– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Lob der Vergeßlichkeit“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –
BERTOLT BRECHT
Lob der Vergeßlichkeit
Gut ist die Vergeßlichkeit!
Wie sollte sonst
Der Sohn von der Mutter gehen, die ihn gesäugt hat?
Die ihm die Kraft seiner Glieder verlieh und
Die ihn zurückhält, sie zu erproben.
Oder wie sollte der Schüler den Lehrer verlassen
Der ihm Wissen verlieh?
Wenn das Wissen verliehen ist
Muß der Schüler sich auf den Weg machen.
In das alte Haus
Ziehen die neuen Bewohner ein.
Wenn die es gebaut haben noch da wären
Wäre das Haus zu klein.
Der Ofen heizt. Den Hafner
Kennt man nicht mehr. Der Pflüger
Erkennt den Laib Brot nicht.
Wie erhöbe sich ohne das Vergessen der
Spurenverwischenden Nacht der Mensch am Morgen?
Wie sollte der sechsmal zu Boden Geschlagene
Zum siebenten Mal aufstehen
Umzupflügen den steinigen Boden, anzufliegen
Den gefährlichen Himmel?
Die Schwäche des Gedächtnisses verleiht
Den Menschen Stärke.
„Lob der Vergeßlichkeit“ – der Titel klingt paradox: Will Brecht eine Schwäche anpreisen oder gar eine Untugend, die doch vorläge, wenn jemand seiner Bequemlichkeit wegen das Vergangene vorsätzlich vergäße und verdrängte? Natürlich nicht. Das Gedicht soll die Wahrheit aussprechen, daß der Mensch um seiner Lebensfähigkeit willen vergessen muß: Bliebe ihm alles Überlieferte und Erlebte verbindlich, dann fehlte ihm die Freiheit, sich den Forderungen der Gegenwart und Zukunft zuzuwenden. Man kennt den Gedanken von Nietzsche, aus der Abhandlung über Nutzen und Nachteil der Historie: Als eines der Mittel gegen die „historische Krankheit“ ist dort die Fähigkeit genannt, „vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen“.
Brechts Gedicht liefert gleich zu Beginn ein drastisches Beispiel für die Lebensnotwendigkeit des Vergessens. Der Sohn muß die Liebe und die Wohltaten der Mutter aus seinem Gedächtnis drängen, er muß die stärksten Bindungen zerreißen, um sich auf eigene Beine zu stellen. Ebenso muß sich der Schüler von seinem Lehrer lossagen. Das sind schmerzliche Vorgänge für die Beteiligten, aber sie sind unvermeidlich. Fänden Sohn und Schüler nicht die Kraft, Gefühle zu verletzen und undankbar zu erscheinen, dann blieben sie im Bann ihrer Vergangenheit und könnten niemals selbst Väter und Lehrer werden.
Ein anderer Aspekt des Vergessens ist, daß über dem Gebrauch nützlicher und notwendiger Dinge deren Vorgeschichte aus dem Bewußtsein schwindet. Wer im warmen Zimmer sitzt, so Brechts Beispiel, denkt nicht mehr an den Ofensetzer. Aber auch wer zur Befriedigung der elementaren Lebensbedürfnisse selbst beigetragen hat, verliert seinen Anteil aus den Augen: Der Pflüger denkt nicht mehr an seine Arbeit, wenn er das Brot vom Tisch nimmt. Der gelebte Augenblick ist erinnerungslos, denn er macht mit unwidersprechlicher Evidenz sein Recht, das der augenblicklichen Notwendigkeit, geltend.
In seinem vorletzten Abschnitt weist das Gedicht auf den vielleicht größten Segen des Vergessens: Dem Menschen hilft über seine Niederlagen, über das Scheitern an äußeren Widrigkeiten allein „das Vergessen der / Spurenverwischenden Nacht“ hinweg. Wenn ihm die Enttäuschung und der Schmerz unauslöschlich vor Augen blieben, fände er nicht den Mut zu einem neuen Anfang.
Der Text erweist sich in seinem lapidaren Stil als ein typisches Denk-Gedicht aus Brechts Exilzeit. Die sprachliche Bewegung ist nicht durch den Zwang des Reims, durch ein bestimmtes Metrum oder ein Strophenschema gebunden. Trotzdem erwecken die Zeilen des Gedichts den Eindruck einer strengen Fügung. Offensichtlich schafft sich hier der Gedanke in seiner fortschreitenden Entfaltung die ihm gemäße sprachliche Form, wobei er sich dem Gesetz der Knappheit und der prägnanten Profilierung unterwirft. In der gedrängten Bündigkeit und in der spannungsvollen, aber sparsamen Bewegung des Gedankens zeigt sich die ästhetische Qualität des Textes.
Das Gedicht schließt mit einer Sentenz, die dem Leser den gedanklichen Gehalt in zitierfähiger Form einhändigt:
Die Schwäche des Gedächtnisses verleiht
Dem Menschen Stärke
Der Dialektiker Brecht würde sofort zugestehen, daß damit nur eine Teilwahrheit ausgesprochen ist. Denn ohne Zweifel darf nicht alles vergessen werden, und nicht bei jeder Gelegenheit ist das Vergessen am Platz. Die Menschen lebten sonst – um noch einmal Nietzsche zu zitieren – wie die Tiere, „kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks“. Es widerspräche auch im höchsten Maße der dialektischen Denkweise, das Gewordensein der Dinge zu verleugnen. Brechts eigenes Prinzip des „Historisierens“, dem er zentrale Bedeutung innerhalb seiner Dramaturgie zuwies, trägt dem Rechnung. In einigen Gedichten der dreißiger Jahre allerdings betont er die Notwendigkeit des Vergessens und bezieht diesen Gedanken auch auf seine eigene Person. Auf die Frage „Warum soll mein Name genannt werden?“ gibt er die Antwort, er sei damit einverstanden, aus dem Gedächtnis späterer Generationen zu verschwinden:
Warum
Soll es eine Vergangenheit geben, wenn es eine
Zukunft gibt?
Jürgen Jacobs, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Elfter Band, Insel Verlag, 1988
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