen Text hinaus; Gedichte entgrenzen sich wieder, überschneiden, überkreuzen, übertragen sich.
Im Falle Czernin kommt hinzu, dass seine Gedichte gleichsam auf Grundsätzliches, Grund-Sätze aus sind: Sie beschwören die Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft. Im vergleichbarem Maße operieren seine vorangegangenen natur-gedichte (1996), die Natur nicht im einfachen Sinne abbilden, sondern eine vielfältige Sprach-Natur schaffen. Es sind wohl auch weniger Naturgedichte als vielmehr Landschaftsgedichte: Wortlandschaften. Sie rekurrieren auf das Zeichenhafte und Symbolische der Sprache; ihre Sinnlichkeit resultiert aus dem von Ton und Klang getragenen Changieren von Begriff- und Bildlichem der Sprache, nicht aber von der Abbildung der Artenvielfalt von Flora und Fauna oder konkreten Landschaftspanoramen. Die Abstraktion von solchen Realitätsebenen ermöglicht erst das gleichsam elementare Erleben eines turbulenten Sprachgeschehens: unaufhörlich sich ineinander übersetzender und auseinander setzender Wortbilder.
Einen „Hang zum Enzyklopädischen und Systematischen“ bekennt der Autor in einer Vorbemerkung zu den natur-gedichten. Wohl wahr, und es sei nicht verschwiegen, dass die Sprachmaschinerie nicht ohne Monotonie laufen kann. Aber man muss ja einen Gedichtband nicht hintereinander lesen wie eine Erzählung. Jedenfalls ist Czernins Sprach-Natur-Dichtung ein schönes Beispiel für die Poesie als Konfrontation und Vermittlung von Tollheit und ordinärer Vernunft. So jedenfalls wird sie von Ludwig Tieck in seinem Lustspiel Prinz Zerbino oder die Reise nach dem guten Geschmack charakterisiert.

Jürgen Engler, Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 73, 2021

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